Eyre Crowe im britischen Foreign Office

Noch etwas zu Grey

Interessant ist auch, das Grey, wie schon oben erwähnt, dem Zarenreich umfassende Verständigungsbereitschaft in Fragen des Nahen Ostens signalisierte. Und das nach der Niederlage Russlands gegen Japan! Die konservative Vorgängerregierung hat doch eine andere Politik, nämlich der der Stärke, gegenüber Russland gefahren. Sicher, auch Landsdowne wollte eine Verständigung, aber so ein weites Entgegenkommen wie Grey es tat, kann bezweifelt werden. Russland erfreute sich plötzliches englisches Entgegenkommen, was Lord Curzon schon als Appeasement bezeichnete. Eine Status Quo Erklärung für den Persischen Golf war von Russland jedenfalls nicht zu bekommen. Man merkte schnell, das die Briten schon um eine Einigung buhlten. An den Vertragstext haben sich die Russen ohnehin nicht gehalten; sie sahen kein Anlass dazu; weder in Persien, Afghanistan, Tibet oder Llasa. Aber es galt von Grey und Co. gegenüber grundsätzlich die Unschuldsvermutung. Man war außergewöhnlich milde gegenüber dem Zarenreich. Hingegen wurde das weitaus weniger bedrohlichere Deutschen Reich mit misstrauischen Argusaugen betrachtet und zwecks Aufrüstung als Bösewicht der eine Invasion plane instrumentalisiert.
 
Grey war sicher einer derjenigen,zu nennen sind auch die deutschen Botschafter in London Lichnowsky und Pourtales in Petersburg, die sich wirklich um den Erhalt des Friedens bemüht haben. Grey muss sich aber den Vorwurf gefallen lassen, Großbritannien nicht schon frühzeitig klar positioniert zu haben. Aber nichtsdestotrotz, die deutschen Diplomatie wurde über Lichnowsky frühzeitig und eindringlich gewarnt.

Das ist aus meiner Sicht eine zutreffende Beschreibung.

Grey hat mit der Politik, der Balance of power, seiner Vorgänger gebrochen.

Das sehe ich doch anders. Gerade die Gefährdung der französischen Position durch das DR, respektive die von Belgien und noch stärker die der Niederlande haben GB in eine deutliche Position gegen das DR gebracht (vg. Mailton, Herwig: World Wars: Definition an Causes, in: The Origins of World War I, Hamilton & Herwig (Ed.).

Die Hochseeflotte im "Kanal" in Kombination mit der Besetzung der Kanalküste war keine Vorstellung, die für GB akzeptabel war. 1. Weil sie das Gleichgewicht der Landmächte berührt hätte und weil 2. die Position von GB als Seemacht, nicht zuletzt durch die aufkommende Bedeutung der U-Boote, massiv gefährdet war.

Das Zugehen auf Russland, dass Du ja selber korrekt beschreibst, entsprang der zunehmenden Schwäche von GB, seine globalen Interessen militärischen Schutz zu verleihen.

An dem Arrangement von GB mit Russland wird eher deutlich, wie kompliziert für GB das Zusammenspiel der europäischen und der globalen Sicherheitserfordernisse geworden ist.

Und noch ein anderer Punkt. Es wäre für das DR relativ unkompliziert gewesen, den Krieg vor allem mit GB zu verhindern. Dazu wären in 1914, und natürlich auch in den folgenden Jahren, "lediglich" ein paar durchaus machbare Schritte notwendig gewesen.

1. Die Konzentration einer defensiv ausgerichteten Position der Armee des DR auf der rechtsrheinischen Seite.

2. Den Verzicht des DR auf eine offensive Aktion durch neutrale Gebiete. Also den Schlieffenplan, der zunehmend anachronistisch wurde, in die Tonne treten.

3. Den Verzicht auf operativ relevante offensive Aktionen im Westen und der klaren Päferenz für eine Defensive.

4. Die Konzentration ausschließlich auf den Süd-Osten, so wie Bethman-Hollweg es eigentlich gewollt hatte. Das hätte direkt Ö-U gestärkt und wäre den wirtschaftlichen Interessen des DR entgegen gekommen. Zusätzlich hätte es das Osmanische Reich stabilisiert.

5. Den Verzicht auf jeglichen Gewinn im Bereich des zaristischen Russlands

6. Die Zusage einer internationalen Friedenskonferenz unter Beteiligung aller europäischen Großmächte, ohne Vorbedingungen.

Unter diesen Voraussetzungen wäre weder in 1914 noch zu einem späteren Zeitpunkt mit der Bereitschaft von GB zu rechnen gewesen (natürlich mit einem nicht zu kalkulierenden Restrisiko für einen Eintritt), in den Krieg einzutreten.

