Unsere Mütter, unsere Väter

Ich liebe Geschichte. Übrigens war Deutschland von 1990 bis 2020 das wichtigste Auswanderungsziel weltweit – in manchen Jahren noch vor Israel selbst – für osteuropäische Juden, insbesondere solche aus Russland und Polen. (Erst Vorfälle wie das Attentat von Halle und der zunehmende Antisemitismus unter moslemischen Einwanderern haben dieser Entwicklung ein Ende gesetzt.)

So manche jüdische Gemeinde in der BR wäre ohne die Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion niemals wiederbelebt worden. Die Kasseler Synagogen haben die Pogromnacht 1938 nicht überstanden, und die letzten baulichen Überbleibsel einer mehrere Hundert Jahre alten jüdischen Kultur gingen während des Feuersturms 1943 zugrunde und die Überreste der Überreste fraß der Neuaufbau nach dem Krieg.
Eine jüdische Gemeinde gab es in Kassel seit dem Krieg nicht mehr. Erst mit den Spätaussiedlern etablierte sich wieder jüdisches Leben, und seit etwa 10-15 Jahren gibt es auch wieder eine Synagoge in Kassel.

Der Schwiegersohn eines Freundes von mir war während der Einweihung zufällig zu Besuch in Kassel, und da er selbst Rabbiner ist, wollte er es sich nicht nehmen lassen, bei der Einweihung anwesend zu sein.

Er war aber recht enttäuscht. Als Rabbi aus Israel war er fest davon überzeugt, dass das bei der Gemeinde Eindruck machen würde. Anscheinend hielt sich die Begeisterung in Grenzen, und es hagelte auch keine Einladungen zum Mittag oder Abendessen, statt dessen wurde der Rabbi mit selbst gebranntem Wodga bewirtet und mit ein paar Blinis abgespeist.
Anders, als erwartet kam der Rabbi daher viel früher wieder nach Hause.
"Jüdische Gemeinde? Das sind ja alles Russen, die sprechen ja nicht mal Hebräisch! Statt Karmelwein Wodga- ich wäre fast blind davon geworden!"
war der Kommentar des Rabbis aus Israel.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das ist eine sehr instruktive Grammatikstunde...
Der Kernsatz lautet:

Was ich halt extrem ungeil finde, ist, wenn man sich selbst [...] so geil findet, dass man sich selbst auf die Schulter klopft und anderen sagt, dass sie das doch bitte erst mal nachmachen sollen.
Was Sie bitte nachmachen sollen, also die historische Aufarbeitung, steht im Nebensatz.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kernsatz und https://de.wikipedia.org/wiki/Nebensatz und um der Vollständigkeit willen noch der originale Satz:
Was ich halt extrem ungeil finde, ist, wenn man sich selbst in Bezug auf historischer Aufarbeitung so geil findet, dass man sich selbst auf die Schulter klopft und anderen sagt, dass sie das doch bitte erst mal nachmachen sollen.
wenn ich den Lehren der Grammatikstunde aufmerksam folge, dann finde ich also den "Kernsatz", wenn ich die Unterstreichung aus dem originalen Satzgeflecht streiche - das sieht man bei der Gegenüberstellung der beiden Zitate (das erläutert diese innovative Grammatik) : Verblüffenderweise soll "wenn man sich selbst [...] so geil findet" also Bestandteil des Kernsatzes sein, wohingegen "wenn man sich selbst in Bezug auf historischer Aufarbeitung so geil findet" Nebensatz ist...
Das ist wirklich innovativ und wird in Sachen Grammatik Furore machen ;)

Verlassen wir die Grammatik, denn an deren innovative Anwendung werden wir uns nicht so schnell gewöhnen, und machen stattdessen eine fröhliche Ersetzungsprobe mit Satz:
1 - Was ich halt extrem ungeil finde, ist, wenn man sich selbst in Bezug auf Autotuning so geil findet, dass man sich selbst auf die Schulter klopft und anderen sagt, dass sie das doch bitte erst mal nachmachen sollen.
2 - Was ich halt extrem ungeil finde, ist,
wenn man sich selbst in Bezug auf spanische Spezialgeschichte so geil findet, dass man sich selbst auf die Schulter klopft und anderen sagt, dass sie das doch bitte erst mal nachmachen sollen.
3 - Was ich halt extrem ungeil finde, ist,
wenn man sich selbst in Bezug auf Koranauslegung so geil findet, dass man sich selbst auf die Schulter klopft und anderen sagt, dass sie das doch bitte erst mal nachmachen sollen.
4 - Was ich halt extrem ungeil finde, ist,
wenn man sich selbst in Bezug auf Satzbau so geil findet, dass man sich selbst auf die Schulter klopft und anderen sagt, dass sie das doch bitte erst mal nachmachen sollen.
Ganz offensichtlich ist die Satzstruktur bei diesen Ersetzungsproben erhalten geblieben. Ganz offensichtlich ändert sich der Inhalt des Satzes, wenn man einen inhaltlich relevanten Bestandteil austauscht :D "wie erstaunlich" (Flaubert)
Es geht auch gar nicht um Grammatik, um Linguistik, um Spitzfindigkeiten, um Satzbau, sondern es geht um die Angemessenheit einer Ausdrucksweise, wobei völlig irrelevant ist, ob sich diese in einem Haupt- oder Nebensatz befindet: konkret um die Verwendung von "geil"/"ungeil" im Kontext mit - erraten! Im Zusammenhang mit historischer Aufarbeitung (muss ich erläutern, welche spezielle Aufarbeitung gemeint ist?). Wenn wir nun die vier Ersetzungsproben hinsichtlich der Verwendung von "geil"/"ungeil" in Bezug die vier bzw. mit dem Original fünf inhaltlich relevanten Bestandteile betrachten: sind da in Sachen Angemessenheit Unterschiede? für mein Empfinden: ja. Bei 1 und 4 wäre es mir Wurscht, bei 2 und 3 halte ich es für unpassend, im "Original" auch.

