Hallo Thanepower,
vielen Dank für Deine ausführlichen und engagierten Zeilen. Ich vermute, sie waren teilweise an mich gerichtet.
1. Es war keine "hysterische" Reaktion, sondern entsprach der Wahrnehmung einer seriösen Bedrohung. Es war eine krisenhafte Entwicklung für das russische Zarentum und seinen Anspruch, eine Großmacht zu sein.
Dazu hatte ich bereits in den zurückliegenden Beiträgen geschrieben, ich möchte mich nicht wiederholen und neue, konkrete wie substanzielle Argumente Deinerseits fehlen mir. Ich schrieb übrigens von "fast hysterisch", was nicht nur von Sasonows Wortwahl, sondern auch von seinem in den genannten Dokumenten-Bänden reflektierten Auftreten, Verhalten und "Aussehen" beeinflusst ist.
OT: Es ist erstaunlich und es gibt eine umfangreiche Literatur im Bereich der IR_Literatur zur Frage, in welchem Umfang ein Land wie Russland / Sowjetunion, ohne natürliche Barrieren als Grenzen, seine "Sicherheitsbedürfnisse" nach außen durch eine aggressive Expansion legitimieren kann.
Sehr gute Frage, geschichtswissenschaftlich wie geographisch hochinteressant - allerdings ist mir selber noch nicht bekannt, was "OT" bedeutet oder was Du mit "IR_Literatur" gemeint hast.
Noch spannender wäre womöglich die Frage, wie groß der gesicherte Einflussbereich um ein Staat in der Größe Russlands, aber vielfach ohne natürliche Barrieren als Grenzen, sein "muss", damit sich Politik und Regierung wie öffentliche Wahrnehmung des Staates "sicher" genug fühlen. Das führt mitten in die Gegenwart….
2. Der Kronzeuge "Grey", der ins Spiel gebracht wurde, ist in diesem Kontext denkbar unbrauchbar.
Vor diesem Hintergrund wird sich die Beurteilung von Grey der russischen Außenpolitik anders darstellen.
- Es wäre sinnvoll quellenkritisch seine Äußerungen zu bewerten
in Bezug auf den Zeitpunkt
in Bezug auf sein Wissensstand
in Bezug auf seine eigene Interessenlage
Zumindest ich habe Grey weder formal noch inhaltlich als Kronzeugen, also als einzigen Hauptzeugen, benutzt, ebenso wenig "unkritisch". Seine von mir sinngemäß notierte Äußerung von Ende Februar 1914 zur Liman-Mission fasst treffend wie realistisch die Qualität der Liman-Sanders-Mission zusammen. Nur in diesem Sinne hatte ich sie verwendet und gemeint. Es wäre derweil schade und bemerkenswert selektiv, würde Dein bedeutendster Beitrag gegen meine Argumente und Ableitungen in meinen zurückliegenden Beiträgen nur in Deiner kritischen Reflektion meiner Wiedergabe Grey'scher Bemerkungen bestehen.
Ansonsten führte ich genug andere Quelle an, Veröffentlichungen und Fachliteratur an bzw. zog sie, allerdings ungenannt, mit heran:
Liman von Sanders, Fünf Jahre Türkei
Sasonow, Sechs schwere Jahre
Morgenthau, Ambassador Morgenthau's Story
Djemal Pascha, Erinnerungen eines türkischen Staatsmannes (1922)
Pomiankowski, Der Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches
Von Goltz, Der jungen Türkei Niederlage (1913)
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe
Römer, Die deutsche und englische Militärhilfe für das Osmanische Reich 1908 – 1914
Richter, Der Krieg im Südosten. Gallipoli 1915.
Alle vier Dokumentenreihen GB, FR, Dt. Reich, Ö.-U.
Canis, Der Weg in den Abgrund
McMeekin, The Berlin-Bagdad-Express
Kerner, The Mission of Liman von Sanders (Mehrteilige Zeitschriftenveröffentlichung 1927 – 1928)
Schröder, Die englisch-russische Marinekonvention
Herzfeld, Die Limankrise und die Politik der Grossmächte in der Jahreswende 1913-4 (1933, zweiteilige Zeitschriftenveröffentlichung)
Mühlmann, Deutschland und die Türkei 1913 – 1914 (1929)
Rooney, The International Significance of British Naval Missions to the Ottoman Empire, 1908-14 (Zeitschriftenausatz 1998)
Keiger, France and the Origins of the First World War
Afflerbach, Der Dreibund
Krethlow, Golz Pascha
Mir sind nicht mehr alle herangezogenen Veröffentlichungen in Erinnerung, besonders Aufsätze in historischen Zeitschriften, sorry.
