Bitte um Nachsicht für das OT im Sinne des Threadtitels - aber die Frage wird wohl in diesem Leben ohnehin nicht mehr gelöst werden. Vorweg: Ich bin in den Themen Rom und Kalkriese nicht mehr als ein interessierter Laie, der wegen völliger Lateinahnungslosigkeit keinen Zugang zu den noch erhaltenen Quellen hat. In erster Linie habe ich einige - weitgehend offene Fragen - sprich, ich habe einige Thesen, von denen ich aber nicht weiß, ob diese anhand des Forschungsstandes seriös diskutiert werden können.
Zunächst aber meine einzige nicht ganz offene Frage. Diese steht in dem Zusammenhang, was denn nun in Kalkriese gewesen sein kann:
Wenn ich nun annehme, dass der Wall in Kalkriese a) von Germanen und b) im Jahr 9 n. Chr. zielgerichtet angelegt worden ist, so dürfte es doch eher unwahrscheinlich sein, dass der damit verbundene Aufwand getrieben wurde, um einen kleinen Truppenteil oder eine nur mit schwacher Bedeckung dahintrödelnde Nachschubkolonne o. ä. zu überfallen. Das "Ziel" müsste demnach doch ein Verband gewesen sein, der a) eine gewisse Größe (die den Aufwand der Arbeiten rechtfertigte), b) einen entsprechenden materiellen, politischen oder moralischen Wert, sowie c) eine gewisse Wehrhaftigkeit besass, die eben jenen Aufwand zur Errichtung des Walls als notwendig und angemessen erscheinen lassen. Oder gab es andere Gründe/Beispiele, aus denen germanische Stämme solche oder ähnliche Wälle aufgeworfen haben?
Die Anwesenheit des Walls wäre demnach doch zumindest ein Indiz dafür, dass die Erbauer hier ein größeres Engagement planten. Das muss doch auch einen gewissen zeitlichen Vorlauf, damit einen Plan und schließlich eine entsprechende Geheimhaltung erfordert haben. Gleichzeitig musste dieser Wall außerhalb des Gebietes sein, das "regelmäßig" von loyalen Dienern Roms bereist bzw. bestreift oder aufgeklärt wurde. Das sind in meinen Augen gute Indizien für die Annahme, dass der Wall von Kalkriese Teil jener Falle war, die Arminius für Varus angelegt hatte.
Damit komme ich zu meinen offenen Fragen:
1. Allein die Planung eines laufenden Gefechtes über mindestens drei Tage Dauer und bummelig 20 - 50 km Strecke hätte ja in Bezug auf "Command and Control" mit Sicherheit ganz erhebliche Anforderungen an die Truppenorganisation und "Stabsarbeit" im "Heer" des Arminius gestellt: Kommunikation zwischen den einzelnen germanischen Kontingenten, Koordination von Angriffen, Deckung von Hinterhalten etc. . Wenn man (Anleihe vom Nachbarthread) sieht, dass eine einigermaßen geschlossene, organisierte Armee eines Staatenbundes wie die der Südstaaten bei Gettysburg mit ganz anderen technischen Mitteln und klarer Hierarchie sowie einem charismatischen Kommandeur es bei einer statischen Frontlinie von höchstens 15 km Länge nicht fertig gebracht hat, auch nur eine einzige einigermaßen konzertierte Aktion ihrer Korps hinzubekommen, so muss die entsprechende organisatorische Leistung der Germanen doch selbst im Falle des schnöden Überfalls auf einen auch nur 5 - 10 km langen Heerzug ein recht gut funktionierendes Stabs- und Kommunikationswesen erfordert haben. Und das auf einem Schlachtfeld, auf dem auch die meisten beteiligten Germanen nicht daheim gewesen sein dürften. Ist das mit dem damaligen Leistungsstand des Kriegswesens der beteiligten Stämme vereinbar? Gibt es einen Forschungsstand dazu, wie Germanen mit und ohne römische Schulung so etwas abgewickelt hätten?
Stichwort Operation: Wenn ich einen Gegner auf dem Marsch in "Ab-sofort-Feindesland" überraschen wollte, würde zumindest ich den Überraschungsschlag gegen den Tross richten. Hierzu meine Frage: Mir ist nach den mir vorliegenden Unterlagen nicht klar, ob die Legionäre auf dem Marsch im Frieden ihren Schild immer am Mann trugen, oder diesen ggf. auf ihre Tragtiere verluden. Falls zweiteres: Waren die den Contubernien zugeordneten Tragtiere in der Regal auf einem solchen Marsch in deren Nähe oder ggf. einige km weit weg in einem zentralen Tross? In diesem Falle hätte ein überraschender Angriff auf den Tross die Truppe ganz erheblich geschwächt, indem nicht nur Legionsartillerie, Proviant, Wasser und Schanzwerkzeug, sondern auch ein Großteil der Schilde verloren wäre, mit dem die Legionäre ein wesentliches Werkzeug ihres Formationskampfes verloren? Könnte das Paterculus' "Gleichgültigkeit des Führers" gewesen sein?
Wie "leicht" eine römische Truppe auf dem Marsch selbst unter Kriegsbedingungen zu verwirren und dann zu schlagen war, hat Arminius möglicherweise im Bello Gallico nachgelesen.
Ambiorix ? Wikipedia
Zu Zahl und Qualität der römischen Truppen:
- Könnte ein Teil der laut Paterculus niedergemetzelten sechs Auxiliarkohorten gar nicht erschlagen worden sein, sondern den meuternden Kern der Truppen des Arminius gebildet haben?
- Wie stark waren Varus' Truppen in ihrer Zahl?
