Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland

Das habe ich mich auch schon gefragt.
Denn wenn ein solcher Import alternativlos gewesen sein sollte, dann hätten die Einfuhrzölle ja eher den Charakter einer Besteuerung der Abnehmer im eigenen Land.
Naja, in den polnischsprachigen Teilen des russischen Imperiums.
Es ist aber angesichts der Probleme, die Russland mit den aufmüpfigen Polen hatte ganz gut denkbar, dass es St. Petersburg eigentlich ganz recht war, wenn die Subventionierung der kernrussischen und südrussischen Industrie gleichzeitig mit einem Ausbremsen des wirtschaftlichen Fortschritts an der polnischen Peripherie verbunden war.

Immerhin, der letzte größere polnische Aufstand 1863/1864 war nocht nicht allzu lange her und hatte ja doch für den Zeitraum von mehr als einem Jahr für mächtig Probleme gesorgt.
Und die erst 1867 vollzogene Annexion Kongresspolens, die administrative Zerschlagung und Aufteilung in verschiedene Provinzen und der Beginn, der wirklich extrem repressiven antipolnischen Politik, hatten ja in der jüngeren Vergangenheit einige Dinge geändert.

Erstmal war mit der Annexion Kongresspolens eine wirtschaftliche Binnengrenze des russischen Machtbereichs entfallen.
So lange das Königreich Polen, (bwz. Kongresspolen) als eigenständige von Russland de jure unabhängige Verwaltungseinheit existierte, die zwar vom Zaren als König in Personalunion mit Russland regiert wurde, aber die nicht in diesem Sinne Teil des gesamtrussischen Wirtschaftsraums war, stellte die einigermaßen entwicklete polnische Industrie vor allem um Warschau und Lodz keine problematische Konkurrenz für die beginnende innerrussische Industrie dar, weil sich administrativ über Einfuhrbestimungen von russischer Seite gegenüber Kongresspolen die möglichen Absatzmengen in Russland drosseln ließen.
Das fiel mit der Annexion natürlich weg und damit befanden sich die sich langsam entwickelnden Betriebe im russischen Kernland, jedenfalls was Absatzgebite in Litauen, Ostpolen, Weißrussland und der Westukraine angeht auf einmal in direkter Konkurrenz mit den zum Teil weiter entwickelten polnischen Betrieben, die sich nicht mehr administrativ per Einfuhrbeschränkungen drosseln ließ.
Durchaus denkbar, dass St. Petersburg es durchaus nicht ungerne sah, wenn über die Einfuhren die wirtschaftlichen Lasten für die Subventionierung der russischen Industrie auf die Polnische abgewälzt wurden, denn das dürfte mit den Effekt gehabt haben, die wirtschaftlich Expansion der polnischen Industrie in die Gebiete östlich der Grenzen des annektierten Kongresspolens einzudämmen und der kernrussischen Industrie die Erschließung dieser Gebiete zu ermöglichen.

In innenpolitischer wie strategischer Hinsicht, hätte das wohl auch Sinn gemacht:

1. Ein unzufriedenes und gleichzeitig reiches Polen innerhalb des russischen Reichsverbandes musste natürlich problematischer sein, als wenn sich die Niveaus einigermaßen anglichen. Je größer der Unterschied der wirtschaftlichen Entwicklung war, desto mehr musste man in Polen natürlich den Eindruck haben, durch ständigen Abfluss finanzieller Mittel auch noch die Kosten für die eigene Unterdrückung auferlegt zu bekommen und dauerhafte Melkkuh für das wirtschaftlich eher schlechtentwickelte Imperium zu sein.

2. Je reicher die polnischen Magnaten und Industriellen waren, desto mehr waren sie natürlich in der Lage im In- und Ausland polnisch-nationale Propaganda und Agitation zu finanzieren und im Fall eines weiteren Aufstands hätte ein wohlhabendes Polen es natürlich wesentlich leichter gehabt für die Aufständischen Waffen zu beschaffen und es den Russen um so schwerer zu machen, die Lage wieder in den Griff zu kriegen.

