Armer Konrad
Aktives Mitglied
Ich nehme die laufende Diskussion des Threads „Gens, exercitus, Sprache(n)“ zum Anlass, die Frage nach der ursprünglichen Herrschaftsform der germanischen Stämme zu stellen, da mich dieses Thema schon etwas länger beschäftigt und mich etwas ratlos macht. Jedenfalls kann ich sie – für mein Verständnis – nicht befriedigend beantworten. Vielleicht könnt ihr mir hier ja auf die Sprünge helfen – es geht hier letztendlich auch darum, ab welcher Stufe der Ethnogenese man aufgrund derselben Sprachgruppe auf eine gemeinsame Kultur, Religion und Soziologie schliessen darf – wenn überhaupt (auf indoeuropäischer Stufe geht ja dies zum Mindesten noch lange nicht).
Für mich ist die Frage nach den germanischen Herrschaftsstrukturen vor allem deshalb von Interesse, weil diese zu einem grossen Teil für die mittelalterliche Herrschaftspraxis (mein Interesse an Geschichte bezieht sich haupts. auf Mittelalter und frühe Neuzeit resp. Renaissance) bestimmend waren.
Zuerst einmal soweit ein kurzer Überblick, was mir bekannt ist:
Die meisten germanischen Stämme – so etwa Franken, Ostgoten, Westgoten, Langobarden, Vandalen – favorisierten ein Königtum, während andere, wie die Sachsen, Alemannen, Friesen und Thüringer – wenn überhaupt – lediglich einem Herzog gehorchten.
Die germanischen Könige legitimierten ihren Herrschaftsanspruch mit ihrer Abstammung von einem „Spitzenahn“, dessen Taten historisch-soziale Höchstleistungen darstellten. Gelegentlich war es sogar die Abkunft von einem Gott (Odin / Wotan) oder einem Monster, welches die aussergewöhnliche Substanz einer Königsfamilie genetisch verbriefte. Der fränkische König Merowech beispielsweise stammt von einem Seeungeheuer ab. Die angelsächsischen Könige (vorchristlich) leiteten ihre Abstammung von Wodan/Odin ab. Nach germanischer Auffassung war der König Heilsträger für sein Volk – der Garant für eine geordnete Welt und für den Frieden – und musste schon deshalb möglichst von göttlicher Herkunft sein. Das geht schon aus dem germanischen Begriff „künic“ (König) hervor, welches „von edler Herkunft“ bedeutet. Die Könige vermittelten das Heil der Götter, wozu sie durch ihre besondere Nähe zu diesen befähigt waren. Das Königsheil musste sich in Sieg und Erfolg offenbaren und rief, wo diese ausblieben, den Widerstand von Adel und Volk hervor. In der Idee des Gottesgnadentums schimmert dieses Königsheil noch durch – die kirchliche Weihe hatte dabei das germanische Geblütsheil (von Kalr Hauck als Geblütsheiligtum bezeichnet) ersetzt. Die Bedeutung, welcher der Abstammung bei vielen germanischen Sippenverbänden als Legitimation zur Herrschaftsausübung beigemessen wurde, verdeutlicht beispielsweise die Vorrede zum lateinischen Gesetzbuch des Langobardenkönigs Rothari aus dem Jahr 643, welche die Familiengeschichte des Königs beschwört.
Dem germanischen Königtum steht der Herzog, germanisch „herizogo“ („der mit dem Heer auszieht“), gegenüber, welcher ursprünglich nur ein für die Dauer eines Krieges oder Heerzuges gewählter Heerführer war. Für die Wahl war offenbar meist Kriegserfahrung und / oder die Grösse der persönlichen Gefolgschaft massgebend und nicht die Abstammung, welches das „Königsheil“ bedingte.
Aus diesen widersprüchlichen Konzepten habe ich mir folgende Erklärungsvarianten zusammen gebastelt, welche aber alle in mindestens einem Punkt nicht schlüssig sind.
Variante 1) Es gab germanische Stämme, welche das Königtum und damit die nach Abstammung legitimierte Herrschaft favorisierten während andere germanische Stämme das Wahl-Herzogtum bevorzugten.