Letztlich scheint auch der Verfasser des Originals in diese Richtung zu empfinden, denn er wehrt sich vehement dagegen, dass ihm seine Verwendung von "geil"/"ungeil" in inhaltlichem Zusammenhang mit der Aufarbeitung unter die Nase gerieben wird. Aber das hat nun mal stattgefunden, ist oft genug wörtlich und ohne Verdrehungen zitiert worden. An dieser Stelle verzichte ich darauf, nach seinem Vorbild wie in #558 Turgot gegenüber zu "argumentieren".

Dabei wäre die ganze Chose so einfach zu beseitigen, übrigens mittels einer Art Ersetzungsprobe:
Was ich halt verwerflich finde, ist, wenn man sich selbst in Bezug auf historische Aufarbeitung so maßlos glorifiziert, dass man sich selbst auf die Schulter klopft und anderen sagt, dass sie das doch bitte erst mal nachmachen sollen.
(siehe #574) Und diesem Satz kann ich guten Gewissens zustimmen, insbesondere dort, wo das stattfindet, was er zum Ausdruck bringt. Aber wie schon oft genug gesagt: das war in den Beiträgen der letzten Tage hier nicht der Fall (was schon daran erkennbar ist, dass auf Nachfragen kein Nachweis kam)
__________
vielleicht könnte man zum Thema zurückkommen.
da bin ich gespannt, im von dir @Carolus verlinkten Interview fand ich dieses Zitat treffend:
Auf der einen Seite ja, natürlich, weil dadurch ganz klar wird, dass die regierende Gruppe in Polen überhaupt nicht an der wissenschaftlichen und sinnvollen Aufarbeitung von bestimmten Tabus oder weniger angenehmen Teilen der Vergangenheit interessiert ist. Paradoxerweise führt dieses Gesetz aber genau zum Gegenteil, dass nämlich im Ausland und auch in einem kritischen Teil der Gesellschaft in Polen genau darüber wieder diskutiert wird. Die Welt wird ja geradezu darauf hingestoßen, auf dieses Thema polnische Mittäterschaft oder polnische Mitverantwortung für einen Teilbereich dessen, was im Zweiten Weltkrieg geschehen ist. Dieser Versuch, den guten Namen Polens in der Welt durchzusetzen, hat genau zum Gegenteil geführt – völlig absurd. Aber das ist populistische Politik, die nicht bedenkt, was man im Ausland anrichtet mit dem, was man tut, sondern die nur auf die innenpolitische Szene blickt, und da hat man vielleicht erst mal ein bisschen Erfolg, wenn man die eigenen Scharen eint und mit nationalistischen Diskursen versucht, die Anhängerschaft der PiS zu einen. Aber auf mittlere und längere Frist wird das katastrophale Folgen haben./QUOTE]
 
Eine jüdische Gemeinde gab es in Kassel seit dem Krieg nicht mehr. Erst mit den Spätaussiedlern etablierte sich wieder jüdisches Leben, und seit etwa 10-15 Jahren gibt es auch wieder eine Synagoge in Kassel.

Der Schwiegersohn eines Freundes von mir war während der Einweihung zufällig zu Besuch in Kassel, und da er selbst Rabbiner ist, wollte er es sich nicht nehmen lassen, bei der Einweihung anwesend zu sein.