Denn und das hat die britische Poltik in den zwanziger und dreißiger Jahren immer deutlich gezeigt, man war sie der Bedeutung des DR als Gegengewicht gegen Russland sehr bewußt und genau diese Position wollte man nicht erschüttern.

In diesem Sinne gehörte ein intaktes, starkes DR aus der Sicht der britischen Außenpolitik genauso zur Balance of Power wie ein intaktes, starkes Frankreich.

Und natürlich war die "Europäisierung" des Konflikjts in 1914 teilweise im Interesse von GB, da somit die Konflikte um die Kolonien reduziert wurden und Länder zur Kooperation zwang, die eigentlich rivalisierende Interessen aufwiesen.
 
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Grey hat mit der Politik, der Balance of power, seiner Vorgänger gebrochen. Für ihn stand von vornherein fest, schon seit 1895 als junger Oppositionspolitiker, das Großbritannien ein Bündnis mit Frankreich und Russland eingehen muss...

Auffällig ist doch schon, das Grey nach seiner Amtsübernahme die wichtigen Botschafterposten in Paris mit Bertie, in Petersburg mit Nicholson und in Berlin ab 1908 mit Goschen besetzte, die alle antideutsch eingestellt waren. Lascelles, Vorgänger von Goschen, wurde von Crowe sogar bedeutet, das es in London niemand interessiere, was für Ziele das Reich verfolge, denn allein die Existenz des Deutschen Reiches sei schon für London eine Bedrohung.

...Ganz anders Grey. Kaum im Amte rannte er zu Benkendorff und bot einer Vereinbarung an. Ja er stellte sogar die Dardanellen zur Disposition.

...Schon Grey sein Biograph Trevelyan beklagte sein auffälliges Halbwissen, welches zu einseitigen Urteilen geführt hat.

Bei der Darstellungen würde ich unverändert andere Akzente setzen, und die fußen wesentlich auf Zara Steiners Analyse "Foreign Offive 1905-1914 sowie auf den diversen bekannten Monographien zur Konfrontation von GB und Rußland 1883/1914.

1. Grey "Halbwissen" ist ein Mythos der älteren Geschichtsschreibung und Ausfluss der britischen innenpolitischen Kontroversen. Er berücksichtigt nicht die strukturellen personellen, organisatorischen und informationsbezogenen Umwälzungen im Foreign Office. Zara Steiner hat im Übrigen detailliert nachgewiesen, dass Grey die "Masterfunktion" voll erfüllt hat, aber auch hinsichtlich der Beratungsprozesse, der Einbindung von personellen "Schwergewichten" in der Gesamtabstimmung der Außenpolitik, den Verfahrenabläufen, den Meinungsbildungsprozessen straff geführt hat, dabei von allen Seiten (vom politischen Gegner bis zum Radikalen-Flügel der Liberalen) angefeindet wurde und seine Richtlinienkompetenzen durchzusetzen wusste.

2. Für diese "Schwergewichte" im Foreign Office greift sämtlich die Bewertung "deutschfeindlich" oder gemanophob zu kurz. Wenn hier überhaupt eine Regel greifen soll, heißt diese (selbstverständlich): "pro-britisch". Am Beispiel Nicolson - einem der Architekten des britisch-russischen interessenausgleichs von 1907 - läßt sich die fundamentale Orientierung ab 1904 plakativ darstellen:

"Germany would give us plenty of annoyance, but it cannot really threaten any of our more important interests, while Russia especially could cause us extreme embarrassment, and, indeed, danger in the Mid-east and on our indian frontier, [and it would be most unfortunate were we to revert to the state of things which existed before 1904 and 1907.]"
(Zara Steiner, S. 43, Nicolson to Goschen, 1913)

Das ist die fundamentale Positionierung.

Der Schlüssel zum Verständnis ist nicht eine britisch-deutsche Rivalität, sondern eine russische Bedrohung britischer Interessen, die auf der Prioritätenliste unangefochten an erster Stelle stand. Selbst das Marinerüsten ist hier sekundär nur in der Weise, als es britische Kräfte band und von globalen Schauplätzen des Empire abzog.

Die worst-case-Kalkulation war dann, dass ein deutsch-britisches Bündnis (bzw. seine Vorstufen) die wichtigeren Interessenregelungen mit Frankreich und Russland ausschloss bzw. massiv gefährdete. Alle Ansätze in Richtung Deutschland von Grey und den Personen im Foreign Office, die dieses 1912/14 forderten und die auch zu einer Entspannung führten, wurden in diesem Sinne "vorsichtig" gefahren, während andere diese Ansätze als gefährlich (im Hinblick auf Russland und Frankreich und globaler Bedrohung des Empire) torpedierten.

