Das Ultimatum hätte gerade für die Befürworter eines Präventivkrieges also nicht erst nach einer Antwort kommen dürfen. Es hätte viel früher nach dem Mord kommen müssen und nach einer (zumindest) Teilmobilmachung gegen Serbien. Dann hätte die Drohung klar im Raum gestanden mit einem "Fügt Euch, sonst..." und es hätte nicht der diplomatisch kurze Zeit von zwei Tagen bedurft (bei damaligen Kommunikationsgeschwindigkeiten) und Eindruck zu hinterlassen. Wäre man dann während der Mobilisierung zum Entschluss gekommen, ein Angriff ist nicht sinnvoll, dann hätte ein Verzicht immer noch positiv verpackt werden können (Friedenswunsch, ausreichende Satisfaktion wurde erhalten, blablabla). Aber zu so einem Vorgehen hat doch keiner das Wort geredet, oder?
Wenn ich das richtig interpretiere, deutest Du die Möglichkeit an, dass es einen anderen Ablauf in Bezug auf die Reaktionen der Großmächte (und hier interessieren GB/FRA/RUS) gegeben haben könnte,
wenn die militärische Reaktion ÖU mit Rückendeckung des DRs schneller gekommen wäre.
Darüber kann man spekulieren, aber wir sollten eine Orientierung an den tatsächlichen Abläufen nicht verlieren. Also eine "5-Fragen-Probe":
1. welche Erwartungen an die österreichische Reaktion bestanden tatsächlich von Seiten anderen Staaten in einer denkbaren Konfrontation: war sofortiger Krieg oder ein Unterwerfungsvorgang vergleichbar dem Ultimatum (wurde dieses
inhaltlich so allgemein erwartet, oder erst ab Mitte Juli?) ein allgemein nachweisbares Szenario?
2. Gibt es Quellenhinweise in GB/FRA/RUS, die sich politisch-strategisch-militärisch mit einem öu-Krieg gegen Serbien und passiven Reaktionen darauf
explizit beschäftigen?
3. Gibt es Quellenhinweise dieser Staaten, die mindestens politisch-strategische Grundlinien oder Analysen offenlegen, die zwar nicht unmittelbar 2. betreffen, aber "gewisse Plausibilitäten" begründen, dass man bei einer schnellen Reaktion passiv geblieben wäre?
4. Gibt es zwar 1., 2., und 3. nicht, aber gibt es aktuelle Forschungsliteratur, die diesen Gedanken in einer Analyse zu plausibilisieren versuchen? Das könnten Vergleiche sein, oder sozio-politische Modelle, die eine solche Passivität zB als "Schockreaktion" nahelegen?
5. Gibt es noch einen Aspekt außerhalb von 1. bis 4., der bedenkenswert wäre? (mir fällt ad hoc keiner ein)
Das würde ich als Anforderung an eine minimale Objektivierung ansehen.
Wenn es nichts dergleichen von 1. bis 4. gibt, würden wir uns im freien Raum der Spekulation bewegen. Dann lässt sich alles und nichts vertreten, das hilft aber zum Thema nicht weiter.
Wilhelm mag getäuscht worden sein.
Es stellt sich aber die Frage, inwiefern dies einer vorhandenen Sachlage entsprach,
oder dem Selbstverständis eines überforderten Möchtegernautokraten des "fin de siecle".
Unwahrscheinlich scheint es mir zu sein, dass die wechsel- und launenhaften Einschätzungen Wilhelms hierzu, am Vorabend des gesellschaftlichen Umbruchs, für allzu ernsthaft genommen wurden.
Nun, die wechsel- und launenhaften Einschätzungen des Kaisers stimmten jedenfalls beim Einstielen des Risikogedankens mit denen von Bethmann-Hollweg überein, vom Kaiser seit dem 5.7., aber auch an Bord während der Seereise eher burschikos, von Bethmann eher professionell formuliert:
- die Krise auszunutzen, um die politischen Beziehungen zwischen GB-RUS-FRA eskalieren und möglichst brechen zu lassen.
- den aus d/öu Sicht bestehenden "Schurkenstaat" Serbien - der laut d/öu Quellen außerhalb der zivilisierten Staatenwelt steht - bei der Gelegenheit zu beseitigen
- den lokalen Krieg zur Beseitigung Serbiens einzuleiten
- Russland von jeder Unterstützung Serbiens durch glasklares deutsches "backing" von ÖU abzuhalten
Immerhin wurde so der Blankoscheck "ernstgenommen" und von der Außenpolitik und den deutschen politischen Führungszirkeln "quergezeichnet". Das "nicht-ernst-nehmen" würde ich eher auf Wilhelms Rückzieher vom 27./28.7. beziehen, als wahrscheinlich wurde, dass die Risikopolitik gescheitert ist.