Was hier – bei diesem entweder / oder u.a. stört ist die Einrichtung des Things, welches nicht nur Gerichtstag sondern auch Wahltag (eben etwa bei der Wahl eines Herzogs) war. Die Existenz eines Things verträgt sich aber nicht so recht mit einem Königtum, auch wenn dieses kein absolutes ist. Insofern würde dies bedeuten, dass beispielsweise die Ostgoten mit ihren Königen das Thing nicht kannten resp. nie in Gebrauch hatten, was ich mir aber auch nicht so recht vorstellen kann.
Variante 2) Ursprünglich kannten die germanischen Stämme keine Könige sondern nur gewählte Herzöge und erst im Verlauf der Völkerwanderung hatten die – die gewählten Herzöge – sich durchgesetzt und sich zu Erbkönigen gemacht.
Diese Variante würde beispielsweise auch erklären, weshalb die „zu Hause gebliebenen“ Sachsen nie einen König hatten sondern mit Widukind nur einen Herzog, der nicht die volle Gewalt über das Volk inne hatte (das zeigt schon der Umstand, dass nach seiner Unterwerfung unter Karl den Grossen der sächsische Widerstand teilweise noch weiter ging), während die nach England „ausgewanderten“ Sachsen Kleinkönigreiche (Wessex, Sussex etc.) mit mehr oder weniger erblichem Königtum errichteten.
Hier stört allerdings der Gedanke – abgesehen davon, dass die nicht „sehr weit gewanderten“ Franken ebenfalls das Königtum praktizierten – dass die ganze Ideologie des Königsheils und die damit verbundene göttliche Abstammung von den Anführern erst noch konstruiert werden musste. Die Tradition der göttlich legitimierten Herrschaft war jedoch schon in der Antike verbreitet und ist somit ein Ideenkomplex, der bereits vorhanden war und den man vor allem nicht so rasch „erfinden“ konnte.
Variante 3) Alle germanischen Stämme praktizierten sowohl das Königtum als auch das Wahl-Herzogtum, was man sich wohl so ähnlich vorstellen müsste wie bei den Wikingern resp. den frühmittelalterlichen Skandinaviern. In Skandinavien herrschten eine Reihe von Kleinkönigen und Jarle, die sich auf ihre Abstammung beriefen, während die sogenannten „Seekönige“ gewählte Anführer von zeitlich limitierten Kriegszügen waren (also ähnlich wie die ursprünglichen Herzöge). Das solche „Seekönige“ ebenfalls erbliche Königsdynastien bilden konnten (etwa die Rolloniden) – und dann für ihre Familie ebenfalls göttliche oder zum Mindesten exklusive Stammbäume konstruieren mussten – passt dabei ins Gesamtbild.
Gegen diese Variante spricht aber, dass beispielsweise Alemannen und Friesen nie einen König hatten - für die Alemannen ist mir mit Eticho zudem nur ein einziger Herzog bekannt.
Variante 4) Innerhalb des selben Stammes kam es zu wechselhaften Herrschaftssystemen. So musste mit der Idee von Königsheil und göttlichem Beistand keineswegs zwingend die Herrschaftsform der Monarchie einhergehen. Das zeigen z.B. die Goten. Während sich die Amaler bei den Ostgoten schon früh als allein regierende Könige durchsetzten, wurden die Westgoten von einer Oligarchie zahlreicher Kleinkönige beherrscht. Obwohl erst seit dem 4. Jahrhundert mit Ermanarich bezeugt, der laut Ammianus Marcellinus das gesamte Gotenreich beherrschte, führten die Amaler ihr Geschlecht 17 Generationen bis auf den skandinavischen Kriegsgott Gaut zurück (auch hier die vom Königsheil diktierte Abstammung).
Zusätzliche Schwierigkeiten bereitet mir der Umstand, dass der Widerspruch zwischen den Herrschaftsformen Königtum/Herzogtum offenbar nicht nur bei den germanischen sondern auch bei slawischen Stämmen zu finden ist (die ersten Piasten scheinen gewählte Herzöge gewesen zu sein). Dies würde dann immerhin widerlegen, dass gleiche Sprachgruppe = gleiche Kultur und gleiche Kultur bedeuten muss.
