Byzanz war kein neuer Staat, und die byzantinische Geschichte stellten auch keinen Neuanfang dar, sei er nun auf revolutionäre Weise oder auf dem Weg der Evolution erfolgt. Byzanz war Rom! Seine Kaiser konnten sich in ungebrochener Tradition bis auf Caesar und Augustus zurückführen, ja einige seiner Institutionen und Traditionen reichten noch weiter zurück bis in die Anfänge der römischen Republik. Und so war es auch natürlich, daß die Byzantiner sich selbst als Römer fühlten und auch so bezeichneten: Ihr Reich war die Basileia ton Rhomaion, was nichts anderes ist als die griechische Entsprechung des lateinischen Imperium Romanum, eben des Römischen Reiches. Dieses Reich, für das wir erst seit der Neuzeit den Namen „Byzanz“ benutzen, war auch nicht das Ergebnis einer Teilung des Römischen Reiches, denn dieses Reich ist nie geteilt worden. Es wurde nur im vierten Jahrhundert administrativ in zwei große Teile gegliedert, die ihrerseits wieder unterteilt wurden, weil sein Herrschaftsgebiet zu umfangreich geworden war, als daß man von einem einzigen Zentrum aus die immer zahlreicher werdenden Probleme an den verschiedenen, weit auseinander liegenden Grenzen hätte lösen können. Aber jeder Bewohner dieses Reiches, ob im Osten oder Westen, Norden oder Süden, fühlte sich als Römer, als Romanus, oder eben, wie ein Grieche es ausgedrückt hätte, als Rhomaios. Rom war im Bewußtsein des frühen Mittelalters keineswegs untergegangen, sondern hat fortgelebt, wenn auch in einem 7 geographisch reduzierten Rahmen. Das wurde auch von den germanischen Staaten, die auf dem Boden des untergegangenen weströmischen Reichsteils entstanden waren, so gesehen. – Diese Tatsache und ebenso das Wissen um diese Tatsache stellte den Kaiser in Konstantinopel in eine nachgerade einzigartige Tradition und verlieh ihm ein Übergewicht über alle anderen Herrscher des frühen Mittelalters, das von diesen auch mehr oder weniger ausnahmslos anerkannt wurde. Die Begründung für diese Ausnahmestellung ist relativ einfach: Rom war in jedem, und zwar in jedem nur denkbaren Bereich einzigartig gewesen: in seiner Größe wie in seiner Macht, in seinem Alter wie in seiner Kultur. Außerhalb Roms gab es nichts, was ihm gleichkam. Rom umfaßte, von dem fernen und für den Römer ohnehin unbegreiflichen Orient einmal abgesehen, die ganze bewohnte Welt, die Oikoumene im eigentlichen Wortsinn. Rom bildete zugleich den Höheund Endpunkt einer ganzen Epoche. In ihm fand sich die gesamte antike Kultur, lebte nicht nur das Lateinische, sondern auch das Griechische, die Verkehrssprache der Gebildeten im Reich. Ein weiterer Punkt darf gleichfalls nicht unterschätzt werden. Für das Christentum war dieses Reich nachgerade unverzichtbar! Seine Existenz erst schuf die Möglichkeit zur raschen Ausbreitung des christlichen Glaubens. In ihm lebten die Kirchenväter, hatte Konstantin der Große den Siegeszug der Kirche zu seinem eigenen gemacht und das Schicksal des Reiches mit dem neuen Glauben verbunden. Für viele Christen der ausgehenden Antike und des beginnenden Mittelalters war die Vorstellung, daß Rom untergehen könnte, gleichbedeutend mit dem Weltende und der Ankündigung des Jüngsten Gerichts. Ob diese Glorifizierung Roms tatsächlich berechtigt war, brauchen wir nicht zu untersuchen. Entscheidend ist, daß man es in der Spätantike und im frühen Mittelalter, bewußt oder unbewußt, so empfunden hat. Und dadurch, daß Rom eben der Kulminationspunkt einer ganzen Epoche gewesen war, der in dieser Ausschließlichkeit nie wieder erreicht worden ist, 8 mußte es demjenigen, der dieses Reich verkörperte, ja der es war, wenn auch nur noch in Teilen, einen Nimbus verleihen, dem kein anderer Herrscher etwas Gleichwertiges entgegensetzen konnte. Und eben dieses Römische Reich verkörperte Byzanz, auch als die Stadt Rom selbst nicht mehr seine Hauptstadt bildete, sondern Konstantinopel – das „neue Rom“, das von Konstantin an der Stelle des alten Byzantion gegründet worden war und das Last und Ehre Roms übernahm: die Tochter, die die erschöpfte Mutter ablöste. Und so war auch der byzantinische Kaiser kein Nachfolger oder gar Erbe des römischen Kaisertums, sondern der byzantinische Kaiser war der römische, in einer direkten, ununterbrochenen Sukzession von Caesar und Augustus bis hin zu Konstantin XI. Palaiologos im 15. Jahrhundert. Diese Tatsache blieb für alle, vor allem aber natürlich für die Einwohner des byzantinischen Reiches selbst, durch lange Jahrhunderte hindurch eine Selbstverständlichkeit. Sie bestimmte als quasi unumstößliche Realität das Bewußtsein eines jeden Byzantiners, wann und wo er auch lebte, und verlieh seiner Existenz unter allen Völkern der Welt eine besondere und einzigartige Qualität. Das daraus resultierende Selbstbewußtsein wiederum befähigte ihn, die Rückschläge und Niederlagen, die Byzanz in der wirklichen Welt hinnehmen mußte, zu verdrängen und auf die Angriffe von außen mit einer an Hochmut grenzenden Nichtachtung zu reagieren.[FONT="] [/FONT]