Die Dardanellen sind dabei ein Thema für sich. Bereits oben wurde darauf verwiesen, dass sich die britische Sicherheitslage mit den Einflusszonen Zypern und Ägypten und vor dem Hintergrund des maritimen Wettrüstens massiv verändert hatte. Die für Russland versperrten Dardanellen waren aus britischer Sicht zwar nicht wertlos geworden, aber kein "existenzieller" Aspekt mehr wie 1885. Natürlich gab es Personen, die diese Entwicklung nicht mitbekommen hatten, und aus der veränderten britischen Haltung schlossen, Grey setze die Existenz des Empires aufs Spiel (zumal Rußland hier tatsächlich nicht existente Zusagen aus 1907 behauptete). 1914 war dann mit Kriegsausbruch eine völlig neue Situation entstanden, bei der ein russischer Zugang zu den Dardanellen völlig nachrangig geworden ist (und eher das Drohgespenst eines russischen Separatfriedens im Foreign Offive kursierte - was mit der Vorkriegspolitik nichts mehr zu tun hat).

Siegel, Jennifer: Endgame - Britain, Russia and the Final Struggle for Central Asia
Neilsson, Keith: Britain and the Last Tsar - British Policy and Russia 1894 - 1917
Tomaszwewski, Fiona K.: A Great Russia - Russia and the Tripple Entente, 1905 to 1914
Marina Soroka: Britain, Russia and the Road to the First World War: The Fateful Embassy of Count Aleksandr Benckendorff (1903-16)
Evgeny Sergeev: The Great Game, 1856-1907: Russo-British Relations in Central and East Asia
 
Und noch ein anderer Punkt. Es wäre für das DR relativ unkompliziert gewesen, den Krieg vor allem mit GB zu verhindern.

Das gilt aber nicht nur für das Deutsche Reich, sondern auch und insbesondere für Russland, natürlich auch Frankreich und Großbritannien. Der Krieg war vermeidbar!
 
....

Und noch ein anderer Punkt. Es wäre für das DR relativ unkompliziert gewesen, den Krieg vor allem mit GB zu verhindern. Dazu wären in 1914, und natürlich auch in den folgenden Jahren, "lediglich" ein paar durchaus machbare Schritte notwendig gewesen.

1. Die Konzentration einer defensiv ausgerichteten Position der Armee des DR auf der rechtsrheinischen Seite.

2. Den Verzicht des DR auf eine offensive Aktion durch neutrale Gebiete. Also den Schlieffenplan, der zunehmend anachronistisch wurde, in die Tonne treten.

3. Den Verzicht auf operativ relevante offensive Aktionen im Westen und der klaren Päferenz für eine Defensive.

4. Die Konzentration ausschließlich auf den Süd-Osten, so wie Bethman-Hollweg es eigentlich gewollt hatte. Das hätte direkt Ö-U gestärkt und wäre den wirtschaftlichen Interessen des DR entgegen gekommen. Zusätzlich hätte es das Osmanische Reich stabilisiert.

5. Den Verzicht auf jeglichen Gewinn im Bereich des zaristischen Russlands

6. Die Zusage einer internationalen Friedenskonferenz unter Beteiligung aller europäischen Großmächte, ohne Vorbedingungen.

Unter diesen Voraussetzungen wäre weder in 1914 noch zu einem späteren Zeitpunkt mit der Bereitschaft von GB zu rechnen gewesen (natürlich mit einem nicht zu kalkulierenden Restrisiko für einen Eintritt), in den Krieg einzutreten.

Das halte ich, mit Verlaub, für etwas naiv und unteschätzt die Kräfte die in GB für einen Krieg gegen das deutsche Reich arbeiteten.

Denn und das hat die britische Poltik in den zwanziger und dreißiger Jahren immer deutlich gezeigt, man war sie der Bedeutung des DR als Gegengewicht gegen Russland sehr bewußt und genau diese Position wollte man nicht erschüttern.

Die Politik der zwanziger und dreißiger basiert auf den Erfahrungen des 1. WK und man kann wohl schlecht daraus Schlüsse auf die Politik der Vorkriegszeit ziehen.
 
Wir sollten die Diskussion auf die Zeit bis Juli 1914 beschränken.

Danach hat das nichts mit Naivität zu tun, sondern mit der Frage, welche Lageeinschätzungen im Foreign Office tatsächlich und aus welchen Gründen mit welchen Folgerungen bestanden.
 
silesia schrieb:
. Grey "Halbwissen" ist ein Mythos der älteren Geschichtsschreibung und Ausfluss der britischen innenpolitischen Kontroversen. Er berücksichtigt nicht die strukturellen personellen, organisatorischen und informationsbezogenen Umwälzungen im Foreign Office. Zara Steiner hat im Übrigen detailliert nachgewiesen, dass Grey die "Masterfunktion" voll erfüllt hat, aber auch hinsichtlich der Beratungsprozesse, der Einbindung von personellen "Schwergewichten" in der Gesamtabstimmung der Außenpolitik, den Verfahrenabläufen, den Meinungsbildungsprozessen straff geführt hat, dabei von allen Seiten (vom politischen Gegner bis zum Radikalen-Flügel der Liberalen) angefeindet wurde und seine Richtlinienkompetenzen durchzusetzen wusste.