Ich gehe weiterhin davon aus, dass schon und immer noch die Verwendung der französischen, britischen, reichsdeutschen wie ö.-u. Dokumentenbände bereits ein vielschichtiges Bild ermöglicht. Geschichtswissenschaftliche Arbeiten wie die von Kerner, "The Mission of Liman von Sanders", 1927-1928, haben sich hauptsächlich der Dokumentenbände bedient.
Doch gerne bitte ich Dich, anhand einer konkreten Äußerung meinerseits, von mir in diesem Faden abgeleitet aus den BD, zu zeigen, zu welchem Ergebnis Du kommst, wenn Du einer quellenkritischen Vorgehensweise folgst, von der Du vielleicht annimmst, dass ich sie nicht berücksichtige.
Alles ist natürlich auch eine Frage der Zeitressourcen und der eigenen Schwerpunktsetzung, zudem schreiben wir im Forum keine Geschichte…;-)
Ich habe mir - nur so als Gedankenspiel - die Reaktion von Sazonow auf eine hypothetische Blockade des "Suezkanals" vorgestellt.
Was wäre hypothetisch wohl passiert:
1. GB hätte jedem Land, das an der Blockade beteiligt gewesen wäre, ein Ultimatum gestellt, die Blockade aufzuheben
2. und bei Nichterfüllung wäre die - mehr oder minder - sofortige Kriegserklärung erfolgt.
3. Und Sazonow hätte sicherlich - analog zu Grey in Bezug auf die "Straßen" formulieren können, dass er gar nicht die "hysterische" Reaktion von GB/Grey verstehen könne.
Schönes Gedankenspiel, thanepower, danke für Deine Ideen.
Das Beispiel zieht nur nicht, wenn Du analog konstruierst, ein Land wäre an einer Blockade beteiligt gewesen.
Die Liman-Sanders-Mission hatte nicht den Auftrag und die militärische Eigen-Stärke für eine Blockade, noch beherrschte Russland die Meeresengen – da war immer noch auch die Türkei "dazwischen". Siehe ansonsten weiter oben. Es war letztlich die britische Politik, welche eine völlige Öffnung der Meeresengen für alle russ. Schiffe, ob militärisch oder zivil, verhindert hatte. Ob dabei die Istanbuler Regierung mitgespielt hätte, wird in dieser Perspektive sowieso nicht berücksichtigt.
Unabhängig davon beschreibt Clark (The Sleepwalker, S. 262) die Rationalität des durchaus komplexen und widersprüchlichen diplomatischen Zielsystems von Sazonow. Im wesentlichen wollte er Italien vom DR und Ö-U lösen und in eine "Balkanpartnerschaft" integrieren, in Fronstellung zu Ö-U.
Jaaa -
nachdem die Außenpolitik Ö.-U.s sowohl die russ. Reg. wie die italien. mit der Bosnien-Annexion 1908 bzw. der nicht erfolgten Meeresengen-Durchfahrt verprellt hatte. Da hatten sich zwei Verprellte – mit jeweils eigenen Hintergrundabsichten – gefunden.
Sazonow, so Clark, war sich bewußt, dass der "Balkan" nach dem "Lybien-Krieg" instabil werden würde und er versucht, auch über die "Balkan League" die Kontrolle über den Prozess der nationalen Befreiungskriege zu behalten.
Vielleicht....Wäre der Krieg um Tripolitanien so lokalisiert und kurz geworden, wie von der ital. Reg. geplant/erträumt, ein Monat, dann wären vielleicht die Balkangebiete doch - noch - ruhig geblieben.
Nicht zuletzt zielte der Krieg auf die Destabilisierung des Osmanischen Reichs ab und im Zuge dieser Situation wollte Russland eine politische Lösung herbeiführen, die ihr die unkontrollierte Durchfahrt durch die "Straßen" ermöglichen sollte.
