Hat das denn möglicherweiser so viel Aufmerksamkeit absorbiert, das man den bedeutenden Vorgängen auf dem alten Kontinent nicht genügend Aufmerksamkeit schenkte?
Parallel liefen noch unter Bismarck Bündnissondierungen und Gespräche über die Bereinigungen der beiderseitigen Kolonialinteressen in Afrika. Ein "Ausspielen" dieser Karte durch GB auch nach Nichtverlängerung 1890 ist nicht ersichtlich (was man doch erwarten dürfte), auch wenn
ex post in der britischen Literatur von einem Druck auf die Wilhelmstraße zu einem Agreement mit GB ausgegangen wird (Sanderson: England, Europe and the Upper Nile, S. 59).
England sah sich 1889 in komfortabler Lage, was das Mittelmeer anging: durch die beiden Abkommen mit Österreich und Italien, denen später Spanien beitrat, war Rußland zunächst der Zugang via dardanellen ohne Kriegsgefahr und einigermaßen sicher versperrt.
http://books.google.com/books?id=Z5...nepage&q=mediterranean agreement 1887&f=false
Außerdem erhielt man in London mehrfach Post von Bismarcks Bündnissondierungen, deren größtes Problem für Salisbury wohl die isolationistischen Widerstände in der eigenen Regierung waren. Nach britischen Analysen bedurfte man aber mittelfristig der deutschen Hilfe, um Rußland zu binden, da es global für GB mittlerweile zu viele kritische Baustellen gab.
In dieser Phase ging man an die afrikanischen Absprachen (dann mündend in das Helgoland-Sansibar-Abkommen), für das die britische Regierung recht viel erhielt bzw. verhinderte:
- Deutschland bekam keinen vernünftigen Hafen an der westafrikanischen Küste
- Sansibar blockierte zukünftig die ostafrikanische Küste für deutsche Marineambitionen
- der Upper Nile (nach britischer Lesart: Zugang nach Ägypten/Suez, ebenso wichtig wie das Mittelmeer) erschien nunmehr gegen das Deutsche Reich gesichert, und man hatte (nur) noch mit dem französischen Vordringen in der Region zu tun.
Trotzdem wurde man für das Abkommen in London arg gescholten, und der Vertrag wurde natürlich mit dem forcierten Marine-Wettrüsten in der Nordsee, später erneut als Kritik an Salisbury unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges ausgegraben (Bedeutung Helgolands).
1889/90 deutete aber alles auf eine Annäherung GB/DR hin, mit Klärung einiger der unangenehmen Gebietsfragen in Afrika.
Wenn man wild spekulieren will: vielleicht hätte Bismarck seinem speziellen Brieffreund und "Bewunderer" Salisbury sogar die Nichtverlängerung auf dem Silbertablett präsentiert,
[*] um dessen offiziellen Widerstand (intern einigte man sich ja über manche Fragen) zu brechen:
Splendid isolation ? Wikipedia
Die russische Aufgeregtheit nach dem Helgoland-Sansibar-Vertrag hätte er bestimmt antizipiert. Der hierdurch ausgelöste weitere Schub in der frz.-russ. Annäherung (es gab wohl einige aufgeregte Nachfragen in Berlin) wäre ein entsprechender Kuhhandel mit London glatt wert gewesen: wenn schon ein Bruch, dann gleich in die Vollen und die Pferde richtig wechseln. Auch dafür gab es aber in Berlin Bedenkenträger, wenn man sich die ähnliche Situation 1899/1902 an der Frage deutlich macht: was nutzen britische Schlachtschiffe gegen russische Armeekorps in Ostpreußen? :devil:
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EDIT und [*]
Um die Spekulation etwas zu erläutern: der Schwenk Bismarcks vom Kissinger Diktat (britisch-russischer Gegensatz als Konstante der Weltpolitik) zum
http://en.wikipedia.org/wiki/Panjdeh_Incident ist schon bemerkenswert:
einigten sich diese beiden Mächte - und das vor dem Hintergrund der Pendjehkrise -,
so könnten sie sich "jederzeit nach Bedürfnis durch Frankreich ... verstärken, wenn die russisch-englische Politik durch Deutschland Widerstand fände; es wäre die Basis für eine Koalition gegen uns gegeben, wie sie gefährlicher Deutschland nicht gegenübertreten kann."
Bemerkenswert ist dabei nicht die von Bismarck falsch prognostizierte Reihenfolge, sondern das Szenario, welches Bismarck hier aufgrund
potenzieller deutscher Aktivitäten entwickelt, die evt. gegen die beiden
bereits geeinten Mächte gerichtet sein würden. [Elzer, Bismarcks Bündnispolitik von 1887 - Erfolg und Grenzen einer europäischen Friedensordnung, 1991]