Gandolf
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Die strategische Einschätzung der internationalen Lage stellte sich für die USA in der Zeit im März 1917 dramatisch dar: Das Deutsche Reich hatte Wilsons Vermittlungsbemühungen Ende Januar 1917 zurückgewiesen. Zugleich setzte es mit der Wiederaufnahme des unbeschränkten U-Boot-Krieges zum 1.2.1917 alles auf die Karte eines deutschen Siegfriedens.silesia schrieb:Aus der Rede Wilsons vom 1.4.1917
Woodrow Wilson: War Message
lassen sich möglicherweise auch andere, optimistische Aspekte in Bezug auf Rußland ableiten, als die Furcht vor einem folgenden Zusammenbruch der Alliierten in Europa, zB:
"Does not every American feel that assurance has been added to our hope for the future peace of the world by the wonderful and heartening things that have been happening within the last few weeks in Russia? Russia was known by those who knew it best to have been always in fact democratic at heart, in all the vital habits of her thought, in all the intimate relationships of her people that spoke their natural instinct, their habitual attitude toward life. The autocracy that crowned the summit of her political structure, long as it had stood and terrible as was the reality of its power, was not in fact Russian in origin, character, or purpose; and now it has been shaken off and the great, generous Russian people have been added in all their naive majesty and might to the forces that are fighting for freedom in the world, for justice, and for peace. Here is a fit partner for a League of Honor.
Andere Interpretationen könnten auf die Erwartung einer besseren russischen Unterstützung der Westalliierten ab dem Frühjahr gerichtet sein: die Steigerung der Kriegsfähigkeit ohne den Zaren, sowie Krieg gegen Geld, was sich erst nach der Oktoberrevolution grundsätzlich änderte:
http://www.celtoslavica.de/bibliothe...ion.html#_ftn3
Das überblicke ich aber nicht ansatzweise, um dazu eine Schlußfolgerung zu wagen. Fraglich wäre, wie sich tatsächlich die strategische Einschätzung der USA darstellte, ich würde das auch von politischen Äußerungen trennen, die auf die Mobilisierung der öffentlichen Meinung gerichtet sind.
Am 1.3.1917 wurde in den USA das Zimmermann-Telegramm vom 16.1.1917 veröffentlicht. Es enthielt das Bündnisangebot Deutschlands an Mexiko und versprach New Mexico, Texas und Arizona als Kriegsbeute. Die Briten haben das Telegramm abgefangen und erst am 24.2.1917 an Wilson weitergeleitet. Das Telegramm wirkte wie eine Kriegserklärung an die USA. Es schien im März 1917 auch seine Wirkung auf Mittelamerika nicht zu verfehlen. Aus Mexiko wurden antiamerikanische Ausschreitungen gemeldet und die Regierungen von Guatemala und El Salvador wandten sich gegen die USA (vgl. Johannes Reiling, Deutschland: Safe for democracy?, 1997, S. 297 f.).
Der von Deutschen erhoffte Sieg über GB und F schien sich im März 1917 auch einzustellen. Die Moral der alliierten Truppen ließ nach. Es kam zu Meutereien. Nach der Wiederaufnahme des U-Boot-Krieges zum 1.2.1017 stiegen im März 1917 die Versenkungszahlen deutlich an. Am 18.3.1917 wurden drei unbewaffnete amerikanische Handelsschiffe versenkt, zwei davon ohne vorherige Warnung. Wilsons Politik der bewaffneten Neutralität schien nun nicht mehr für einen Sieg der Alliierten auszureichen.
Drei Tage vorher (15.3.1917) dankte der Zar ab. Der Einwand, durch einen Kriegseintritt ein noch schlimmeres als das deutsche autokratische System zu erhalten, galt nun nicht mehr. Die Revolution machte die Koalition der Demokratien perfekt. Sie gab der amerikanischen Interventionspolitik den Rückhalt in der Bevölkerung und im Kongress. Das Kabinett empfahl Wilson am 20.3.1917 einstimmig den Kriegseintritt.
So kam es dann am 2.4.1917 (nicht am 1.4.1917) zu der von Dir zitierten „War Message“ von Wilson. In dieser Rede nannte Wilson als Kriegsgrund den unbeschränkten U-Bootkrieg und den (ideologischen) Anspruch der USA, die Welt sicher für die Demokratie zu machen („The world ... must be saved for democracy“). Letzteres galt für Frankreich und England und nun auch für Russland - trotz aller idealistischen Hoffnungen in die Belebung der russischen Kampfmoral durch den Wandel von der Autokratie zur Demokratie.
Es trifft zu, dass Lansing schon in der Anfangsphase des 1. WK 1914/15 ein negatives Deutschlandbild entwickelte. Er war Völkerrechtler mit Leib und Seele. Seit 1892 beriet er die US-Regierung in Völkerrechtsfragen. Die Zeitschrift „The American Journal of International Law“ wurde 1907 von ihm gegründet. Die massiven Völkerrechtsverletzungen des Deutschen Reiches zu Beginn des Weltkrieges (Einmarsch in Belgien und Kriegsverbrechen an der belgischen Zivilbevölkerung) machten einen denkbar schlechten und dauerhaft prägenden Eindruck auf Lansing, der seit März 1914 stellvertretender Außenminister war.silesia schrieb:Lansing ist tatsächlich eine schillernde Quelle:
Soviel hat sich nicht geändert. Die Position Lansings beinhaltet nach meinem Eindruck kaum eine Gefahrenanalyse bezüglich der russischen Position, weswegen die Kombination der Ereignisse in 1917 mit Lansings Zitat von 1917 mE fragwürdig ist. Die Position wurde wie dargestellt schon früher von Lansing vertreten, der im übrigen ohnehin der anglophilen Fraktion in der Regierung zugerechnet wurde.
Dieses negative Deutschlandbild verdunkelte sich nochmals in den Kontroversen um die Neutralität der US-Außenpolitik 1914/15. Lansing hielt die kaiserlichdeutsche Regierung letztlich nicht für fähig, sich einer Herrschaft des Völkerrechts unterzuordnen. Im Rahmen des U-Bootkrieges 1915 trat er für einen Kurs der Härte gegenüber dem Deutschen Reich als seiner Meinung nach einzig richtigen Umgang mit dieser Autokratie ein. Das Reich sollte das Seekriegsrecht einhalten oder es zum Bruch hierüber kommen lassen und Lansing wiederum hielt letzteres für wahrscheinlicher. Als Lansing nach der Kontroverse um die Lusitania am 23.6.1915 amerikanischer Außenminister wurde, hatte er sein ideologisches Bild, dass die Autokratie Recht und Demokratie bedroht, bereits vollausgebildet.
Wilson versuchte zu diesem Zeitpunkt noch vermittelnd Einfluss auf das Kriegsgeschehen und die Zukunft Europas zu nehmen. Für Lansing war Wilsons Scheitern 1917 ein weiteres Indiz dafür, dass seine eigene Auffassung richtig war. Die Wiederaufnahme des unbegrenzten U-Bootkrieges und das die USA direkt bedrohende Zimmermann-Telegramm wirkten wie der Vollbeweis für seine Sichtweise. Auch wenn er bereits früher dieser Auffassung war und es gedauert hat, bis ihm Wilson und das Kabinett folgte, die USA traten aus seiner Sicht – sicherlich endlich! - zur Verhinderung der deutschen Hegemonie und zur Abwehr der hierdurch für die USA entstehenden Gefahren in den Krieg ein. Insoweit gibt sein Tagebucheintrag vom 7.4.1917 das machtpolitische Motiv für den Kriegseintritt der USA im April 1917 frei.
Es trifft zu, dass die Vergabe von Krediten amerikanischer Privatbanken an die Alliierten messbar ist. Aber was soll aus den so gewonnenen Messdaten für den amerikanischen Kriegseintritt 1917 folgen? Die Bedeutung, die die Kreditpraxis für den Kriegseintritt gehabt haben soll, ergibt sich nicht automatisch aus dem Kreditvolumen sondern wäre erst noch anhand von Quellen (Reden, Gesprächsaufzeichnungen, Briefe, etc.) zu belegen, aus denen sich dann ergeben müsste, dass sich Wilson und der Kongress für den Kriegseintritt (auch oder vor allem) des Geldes wegen entschieden hätten. Solche Quellen wurden bislang nicht genannt. Kennst Du denn welche?silesia schrieb:Beides läßt sich mE nicht voreinander trennen, ökonomische Motive sind ein starkes Kriterium machtpolitischer Abwägungen, vielleicht manchmal das stärkste. Der Bereich hat den Vorzug, meßbar zu sein, was ihn von vielen weichen Faktoren und Behauptungen über sonstige politische Ziele unterscheidet.
Lansing ist ein Beleg dafür, dass der amerikanische Kriegseintritt ganz im Zeichen der Machtpolitik und der Ideologie stand, nicht aber im Zeichen der Ökonomie.