Welcher Krieg zielte – nicht zuletzt? - auf die Destabilisierung des Osmanischen Reiches?
Die mögliche Schwächung des Osmanischen Reiches durch den italienisch-türkischen Krieg sah Sasonow als Chance zur Neuauflage, die Meeresengen-Durchfahrt endlich in Sinne der russ. Regierung zu lösen, wohl wahr, Thanepower. Das war der Versuchsballon der russ. Diplomatie im Dez. 1911, immer mit dem Ziel, das zu erreichen, was 1908 nicht gelungen war.
Dass er diese Lösung der "Strassenfrage" nur indirekt angehen konnte, lag daran, dass er eine Verunsicherung seines französischen Partners, der der primäre Geldgeber des Osmanischen Reichs war, vermeiden wollte.
Das war noch etwas komplexer, schließlich war die britische Reg. 1908/1909 gegen Meeresengen-Öffnung im Sinne der russ. Regierung gewesen. Und ein Alleingang der russ. Reg. ohne oder gar gegen die Entente-Partner sowie die Türkei war angesichts der Beziehungen der Entente-Partner mit Russland und ihres Engagements in der Türkei sowieso ausgeschlossen. Weiterführend ist Dein Hinweis, dass die Osmanische Regierung in hohem Masse von französischem Geld abhängig gewesen war....;-) Während die Liman-Sanders-Mission bereits voll angelaufen war, wurden zwei französische Großkredite abgeschlossen. Im April 1914, allerdings mit Unterstützung der Deutsche Bank, und im Juli 1914.
Unter dem Strich ist die Außenpolitik von Sazonow von vielen Autoren gerade in Bezug auf den Balkan als widersprüchlich und inkonsistent beschrieben worden, aber sie folgte in der Regel - temporär gewichtet - immer den unterschiedlichen Zielen russischer Außenpolitik.
Wenn man nicht einem unilateralen, monokausalen Imperialismus-Modell folgt, so hat die russ. Regierung auf die verschiedenen, von ihr nicht mehr kontrollierbaren Entwicklungen im Balkanraum durchaus
situativ reagiert, meine ich. Auch so kann eine scheinbar inkonsistente, widersprüchliche Außenpolitik entstehen.
Vor diesem Hintergrund schien die Ermunterung der italienischen Außenpolitik zum "Lybien-Krieg" (vgl. z.B. Stepheson: A Box of Sand.) eine kalkulierbare politische Option, die dann unerwartet sich sehr gravierend für die russische Wirtschaft und vor allem für das exportfinanzierte Rüstungsprogramm auswirkte.
Rückwirkend wird man wohl sagen können, dass es eine graviernde politische Fehleinschätzung durch Sazonow war.
Ja mei, die italien. und russ. Regierung hatten seit 1909 ein Abkommen auch dazu, doch die italien. Außenpolitik hatte ja bereits seit z.T. vielen Jahren zuvor in Kontakt/Absprache mit allen anderen Großmächten Tripolitanien erfolgreich für sich als zukünftige Einflusszone /mögliche Kolonie sichern können. An der russ. Regierung lag es daher strategisch und militärisch wie politisch am wenigsten, dass die italien. Regierung 1911 den Libyen-Feldzug startete.
Das Signal dazu bot die Besetzung Marokkos durch franz. Truppen wenige Monate zuvor, da im Prinetti-Barrère-Abkommen mit Frankreich von 1902 formuliert worden war, dass die ital. Reg. im Fall der französ. Besetzung Marokkos auf Tripolitanien zugreifen dürfe. (Afflerbach, Dreibund, S. 691)
Dass Sasonow sich mit der vorübergehenden Akzeptanz eines kurzen Angriffs italienischer Streitkräfte auf die Dardanellen arg verkalkuliert hat, steht fest.
Nochmals vielen Dank für Deinen umfangreichen Beitrag, teilweise hatte ich ihn auf meine vorhergehenden Beiträge bzw. mehr noch auf meine Position zur Militärmission in diesem Faden bezogen. Ein wenig habe ich geraten.
Und ein wenig hier und da zugespitzt, natürlich auch zugunsten meiner eigenen Wahrnehmung der Missionskrise vereinfacht, was in einem schriftlichen Forum und so langen Thread sowieso kaum anders möglich ist.
Viele Grüße,
Andreas