3. Aus militärgeographischen Überlegungen heraus war es natürlich suboptimal, dass sich ein Großteil der russischen Industrie in den westlichen/polnischen Grenzgebieten befand.
Inwzischen war ja bereits der Zweibund entstanden entstanden und damit bestand im Kriegsfall mit dem deutsch-österreichischen Bündnisblock natürlich auch die Gefahr, dass russisch-Polen möglicherweise erst einmal Kampfgebiet, im schlimmsten Fall sogar von zwei Seiten überrannt hätte werden können.
Strategisch wäre es für Russland also auch von Vorteil gewesen, wenn sich die industriellen Kapazitäten etwas weiter nach Osten verlagerten um der Gefahr im Kriegsfall möglicherweise direkt in den ersten Wochen einen Großteil der entwickelten Industrie zu verlieren, etwas vorzubauen.


Was hatte Russland überhaupt an Industrie im fraglichen Zeitraum?
Im kernrussischen Bereich noch nicht allzu viel.

Etwas Montanwirtschaft, vor allem Kohlegewinnung um Sosnowiec in russisch Polen herum, dazu eine einigermaßen leistungsfähige Textil und zum Teil wohl auch Metallwarenindustrie, vor allem um Warschau und Lodz herum.

Ansonsten Montanwirtschaft vor allem im Bereich der heutigen Ostukraine (Doneztk-Becken/Donbass), und ein Bisschen was, vor allem an verarbeitenden Betrieben um die Metropolen St. Petersburg (z.B. die Putilow-Werke, die hier mit der Produktion von Eisenbahn- und Militärbedarf im größeren Stil anfingen) und Moskau herum.

Daneben wird man man in den waldreichen Gebieten Nord- und Zentralrusslands und im Baltikum sicherlich einiges an holzverabreitenden Betrieben gehabt haben und in den landwirtschaftlich dominierten Regionen sicherlich beginnende industrielle Verarbeitung von Lebensmitteln (vor allem Konserven und Branntweinherstellung), wobei ich hier nicht gut einschätzen kann, was man davon tatsächlich bereits als entwickelte Industrie und was eher als protoindustrielle Betriebe betrachten kann.
Richtig los geht es mit der Industrialisierung in Russland eigentlich erst in den letzten 30-40 Jahren vor dem 1. Weltkrieg.


Das wiederrum wäre eine Erklärung für die nachlassenden Exportmöglichkeiten von deutscher Seite ab den späten 1870er Jahren wenn man davon ausgeht, dass gerade im Infrastrukturbereich, vor allem bei der Eisenbahn mittlerweile in jüngerer Zeit einheimische Unternehmen hochgekommen waren, oder hochkamen, die jetzt größere Aufträge übernehmen konnten, für die früher importiert werden musste.

Sehr gut möglich, dass für die wegbrechenden Marktanteile der deutschen Industrie in Russland zum Teil auch der Umstand maßgeblich ist, dass es mittlerweile immerhin russische Betriebe gab, die man mit Staatsaufträgen subventionieren konnte, während man vorher in Ermangelung eigenen Angebots im Ausland kaufen musste und damit auch die staatlichen Ausschreibungen an die ausländischen Lieferanten gingen.

Strategisch hätte es gerade im Bereich des Bahnbaus durchaus Sinn ergeben, mehr zur Subventionierung der eigenen Industrie überzugehen, selbst wenn das am Anfang eher defizite verursachte und teurer war, als im Ausland einzukaufen, einfach weil der gewaltige Materialbedraf der Eisenbahn ziemlich irre Multiplikatoreffekte, vor allem für den Bereich des Bergbauwesens und die Herstellung von Massenstahl bzw. dessen Verarbeitung haben konnte.
Damit subventionierten man ja nicht nur die Betriebe, die das Endprodukt lieferten, sondern daneben auch die Zulieferindustrien und das mitunter über einen Zeitraum von Jahrzehnten, denn der Aufbau eines entsprechenden Bahnnetzes kostet natürlich, was wiederrum den involvierten Unternehmen lange Sicherheiten gibt und Profite garantiert, die in Modernisierung und quantitative Expansion reinvestiert werden können.
Von dem her machte im Besonderen in diesem Bereich eine zunehmende Präferenz die Aufträge im Inland zu halten durchaus Sinn und das ging neben Einfuhrzöllen natürlich auch über die driekte Vergab von Staatsaufträgen an einheimische Firmen.


Deswegen wäre ich wie gesagt vorsichtig damit, den gesamten Effekt der Verschiebung von Marktanteilen der Zollpolitik zuzuschreiben.
Wahrscheinlich wären allein auf Grund der Politik der Vergabe von staatlichen Großaufträgen zunehmend an einheimische Unternehmen um diese zu pushen die deutschen Marktanteile auch ohne Zollkrieg wegen der russischen Agrargüter deutlich zurückgegangen, zumal eine solche Subventionspolitik nichts ungewöhnliches gewesen wäre, dass kannte man in den deutschen Staaten und anderswo durchaus auch.
 