Das sind, verkürzt, meine Überlegungen zum Versuch, die mir widersprüchlich erscheinende germanische „Herrschaftsideologie“ einen Hut zu bringen. Befriedigen tun mich die Ergebnisse nicht – und die Thematik überfordert mich auch etwas – deshalb auch die wirre Darstellung. Gibt es eine Variante 5, die stimmiger ist ?
Für mich ist die Frage nach den germanischen Herrschaftsstrukturen vor allem deshalb von Interesse, weil diese zu einem grossen Teil für die mittelalterliche Herrschaftspraxis (mein Interesse an Geschichte bezieht sich haupts. auf Mittelalter und frühe Neuzeit resp. Renaissance) bestimmend waren.
Zuerst einmal soweit ein kurzer Überblick, was mir bekannt ist:
Die meisten germanischen Stämme – so etwa Franken, Ostgoten, Westgoten, Langobarden, Vandalen – favorisierten ein Königtum, während andere, wie die Sachsen, Alemannen, Friesen und Thüringer – wenn überhaupt – lediglich einem Herzog gehorchten.
Die germanischen Könige legitimierten ihren Herrschaftsanspruch mit ihrer Abstammung von einem „Spitzenahn“, dessen Taten historisch-soziale Höchstleistungen darstellten. Gelegentlich war es sogar die Abkunft von einem Gott (Odin / Wotan) oder einem Monster, welches die aussergewöhnliche Substanz einer Königsfamilie genetisch verbriefte. Der fränkische König Merowech beispielsweise stammt von einem Seeungeheuer ab. Die angelsächsischen Könige (vorchristlich) leiteten ihre Abstammung von Wodan/Odin ab. Nach germanischer Auffassung war der König Heilsträger für sein Volk – der Garant für eine geordnete Welt und für den Frieden – und musste schon deshalb möglichst von göttlicher Herkunft sein. Das geht schon aus dem germanischen Begriff „künic“ (König) hervor, welches „von edler Herkunft“ bedeutet. Die Könige vermittelten das Heil der Götter, wozu sie durch ihre besondere Nähe zu diesen befähigt waren. Das Königsheil musste sich in Sieg und Erfolg offenbaren und rief, wo diese ausblieben, den Widerstand von Adel und Volk hervor. In der Idee des Gottesgnadentums schimmert dieses Königsheil noch durch – die kirchliche Weihe hatte dabei das germanische Geblütsheil (von Kalr Hauck als Geblütsheiligtum bezeichnet) ersetzt. Die Bedeutung, welcher der Abstammung bei vielen germanischen Sippenverbänden als Legitimation zur Herrschaftsausübung beigemessen wurde, verdeutlicht beispielsweise die Vorrede zum lateinischen Gesetzbuch des Langobardenkönigs Rothari aus dem Jahr 643, welche die Familiengeschichte des Königs beschwört.
Dem germanischen Königtum steht der Herzog, germanisch „herizogo“ („der mit dem Heer auszieht“), gegenüber, welcher ursprünglich nur ein für die Dauer eines Krieges oder Heerzuges gewählter Heerführer war. Für die Wahl war offenbar meist Kriegserfahrung und / oder die Grösse der persönlichen Gefolgschaft massgebend und nicht die Abstammung, welches das „Königsheil“ bedingte.
Aus diesen widersprüchlichen Konzepten habe ich mir folgende Erklärungsvarianten zusammen gebastelt, welche aber alle in mindestens einem Punkt nicht schlüssig sind.
Variante 1) Es gab germanische Stämme, welche das Königtum und damit die nach Abstammung legitimierte Herrschaft favorisierten während andere germanische Stämme das Wahl-Herzogtum bevorzugten.
Was hier – bei diesem entweder / oder u.a. stört ist die Einrichtung des Things, welches nicht nur Gerichtstag sondern auch Wahltag (eben etwa bei der Wahl eines Herzogs) war. Die Existenz eines Things verträgt sich aber nicht so recht mit einem Königtum, auch wenn dieses kein absolutes ist. Insofern würde dies bedeuten, dass beispielsweise die Ostgoten mit ihren Königen das Thing nicht kannten resp. nie in Gebrauch hatten, was ich mir aber auch nicht so recht vorstellen kann.