Er war aber recht enttäuscht. Als Rabbi aus Israel war er fest davon überzeugt, dass das bei der Gemeinde Eindruck machen würde. Anscheinend hielt sich die Begeisterung in Grenzen, und es hagelte auch keine Einladungen zum Mittag oder Abendessen, statt dessen wurde der Rabbi mit selbst gebranntem Wodga bewirtet und mit ein paar Blinis abgespeist.
Anders, als erwartet kam der Rabbi daher viel früher wieder nach Hause.
"Jüdische Gemeinde? Das sind ja alles Russen, die sprechen ja nicht mal Hebräisch! Statt Karmelwein Wodga- ich wäre fast blind davon geworden!"
war der Kommentar des Rabbis aus Israel.
Führt vom Thema des eigentlichen Fadens weg. In der Vergangenheit gab es mehrere Kritikpunkte zu den jüdischen Kontigentflüchtlingen. Von für uns befremdliche Themen ( "... stammt von einem jüdischen Vater ab, die Mutter war nichtjüdisch" - also nach jüdischer Religionslehre kein Jude) über die fehlende Religiosität ("war nie in einer Synagoge") bis zum Betrug

https://www.spiegel.de/politik/sehr...gsfeld-a-8598acd6-0002-0001-0000-000010630150

ist da alles geboten. So gesehen kann ich den Rabbi aus Israel gut verstehen. Wobei die Gründer einer jüdischen Gemeinde sicherlich nicht zu dem Kreis der mutmaßlichen Betrüger gehören dürfte. Alteingesessene jüdische Gemeinden haben mit den Zuwandern auch gefremdelt. Einen erheblichen Teil fehlte die grundlegenden Kenntnisse der jüdischen Religion. Die Begründung war, dass die Neuankömmlinge in der Sowjetunion nicht ihren Glauben hätten leben können. Dazu maße ich mir kein Urteil an.
 
Die Veranstaltung wurde abgebrochen. Private Videoaufnahmen zeigen, wie der Sejm-Abgeordnete Grzegorz Braun schon nach wenigen Minuten den Vortrag unterbricht, das Mikrofon mehrfach auf das Pult schlägt und demonstrativ die Lautsprecher beschädigt. Braun erklärt seinen zerstörerischen Akt kurzerhand zu einer parlamentarischen Intervention, zu der er wegen Gefahr im Verzug und zur Abwehr der Beschädigung des guten Leumunds Polens berechtigt sei.

Grzegorz Braun ist in Polen bekannt für die Leugnung der Covid-19-Pandemie, er forderte Gefängnisstrafen für Homosexualität und begrüßte die symbolische Verbrennung eines Statuts für die jüdische Gemeinde der Stadt Kalisz während eines Marsches am Tag der Unabhängigkeit am 11. November 2021.
...jetzt wissen wir, wie ein Herr Braun parlamentarische Interventionen zu gestalten pflegt: sehr rustikal...
 
Führt vom Thema des eigentlichen Fadens weg. In der Vergangenheit gab es mehrere Kritikpunkte zu den jüdischen Kontigentflüchtlingen. Von für uns befremdliche Themen ( "... stammt von einem jüdischen Vater ab, die Mutter war nichtjüdisch" - also nach jüdischer Religionslehre kein Jude) über die fehlende Religiosität ("war nie in einer Synagoge") bis zum Betrug

https://www.spiegel.de/politik/sehr...gsfeld-a-8598acd6-0002-0001-0000-000010630150

ist da alles geboten. So gesehen kann ich den Rabbi aus Israel gut verstehen. Wobei die Gründer einer jüdischen Gemeinde sicherlich nicht zu dem Kreis der mutmaßlichen Betrüger gehören dürfte. Alteingesessene jüdische Gemeinden haben mit den Zuwandern auch gefremdelt. Einen erheblichen Teil fehlte die grundlegenden Kenntnisse der jüdischen Religion. Die Begründung war, dass die Neuankömmlinge in der Sowjetunion nicht ihren Glauben hätten leben können. Dazu maße ich mir kein Urteil an.

Die Aufnahme und Integration von zahlreichen jüdischen Spätaussiedlern war durchaus eine Herausforderung für den Staat Israel. In der Größenordnung lässt sich die Herausforderung einige Hunderttausend Spätaussiedler aus der SU zu integrieren durchaus mit den Belastungen der deutschen Einigung vergleichen.

Auch die Deutschen in Ost und West waren sich nach 40 Jahren Kalter Krieg in vielem recht fremd geworden, und ähnlich wie es in Deutschland Vorbehalte gegen "die Ossis" gab, wie es Klagen über Jammer-Ossis und Besser-Wessis gab, so gab es in Israel auch Vorbehalte gegen "die Russen", von denen viele weder Hebräisch noch Englisch sprachen. Viele der sowjetischen Juden waren völlig der Religion entfremdet. Es mangelte an Rabbinern, viele traditionsreiche jüdische Hochschulen haben sich von der Shoah nie mehr erholen können.
 
Es scheint schwierig zu sein, solche Themen ohne ausgiebige Kommentare zur Tagespolitik zu erörtern.
 
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