Wenn die Römer schon dabei waren, östlich des Rheins eine Provinz einzurichten: Gab es Besatzungstruppen, die in einzelnen Standorten über das Land verteilt waren? Wer stellte diese in augusteischer Zeit in der Regel? Lediglich Auxiliareinheiten oder kann es sein, dass beträchtliche Teile der drei Legionen des Varus auf einzelne kleinere Kastelle verteilt waren - entweder irgendwo oder im Sinne der Sicherung der Nachschub- und Verbindungsrouten zum Rhein auf der Strecke, über die Varus ursprünglich in die Winterlager zurückmarschieren wollte und damit abseits des tatsächlichen Weges in die Katastrophe der römischen Hauptmacht?
Wenn drei Legionen auf einen Feldzug ausrücken: Wer bleibt als Stallwache bzw. zur Aufrechterhaltung des Betriebs und Materials in den Standlagern zurück? Niemand? Andere Einheiten? Oder ein bis x Kohorten der entsprechenden Legionen? Stutzig hat mich gemacht, dass Paterculus in seinem Bericht ausdrücklich nur von zwei Lagerpräfekten spricht. (Ich beziehe mich hier und im folgenden auf die hier befindliche Übersetzung:
Velleius Paterculus, Römische Geschichte 117-119 -)
Soweit ich weiß, hatte jede Legion einen Lagerpräfekten. Gem. Paterculus fehlt also bereits ein Lagerpräfekt. Wo mag dieser gewesen sein? Hat er den Heimatstandort verwaltet? Oder war es jener Lucius Caedicius, der ggf. ein Lagerpräfekt war und möglicherweise Aliso verteidigt hat?
Lucius Caedicius ? Wikipedia Falls ja: War er schon vorher in Aliso, ggf. im Rahmen der Besatzungstruppen, oder nur während der aktuellen Feldzugssaison, um den Nachschub des Hauptverbandes auf dem Feldzug zu organisieren und zu sichern?
Ebenso nennt Paterculus nur "ein[en] Legat des Varus", der mit der Reiterei getürmt ist. Müsste Varus nicht auch drei Legaten dabeigehabt haben? Oder waren einer oder zwei von ihnen anderweitig beschäftigt, krank, auf Heimaturlaub, in einem anderen Besatzungsabschnitt? Kann die nur sehr eingeschränkte Auswahl an militärischem Spitzenpersonal in Paterculus' Bericht ein seriöser Hinweis auf ein römisches Heer sein, das in der "Varusschlacht" bestenfalls aus zwei bis drei halben Legionen bestanden hat?
Ich finde, hier hat unser o. a. aufgetretender römischer Wiedergänger L. CAELIVS durchaus einen Punkt. Sicherlich muss es zu Anfang einen Schlag gegen Varus' "Feldheer" gegeben haben. Aber wie wahrscheinlich ist es tatsächlich, dass Varus in seiner letzten Schlacht ggf. tatsächlich nur einige Kohorten (5 - 15) bei sich hatte und der Rest in der Folge en détail eliminiert wurde? Mit einzelnen oder zwei bis drei Kohorten dürften die bereits siegreichen Germanen keine größeren Probleme gehabt haben, solange sie selbst ihre Hauptmacht beisammenhielten - eine römische Hauptmacht, die Entsatz hätte leisten können, gab es östlich des Rheins nun ja nicht mehr. Ein ähnliches Aufrollen der Besatzung ist aus dem Aufstand der Iceni und Trinovantes in Britannien überliefert.
Boudicca ? Wikipedia
Zur
Qualität der drei bei Varus befindlichen Legionen, die m. W. noch gar nicht thematisiert worden ist:
Paterculus bezeichnet sie zwar als "Die tapferste Armee von allen, führend unter den römischen Truppen, was Disziplin, Tapferkeit und Kriegserfahrung angeht." Aber wo soll sie ihre Kriegserfahrung hergehabt haben? Nach Märtin (ich weiß, aber ich hab nichts besseres zur Hand) können Teile von ihr am Aufmarsch Tiberius' gegen Marbod im Jahre 6 n. Chr. beteiligt gewesen zu sein. Nennenswerte Kampfhandlungen sind m. W. aber nicht überliefert. Von 6 bis 9 tobte der pannonische Aufstand, der fünfzehn Legionen band und auch in Africa war es zu einer Rebellion gekommen. Dass nach der Varusniederlage Zwang ausgeübt werden musste, um in Italien wenigstens eine neue Legion aufzustellen (Märtin schreibt in diesem Zusammenhang selbst von der Notmaßnahme der Rekrutierung freigelassener Sklaven), weist m. E. auf ganz erheblichen Personalmangel hin. Kann ggf. in diesem Zusammenhang davon ausgegangen werden, dass die Rheinlegionen zugunsten derjenigen Legionen, die in Pannonien kämpften, bereits geschwächt worden waren? Entweder durch direkte Abstellung von einzelnen Einheiten, ggf. im Tausch gegen eher unerfahrene Rekruten, oder auch ersatzlos? Oder dass Verluste an Führungspersonal aus den motivierten Leuten der ruhmlos am Rhein stehenden Legionen aufgefüllt worden waren? Meine These ist, dass Qualität und Zahl der am Rhein stationierten Truppen zumindest indirekt vom pannonischen Aufstand betroffen gewesen sind. Wenn Arminius wirklich der schlaue Fuchs war, als der er dargestellt wird, ist doch nicht ausgeschlossen, dass sein Losschlagen gerade zu dem Zeitpunkt, als der größte und beste Teil der Legionen in Pannonien gebunden war, exzellent getimed war.
Gibt es zu all diesen Thesen/Spekulationen irgendwelche Hinweise in den Quellen ggf. auch zu anderen Legionen in anderen Feldzügen in anderen Provinzen?