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Als die Nürnberger 1835 den Stevenson-Dampfwagen aus England importierten erreichten sie die Streichung des Einfuhrzolls mit dem Argument des Know-How-Erwerbs.
Der Unterschied ist, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Industrie noch so weit in den Kinderschuhen steckte, dass die geringen Produktionskapazitäten die Nachfragepotentiale überhaupt nicht auslasten konnten.

Deswegen war es in den deutschsprachigen Gebieten möglich eine aktive Industrialisierung und eine eher liberale Handelspolitik, die sich in Richtung Freihandel orientierte miteinander erfolgreich zu kombinieren.
So lange die Überschüsse, die die einigermaßen entwickelten Industrien Englands und Belgiens lieferten so bescheiden blieben, dass damit Marktsättigung nicht zu erreichen war, konnte man natürlich die Handelsbarrieren zurücknehmen um Technologietransfers zu erleichtern und es blieben für die eigenen noch wesentlich ineffizienteren, im Aufbau befindlichen Industrien trotzdem noch genügend Marktanteile übrig um zu wachsen und konkurrenzfähig zu werden.

In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts sieht es aber natürlich vollkommen anders aus, da ist die Industrialisierung in ganz West- und Zentraleuropa (iberische Halbinsel vielleicht ausgenommen) angekommen und man hat deutlich mehr Produzenten von Überschüssen, die Absatzgebiete für ihre Industrien suchen.
Da waren dann schon wesentlich eher die Kapazitäten gegeben Nachfragepotentiale sämtlich auszufüllen und darüber mal zumindest oligopolistische Strukturen mit entsprechender Marktmacht zu entwickeln, die neu entstehender Konkurrenz nur noch wenig natürliche Nieschen zur eigenen Entwicklung ließ und eher eine Tendez haben musste, diese abzuwürgen.

Darin dürfte einer der Gründe zu sehen sein, warum die Industrialisierung in Deutschland und Russland sehr unterschiedlich lief und warum man in Deutschland, als es damit losging eher auf Freihandel setzte und seine Märkte öffnete, in Russland dagegen auf Protektionismus und tendenzielle erhöhung der wirtschaftlichen Barrieren.
Bedenkt man die gesamteuropäischen Produktionskapazitäten und deren Entwicklung machten beide Wege Sinn.
 
Das habe ich mich auch schon gefragt.
Denn wenn ein solcher Import alternativlos gewesen sein sollte, dann hätten die Einfuhrzölle ja eher den Charakter einer Besteuerung der Abnehmer im eigenen Land.

@Turgot
Ich habe etwas gestutzt, denn wenn eine Steigerung der Zölle um das Fünffache nur zu einem Rückgang um ein Drittel führte, könnte dieser Aspekt im Vordergrund stehen.

Mir fallen da zwei Dinge ein:
Als die Nürnberger 1835 den Stevenson-Dampfwagen aus England importierten erreichten sie die Streichung des Einfuhrzolls mit dem Argument des Know-How-Erwerbs.
Die Griechen hatten in den 70ern, und auch später, sehr hohe Steuern auf den Erwerb von Autos. Und weil sie keine eigene Autoindustrie hatten waren das in der Wirkung Einfuhrzölle.
Aber das war jetzt Smalltalk.

Was hatte Russland überhaupt an Industrie im fraglichen Zeitraum?

Also, ich bin nicht der Russlandexperte. @thanepower wüßte hier sicher einiges zu erzählen.

Das Ausmaß der Rückständigkeit war beträchtlich. Beispielsweise fällt mir die Textil- und Eisenindustrie ein. Die Textilindustrie war der in Russland am weitesten entwickelte Industriezweig und zwar nicht zuletzt aufgrund der leistungsfähigen und modernen polnischen Textilindustrie mit ihrem Zentrum in Lodz.

Die Entwicklung des Bergbau wurde ganz erheblich durch mangelhafte Infrastruktur behindert. Zentrum der Eisenindustrie war der Ural, die aber ins Schlingen durch die Aufhebung der Leibeigenschaft gekommen war und mangels Kapital, wegen technischer Schwierigkeiten bei der Ausbeutung der Kohlelager und mangels Transportverbindungen zum Donezbecken bei der Verhüttung weiterhin auf primitive Verfahren wie die Verhüttung im Frischprozeß unter Verwendung von Holzkohle angewiesen war.

