Diese These [Ich denke es war kein Zufall, daß die Industrialisierung im anglikanisch bzw. protestantisch geprägten Raum zuerst durchsetzte] wurde vor allem von Max Weber vertreten, von anderen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern aber nicht geteilt.
Mein Vorschlag wäre, ein wenig abzuschichten:
- Der Begriff "anglikanisch" wird vermutlich nicht benötigt. Der Anglikanismus ist entstanden als ein "Katholizismus in einem Land" (England), der sich dem Papsttum nicht verpflichtet sieht. Gemeint ist vermutlich, wie auch Weber im Askese-Kapitel (Ethik, S. 166) schreibt, "der aus dem Calvinismus hervorgewachsene englische Puritanismus".
- Kapitalismus und Industrialisierung hängen zwar begrifflich zusammen, wirtschaftsgeschichtlich jedoch weniger: Der "Geist des K." entwickelt sich bereits in der Renaissance und, worauf Weber besonderen Wert legt, in der Reformationszeit des 16. Jh.; die I. beginnt erst im England des ausgehenden 18. Jh., und man darf den Vorsprung des "protestantischen" England z. B. vor dem "katholischen" Frankreich nicht zu hoch veranschlagen.
Als
wirtschaftsgeschichtliche Studie, so meint - neben vielen anderen - auch Richard Sennett (Der flexible Mensch, S. 141), steckt Webers Ansatz "voller Irrtümer". Er ist aber wichtig zur
Beschreibung eines Charakterbildes und auch der Entwicklung des Glaubens. In Sennetts Worten kreiiert die Reformation - hier am Beispiel Calvins - folgendes Szenario (S. 140), an dessen Ursprung der Sündenfall steht:
Calvin erklärt in der Institutio, nur Gott wisse, ob eine Seele nach dem Tode gerettet und verdammt sei; wir dürften uns keine Vorwegnahme der göttlichen Vorsehung anmaßen. Von ihrer Sündenlast gebeugt, leben die Menschen somit in permanenter Unsicherheit, sie können nicht wissen, ob ihr Leben zu ewiger Höllenqualen führen wird. Dies ist das unglückliche Los der Protestanten, sie müssen sich ihren moralischen Rang verdienen, können aber niemals zuversichtlich sagen: 'Ich bin gut', nicht einmal: 'Ich habe Gutes getan'; einzig die Aussage 'Ich meine es gut' ist erlaubt. Calvins Gott antwortet: 'Mühe dich stärker. Was immer ist, ist nicht genug.'
Das Resultat: Dem Protestanten wird (ebd.)
statt des Balsams der Rituale [samt Ablaßhandel, wie bis dahin in der vorreformatorischen Katholika üblich] eine bittere Medizin angeboten: unbarmherzige, auf die Zukunft ausgerichtete Arbeit. Die eigene Lebensgeschichte mittels harter Arbeit zu organisieren, kann als kleines Licht in der Dunkelheit dienen, ein 'Zeichen der Gnadenwahl', daß man zu den vor der Hölle Geretteten zählen könnte.
Was, so Weber, der Protestant dem Kapitalisten vererbt, ist der Wille (wieder Sennett, S. 140 f.),
als Akt der Selbstdisziplin und Selbstverleugnung lieber zu sparen als zu genießen. Derselbe Übergang gebar eine neue kulturelle Figur: Es ist der getriebene Mensch, der seinen moralischen Wert durch die Arbeit zu beweisen sucht.