Meine Frage, ob das eine das andere nach sich zieht, war so nicht gemeint.
Sie war so gemeint, ob nicht der Glaube daran, dass die Götter für die Naturphänomene verantwortlich seien, letztendlich auch den Glauben daran nach sich zog, dass die Götter die Macht hatten, diesen oder jenen Einfluss auf's Schicksal zu nehmen oder, wie du es ausdrückst, die Erfüllung eines Wunsches zu gewähren - was sich vielleicht im Laufe der Jahrhundert verselbständigte.
Da kommen wir in den Bereich des Spekulativen. Über die Anfänge des Polytheismus, ja der Religionen generell, wissen wir im Grunde genommen nichts. Dass die Götter zuerst nur die personifizierten Naturgewalten waren und erst später auch für andere Bereiche zuständig wurden, kann nur eine Hypothese sein. Falls es stimmt, dass es so etwas wie ein "Gott-Gen" gibt (was mW umstritten ist), also eine genetische Veranlagung für Religiosität, könnte auch von Anfang an die Tendenz bestanden haben, irgendwelche höheren Wesen für alles Mögliche verantwortlich zu machen. Die (freilich stets hochspekulative) Interpretation diverser Höhenmalereien legt auch nahe, dass man schon damals die Zuständigkeit für den Jagderfolg in den transzendentalen Bereich verschoben haben könnte.
Die Götter wurden nicht für Naturerscheinungen "verantwortlich" gemacht, sondern in ihnen manifestierten sie sich.
So definitiv können wir das mangels Quellen aus dieser frühen Phase gar nicht wissen.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Menschenopfer in dem Maße abnahmen, wie eine Gesellschaft zivilisatorisch und naturwissenschaftlich voranschritt und zu irgendeinem Zeitpunkt das Menschenofer als barbarisch verwarf.
"Zivilisatorisch" grundsätzlich okay, wenngleich ich Reineckes Einwand für richtig halte, dass Menschenopfer anscheinend überhaupt erst im Zuge des zivilisatorischen Fortschritts aufgekommen sind.
Aber den Zusammenhang mit den Naturwissenschaften sehe ich immer noch nicht. Wenn man nicht mehr glaubt, dass ein Gott für Regen verantwortlich ist (bzw. fallweise sein kann), wieso sollte man ihm dann überhaupt noch opfern?
Ich verweise auch auf spätere Jahrhunderte und die christliche Zeit: Trotz aller Fortschritte in den Wissenschaften gab es bis in die Neuzeit und die Gegenwart hinein Gelübde für alles Mögliche. Auch wenn im 17. Jhdt. schon diverse natürliche Ursachen für die Pest angenommen wurden, wurden trotzdem noch Gelübde für die Beendigung der Pestepidemien gemacht und als Dank für die Beendigung Pestsäulen errichtet. Das zeigt doch sehr schön, dass das Wissen über natürliche Ursachen und göttliches Eingreifen keine Gegensätze sein müssen. Und auch heute noch wird z. B. um die Genesung von einer schweren Krankheit gebetet, obwohl bekannt ist, dass sie nicht durch Gott, sondern durch irgendwelche Krankheitserreger ausgelöst wurde und man sie auch mit Medikamenten behandelt.
Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass fortgeschrittene Gesellschaften zu einer Entmystifizierung und Säkularisierung neigten, in deren Verlauf Menschenopfer zu irgendeiem Zeitpunkt als barbarisch empfunden wurden, aus der Mode kamen oder gesetzlich verboten wurden.
Allmählich setzte sich die Überzeugung durch, dass die Götter keine Menschenopfer verlangen würden. Das würde ich allerdings - gerade bei den Römern - nicht einmal direkt mit dem "zivilisatorischen Fortschritt" in Zusammenhang bringen. Die Römer hatten schließlich auch kein Problem damit, haufenweise Menschen zum Vergnügen der Massen in der Arena sterben zu lassen. Die gelegentliche Tötung eines Menschen aus religiösen Motiven ist da wohl allemal noch "edler".
Was das alles allerdings mit "Entmystifizierung" und "Säkularisisierung" zu tun haben soll, erschließt sich mir immer noch nicht. Die Opferung eines Stiers ist - zumindest nach heutigem Verständnis - weniger grausam als die eines Menschen, aber sie ist nichts grundsätzlich anderes: In beiden Fällen wird ein lebendes Wesen (das obendrein einen wirtschaftlichen Wert darstellte - nicht nur bei einem Tieropfer, sondern auch bei der Opferung eines Sklaven oder eines eine Arbeitskraft darstellenden Familienangehörigen) getötet, um damit das Wohlwollen eines Gottes zu erlangen.