Schon beim Ausbau des Eisenbahnnetzes gab es Schwierigkeiten; Mangel an technischen Know-how und eben das private Kapital, dann die enorm hohen Baukosten, die immer wieder über die kalkulierten lagen und die lange Dauer der Bauzeiten Der Eisenbahnbau kam voran, da ausländische kapital ins Land strömte, da Russland entsprechenden finanziellen Anreize anbot. Die Kehrseite war, das die Bahnen schlecht gebaut und schlecht erhalten und schlecht verwaltet wurden. Russland garantierte und gewährte alles. Das Problem mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes war die zunehmende Inanspruchnahme der Finanzwirtschaft, die bekanntermaßen immer klamm war. Bis zum Jahresanfang 1874 hatten 50 Eisenbahngesellschaften nur 10 ihrer Linien ohne staatliche Unterstützung gebaut.

Ein einheimischer Kapitalmarkt bildete sich nur sehr langsam; hier war man auf Berlin angewiesen.
 
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Der Höhepunkt der protektionistischen Zollpolitik war de Tarif von 1887/90.
Er belastete die Einfuhr im Schnitt mit einem Drittel des Warenwerts und war bei einiges Importgütern von geradezu prohibitiver Wirkung. So übertraf der neue Roheisenzoll nicht nur den englischen Marktpreis , sondern auch die Selbstkosten, die den jungen russischen Eisenhütten damals entstanden. Die Zollmauern, hinter denen die russische Schwerindustrie aufwachsen sollte, wurden nahezu umdringlich gemacht. Das sich der Schutz vor fremder Konkurrenz, die Eisenerzeugung und den Maschinenbau konzentrieren sollte, hatte der eigentlich Initiator Professor Mendeleev unmissverständlich dargetan.
 
@hatl
Ich war und bin ebenfalls vielfach bemüht und so fand ich dann doch nach einer Zeit des Suchens dann die folgenden, nicht uninteressanten Informationen.

Ich habe hier ein paar Daten, was an deutschen Export nach Russland (Mark) gelaufen war:

1880 1884
Eisenbahnschienen 3,45 Millionen, 0,080 Millionen
Eisendraht 5,469 Millionen, 0,184 Millionen
Lokomotiven 4,245 Millionen, 0,840 Millionen
Maschinen aller Art 12,458 Millionen, 7,398 Millionen
Ambosse und Schraubstöcke 1,093 Millionen. 0,292 Millionen

Die Tabelle sollte etwas "hübscher" aussehen, aber die Forensoftware will nicht so wie ich will.

Ende 1885 und Anfang 1886 wurden in Russland erneut energische Forderungen nach weiteren Zollerhöhungen laut.
Auf Veranlassung der Gesellschaft zur Förderung von Industrie und Handel trat mit Einwilligung des Zaren und unter Leitung des Dömänenministeriums im November 1885 in Petersburg ein Kongress russischer Eisenindustrieller zusammen, an dem Vertreter der Schwerindustrie, der Börsenkomitees, der Russischen technischen Gesellschaft sowie der wichtigsten Ministerien teilnahmen.

Im Mittelpunkt der Beratung stand die Lage der zentralrussischen Eisenindustrie, deren Absatzschwierigkeiten nicht immer nur mit der Rückständigkeit begründet wurden, sonder vielmehr mit der ausländischen Konkurrenz und mit der Rivalität der polnischen Hüttenwerke, welche mit wesentlich moderneren Methoden als die Schwerindustrie des Uralgebietes arbeiteten.

Die Mehrheit des Kongresses setzte sich dafür ein, das im Laufe von sieben Jahren eine jährlich Herabsetzung der Importquote für Roheisen um 1,5 Millionen Bud zu einem sukzessiven Roheisenverbot führen werde und das die Zölle für Eisen zu erhöhen seien. Des Weiteren wurde auch ein Einfuhrverbot für Schiffe verlangt und es wurde sich gegen Auftragserteilungen der Armee und Marine im Ausland.

Der Leiter des Domänenministeriuns Ostrovskik erklärte sich mit den Forderungen auf Erhöhung der Eisenzölle einverstanden und bemühte sich schnellstens den Reichsrat den entsprechenden Antrag zuzuleiten.
 
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