Im Fall des Amerikanischen Doppelkontinents spielen bei den verschiedenen Schätzungen zudem politische und ideologische Gegebenheiten mit hinein, die dazu führten, daß lange Zeit Zahlen für die präkolumbische Zeit sehr niedrig ausfielen. Heute stellt sich die Situation sehr aufgefächert dar: während einerseits einige Wissenschaftler von Bevölkerungszahlen zwischen 100 und 150 Millionen Einwohnern auf beiden Kontinenten ausgehen, hält sich andererseits eine Fraktion von sogen "Low Counters", die vor 1492 Zahlen von 10-15 Millionen für Nord-, Mittel- und Südamerika zusammen für das Maximum halten. Der von dir zitierte Braudel befindet sich demnach im oberen Bereich der "Low Counter".
Das ist eine interessante Diskussion, wenn sie auch etwas vom Thema wegführt. Braudel erörtert diese beiden Schätzungen ausführlich und kommt dabei auf die Berkeley-Schule zurück, die für den Beginn des 16. Jahrhunderts mittels Interpolation die Bevölkerung des indigenen Mexikos allein auf 25 Millionen schätzt und plus die höher entwickelten Kulturen Südamerikas, Amazonas-Jäger, nordamerikanische Nomaden bzw. Bauern, Inuit und andere Völker schließlich auf eine Gesamtbevölkerung von 100 Millionen und mehr für Amerika zur Zeit der europäischen Renaissance kommt.
Die von dir genannten "Low-Counters" kritisiert Braudel, da ab dem 17./18. Jahrhundert relativ sichere Zahlen vorliegen (um die 10 Mio.). Da die Invasion der Europäer durch Kriegsverbrechen, Sklaverei aber vor allem tödliche Seuchen aber sicher mehr Indios dahingerafft hat als der Schwarze Tod 200 Jahre zuvor die Weißen, muss die Zahl vor 1519 deutlich höher gewesen sein.
Andererseits erläutert Braudel, dass die Vermehrungsrate der amerikanischen Völker mangels tierischer Milch (die Kinder mussten bis zum 4. Lebensjahr von der Mutter gestillt werden) schon immer unter der anderer Volksgruppen lag und beim Überblicken des Siedlungspotenzials Amerikas die Bevölkerung wohl kaum hätte höher sein können als jene Europas, das ohnehin über eine deutlich fortschrittlichere Landwirtschaft verfügte und dementsprechend mehr Hungrige füttern konnte.
Außerdem hält der Autor es für unrealistisch, dass die von den Angreifern eingeschleppten Leiden mehr als 80% der Indios hätten töten können, wie es Schätzungen oberhalb der 50 Mio. nahelegen. Letztendlich wählt Braudel dann die goldene Mitte, obwohl er beide Schätzungen gleichermaßen für Nonsens hält.
Vielleicht hat ja irgendwer Laune, seine Meinung dazu abzugeben; ich mache dann einen Thread dazu auf.