So, den Artikel von Koenig & Bouchard habe ich durch.
Ich habe den starken Eindruck, daß es sich um eine Reinterpretation von Forschungsbefunden handelt, wobei die rezipierten Studien zum Teil nicht nur sehr divergente Ergebnisse haben, zudem die Populationen nicht unbedingt Vergleiche zulassen, sondern ein solcher Vergleich wird auch noch erschwert durch die teilweise auch schwach erscheinende Repräsentativität.
Läßt man diese grundlegende methodische Schwäche beiseite, wird deutlich, daß die Reinterpretation der Daten im Hinblick auf die eigene Theoriebildung erfolgt. Insofern der Artikel im Prinzip als Review zur Verhaltensgenetik hinsichtlich eines "charakterzüglichen" Phänomens angelegt ist, ist immerhin löblich, daß widersprechende Interpretation gelegentlich erwähnt werden. So kommen die Autoren letztendlich nicht um die Schlußfolgerung herum: In conclusion, religiousness and the rest of the TMVT are moderately heritable, especially in adulthood.“ Das heißt im Grunde nicht mehr als: unsere Forschungsergebnisse lasse eindeutige Schlußfolgerungen nicht zu, was angesichts des grob schematischen Zuganges zur Debatte über Umwelt oder Anlage nicht wirklich überrascht.
Ich will hier nicht den Begriff der Dialektik, aber etwas mehr wechselseitigen Einfluß zwischen Umwelterfahrungen und Genexpression sollte in Betracht gezogen werden, wofür in der Biologie auch schon lange ein Begriff geprägt wurde, nämlich derjenige der Epigenese.
Obwohl sich der Artikel von Koenig & Bouchard im übrigen in einem ansprüchlich neurowissenschaftlichen Kontext publiziert ist, gibt es nur eine sehr kurze Diskussion eines solchen Bezugs, und zwar bezeichnenderweise im Zusammenhang mit der Gottes-Gen-These von Dean Hamer, der mir trotz breiter Kritik einen ernstzunehmenderen Forschungsansatz vertritt. Ein Satz der Autoren ist zitierungswürdig, weil er ohne neurobiologisches Hintergrundwissen meiner Ansicht nicht verständlich wird und bezweifel, daß sich die Verhaltensgenetiker bestimmter Implikationen bewußt sind:
„The gene he discusses (VMAT2, also called SLC18A2) may be important in the influencing traits we are discussing, as their products modulate mechanisms which psychoactive drugs work on the central nervous system.“
Der Satz irritiert mich, weil er bis zur Sinnlosigkeit banalisierend klingt: Hier
wird der Geneinfluß auf Charakterzüge mit der Wirkung von psychoaktiven Drogen auf das Gehirn in Verbindung gebracht, und das nur in Anspielung.
Unter Ausblendung von Lernerfahrungen, für die sich die Autoren merklich wenig interessieren, ergibt die Behauptung, daß die Produkte der Genexpression Gehirmechanismen beeinflussen, igend schwer Sinn. Genaugenommen unterläuft ihr Vorschlag meiner nach sogar deren Modell: Die einzige stabile Korrelation, die die Autoren identifizieren konnte ist ein Zusammenhang von Autoritarismus, Konservativismus und dem, was die Autoren Religiösität nennen, wobei es definitiv nicht um religiöse Erfahrung geht (Spirtualität oder Mystizismus, das sei an dieser Stelle bemerkt, ist übrigens ein problematisches Phänomen, das die Autoren auch nicht wagen, in ihrem Modell mit aufzunehmen).* Dieser – mutmaßlich stark kognitiv belastete - Phänomenkomplex soll nun verantwortlich gemacht werden für Mechanismen im Gehirn, auf die auch die Wirkung von psychoaktiven Drogen zurückgeführt wird.
Tatsächlich nimmt man heutzutage auch an, daß Lernerfahrungen durchaus auch über das Zusammenspiel verschiedener Neurotransmitter wie Endorphin und Dopamin etwa im frühen Kindheitsalter Gehirnwachstum anregt, das wiederum über Genexpression vermittelt wird; in Frage stehende Neuromodulatoren sind auch sehr bedeutsam für die Wirkung von psychoaktiven Drogen, die allerdings auch bestimmte Erlebnisweisen verstärken.
Aus bestimmten Gründen beschäftigen sich Koenig & Bouchard mit solchen Fragen nicht: denn sie müßten die oben genannte, aber von ihnen froschungsstrategisch ausgeschlossene Variable, miteinbeziehen.
Um noch einmal auf die Schlußfolgerungen zu zitieren, denn irgendwie ahnen die Autoren letztendlich selbst, daß ihre Ergebnisse ihr verhaltensgentisches Modell auch unterminieren: Im Anschluß an die Feststellung eines mäßigen Geneinflusses speziell im Erwachsenenalter bemerken die Autoren, daß aber in der Kindheit der Familieneinfluß bedeutend sei, und die spezifischen Faktoren noch zu identifzieren seien.
Meine Gesamteinschätzung der so präsentierten Forschungsergebnisse läuft darauf hinaus, eher eine Validierung von Ergebnissen der Autoritarismusforschung aus verhaltengenetischer Sicht zu sein. Nur wäre ein solches Zugeständnis wohl kaum mit der biologistischen Ausgangsdoktrin der Autoren vereinbar. Bezeichnenderweise diskutieren sie ihre Ergebnisse aber auch auf dem Hintergrund ihrer evolutionären Aushypothese, nämlich im Hinblick auf eine "Anpassungsfähigkeitshypothese" (adaptiveness hypotheses), demnach sich bestimmte Gene im Pleistozen gebildet haben sollten, darunter eben irgendwelche für ihre "Moralwertetriade", wobei sie vorschützend behaupten, daß sich die seinerzeit gebildeten Gene, ja auch ja heutzutage auch anders äußern könnten, womit sie die Evolutionsfrage geschickt wieder beiseite schieben.
Im Gesamtergebnis diesen Thread heißt das schließlich: Für eine Evolution der Kultur haben wir keine positiven Ergebnissen vorliegen.
(eine Korrelation zwischen identischer Gen-Ausstattung und Musikalität setzt Blume, soweit ich es verstehe, als bekannten wissenschaftlichen Konsense voraus.)
* Michael Blum scheint mir der Ausschluß dieses Aspektes entgangen zu sein, wenn er selbst einen Zusammenhang mit Musikalität hervorhebt. Auf Bouchards Forschung kann er sich jedenfalls nicht stützen.