Variante 2) Ursprünglich kannten die germanischen Stämme keine Könige sondern nur gewählte Herzöge und erst im Verlauf der Völkerwanderung hatten die – die gewählten Herzöge – sich durchgesetzt und sich zu Erbkönigen gemacht.
Diese Variante würde beispielsweise auch erklären, weshalb die „zu Hause gebliebenen“ Sachsen nie einen König hatten sondern mit Widukind nur einen Herzog, der nicht die volle Gewalt über das Volk inne hatte (das zeigt schon der Umstand, dass nach seiner Unterwerfung unter Karl den Grossen der sächsische Widerstand teilweise noch weiter ging), während die nach England „ausgewanderten“ Sachsen Kleinkönigreiche (Wessex, Sussex etc.) mit mehr oder weniger erblichem Königtum errichteten.
Hier stört allerdings der Gedanke – abgesehen davon, dass die nicht „sehr weit gewanderten“ Franken ebenfalls das Königtum praktizierten – dass die ganze Ideologie des Königsheils und die damit verbundene göttliche Abstammung von den Anführern erst noch konstruiert werden musste. Die Tradition der göttlich legitimierten Herrschaft war jedoch schon in der Antike verbreitet und ist somit ein Ideenkomplex, der bereits vorhanden war und den man vor allem nicht so rasch „erfinden“ konnte.
Variante 3) Alle germanischen Stämme praktizierten sowohl das Königtum als auch das Wahl-Herzogtum, was man sich wohl so ähnlich vorstellen müsste wie bei den Wikingern resp. den frühmittelalterlichen Skandinaviern. In Skandinavien herrschten eine Reihe von Kleinkönigen und Jarle, die sich auf ihre Abstammung beriefen, während die sogenannten „Seekönige“ gewählte Anführer von zeitlich limitierten Kriegszügen waren (also ähnlich wie die ursprünglichen Herzöge). Das solche „Seekönige“ ebenfalls erbliche Königsdynastien bilden konnten (etwa die Rolloniden) – und dann für ihre Familie ebenfalls göttliche oder zum Mindesten exklusive Stammbäume konstruieren mussten – passt dabei ins Gesamtbild.
Gegen diese Variante spricht aber, dass beispielsweise Alemannen und Friesen nie einen König hatten - für die Alemannen ist mir mit Eticho zudem nur ein einziger Herzog bekannt.
Variante 4) Innerhalb des selben Stammes kam es zu wechselhaften Herrschaftssystemen. So musste mit der Idee von Königsheil und göttlichem Beistand keineswegs zwingend die Herrschaftsform der Monarchie einhergehen. Das zeigen z.B. die Goten. Während sich die Amaler bei den Ostgoten schon früh als allein regierende Könige durchsetzten, wurden die Westgoten von einer Oligarchie zahlreicher Kleinkönige beherrscht. Obwohl erst seit dem 4. Jahrhundert mit Ermanarich bezeugt, der laut Ammianus Marcellinus das gesamte Gotenreich beherrschte, führten die Amaler ihr Geschlecht 17 Generationen bis auf den skandinavischen Kriegsgott Gaut zurück (auch hier die vom Königsheil diktierte Abstammung).
Zusätzliche Schwierigkeiten bereitet mir der Umstand, dass der Widerspruch zwischen den Herrschaftsformen Königtum/Herzogtum offenbar nicht nur bei den germanischen sondern auch bei slawischen Stämmen zu finden ist (die ersten Piasten scheinen gewählte Herzöge gewesen zu sein). Dies würde dann immerhin widerlegen, dass gleiche Sprachgruppe = gleiche Kultur und gleiche Kultur bedeuten muss.
Das sind, verkürzt, meine Überlegungen zum Versuch, die mir widersprüchlich erscheinende germanische „Herrschaftsideologie“ einen Hut zu bringen. Befriedigen tun mich die Ergebnisse nicht – und die Thematik überfordert mich auch etwas – deshalb auch die wirre Darstellung. Gibt es eine Variante 5, die stimmiger ist ?
Zuletzt bearbeitet: