@Pamina20
dazu müsste man wissen, was mit dem Zerfall der Familie gemeint ist.
Etwa die Tatsache, dass seit 1780 z.B. in Frankreich, aber wohl nicht nur dort Tausende von Kindern (durchaus auch aus ärmeren Familien) zu Ammen auf das Land gekarrt wurden, weil die Mütter keine Zeit hatten, die Babys selbst zu säugen bzw. weil sie arbeiten mussten. Ammen sprangen also durchaus nicht nur für den Adel ein.
Aufzeichnungen des Polizeipräfekten Lenoir, 1780 Paris:
"- 21 000 Geburten, davon 1000 Kinder von den eigenen Müttern gestillt, 1000 von Hausammen, 19000 von Ammen, die auf dem Land zumeist als Bäuerinnen lebten –."
Der Transport der Kinder aufs Land glich Viehtransporten, dicht an dicht in Körben wurden die Kinder auf offenen Karren oder in Sattelkörben auf dem Rücken von Eseln durch die Gegend geschüttelt.
Oder meint man mit dem Zerfall der Familien, dass abertausende Väter, Mütter und Kinder in Bergwerken, Fabriken, ja sogar Ton-Werkstätten oft 10, 12 Stunden und noch länger arbeiten mussten, sich also kaum zu Gesicht bekamen? Sie kamen abends/nachts nach Hause um erschöpft aufs Bettlager zu fallen und am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe auszustehen. Mehr war nicht an Leben, oder kaum.
Oder ist damit die Tatsache gemeint, dass die Armut viele Landbewohner in die Städte, ja sogar ins Ausland trieb, wo sie hofften Arbeit zu finden, wodurch sie von den Familien getrennt wurden, was also langsam zur Auflösung der Großfamilien führte?
Alle 3 genannten Punkte kann man als Zerfall der Familien bezeichnen.
Rosenbaums Studie geht in aller Ausführlichkeit auf unterschiedliche Formen der Familie im 19. Jahrhundert ein. Zu deinem Vortrag vielleicht noch ein Tipp zur didaktischen Aufarbeitung des Themas:
Zunächst einmal solltest du charakteristische Formen der Familie im bäuerlichen Millieu, im Bürgertum und in der Arbeiterschaft herausarbeiten. Was verstand man im 18. und 19. Jahrhundert unter Familie? Wer gehörte zur Familie und wer hatte das sagen?
Welche Änderungen des Familienlebens brachte die Französische Revolution, die industrielle Revolution (und nicht zuletzt auch die sexuelle Revolution) mit sich?
Schließlich stellt sich die Frage, ob und inwiefern tatsächlich ein "Verfall" der (patriarchialischen) Großfamilie einsetzte oder ob es sich dabei nicht vielmehr um Wertungen handelt, die mehr über den Standpunkt derjenigen aussagen, die einen Verfall der Familie konstatieren.
Es gibt durchaus eine gewisse Kontinuität einer rückwärtsgewandten Glorifizierung patriarchalischer Vorstellungen.
So wurde bereits im 19. Jhd ein Verfall der Familie, vor allem bei der Arbeiterschaft konstatiert und die heile bäuerliche Großfamilie glorifiziert, obwohl diese so, wie sich das manche Autoren vorstellten, nie existierte. Charakteristisch an solchen Vorstellungen war die Ablehnung der Veränderungen durch die Französische und die industrielle Revolution und die Propagierung patriarchalischer Familienformen. Das geschah nicht zuletzt auch durch die Nationalsozialisten, die eine Familienpolitik propagierten, die total rückwärtsgewandt war und die Ablehnung der Emanzipationsbestrebungen seit Ende des 1. Weltkriegs beinhaltete. Die Realität des Krieges und die Tatsache, das Frauen ihren Mann stehen mussten, ließen solche Konzepte zur Absurdität werden, doch mit der Restauration der Adenauerzeit wurde erneut der drohende Verfall der Familie konstatiert und Frauen in die Welt von "Kirche, Küche und Kinderzimmer" verbannt. Das änderte sich erst mit der 68er Bewegung, doch im Vergleich mit anderen europäischen Ländern ist die unterschiedliche Wahrnehmung noch heute spürbar:
So gehen die meisten französischen Mütter arbeiten, während in der BRD noch heute berufstätige Frauen als Rabenmütter diffamiert werden oder "Schlüsselkinder" bedauert werden.
Der "Verfall der Familie" sollte daher immer auch mit einem Fragezeichen versehen werden, denn häufig geht es nicht nur um Veränderungen traditioneller Familienformen (etwa von der Groß- zur Patchworkfamilie, sondern auch darum, wie diese wahrgenommen werden.