2. Für diese "Schwergewichte" im Foreign Office greift sämtlich die Bewertung "deutschfeindlich" oder gemanophob zu kurz. Wenn hier überhaupt eine Regel greifen soll, heißt diese (selbstverständlich): "pro-britisch". Am Beispiel Nicolson - einem der Architekten des britisch-russischen interessenausgleichs von 1907 - läßt sich die fundamentale Orientierung ab 1904 plakativ darstellen

Nun ja, Fakt ist, das Grey mit seiner Informationspolitik höchst eigenartig vorging. Und mit der Wahrheit nahm er es auch nicht sonderlich genau. Greys Berater waren nach dem Abgang von Sandersen, das waren Tyrell, Hardinge, Bertie, Crowe und natürlich Nicolson, die samt und sonders eben antideutsch eingestellt. Dieser Hinweis findet sich auch in der neuen Literatur; siehe Andreas Rose sein Werk "Empire und Kontinent", aber auch in dem Werk von Konrad Canis wird vom antideutschen Zug, namentlich werden die schon genannten Herren genannt, gesprochen.

Großbritannien hätte vollkommen entspannt mit Russland die Verhandlungen über einen Interessenausgleich aus der Position der Stärke führen können, denn die Russen hatten gerade einen Krieg verloren. Aber Grey nd Co. konnte es gar nicht schnell genug gehen und man "schmiss" sich den Russen schon fast in die Arme. Grey Politik war in der Summe doch ziemlich einseitig angelegt, was auch seine Kabinettskollegen besätigen. Auch gegenüber Frankreich war im Prinzip, ohne Not, es bestand formell ja keine Verpflichtung, entschlossen dieses im Zweifelsfall militärisch, Stichwort Marokkrise Nr.1, zu unterstützen. Und Frankreich befand sich im Unrecht! Ja , die Briten spielten hier wahrlich keine ruhmvolle Rolle.
 
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Die Strategie ab 1905 muß man nicht im Sinne einer (kurzfristigen) Beseitigung der russischen Bedrohung des Empire sehen. Wenn hier ein "Außenamt" strategisch dachte, dann das britische. Da von einer schnellen Erholung der militärischen Stärke unzweifelhaft und realistisch ausgegangen wurde, war der Zeitpunkt zu einer Annäherung 1905/07 sogar ausgesprochen geschickt gewählt.

Und wie die Entwicklung bis 1907 zeigte, und die von Dir auch schon betonten geringen russischen "Gegenleistungen", spricht das nicht gerade für eine mittelfristig betrachtete russische "Schwäche". Man leistete sich sogar, parallel zu den britischen Gesprächen mal nebenbei in Rom wegen Zuarbeiten in der Öffnung der Dardanellen anzufragen. Was wiederum die deutsche Seite für Indiskretionen nutzte, um (vergeblich) das britische Vertrauen in den Interessenausgleich gleich mal zu erschüttern. Das Foreign Office sah sich nachweislich nicht in der Lage, aus einer Position der Stärke heraus zu handeln, sondern als Kompromiß-Suchend in dem Bewusstsein und der fundierten Lageanalyse, dass sich das schnell wieder drehen würde.

Zu Rose und Canis (oder dem Attribut "deutschfeindlich"), und die Diskrepanz in der Einschätzung zu Zara Steiner, Nielsson&Co. bzw. zu weiteren Forschungen, habe ich oben schon etwas ausgesagt. Ich neige eher zu dieser anderen Literaturmeinung, aber da sind wir offenbar unterschiedlicher Ansicht (was ja so stehenbleiben kann).
 
Das halte ich, mit Verlaub, für etwas naiv und unterschätzt die Kräfte die in GB für einen Krieg gegen das deutsche Reich arbeiteten.

Ich bin da wirklich gespannt auf die Argumentation und die entsprechenden Nachweise, welche Kräfte in London "für einen Krieg gearbeitet haben" und welche Ziele damit verfolgt worden sind.

Wie schrieb Peter (Britische Kriegsziele und Friedensvorstellungen in: Der Erste Weltkrieg, Michalka Hg., S. 98): " Konfliktabwehr, aber nicht Konfliktscheu war das Grundziel der britischen Außenpolitik im 20. Jahrhundert."

Ich kritisiere durchaus auch andere Positionen, mache mir aber wenigstens die Mühe, eine fakten bzw. literaturorientierte Erwiderung zu schreiben.

Ansonsten befinde ich mich mit meiner "kontrafaktischen" Naivität zumindest teilweise in der Nähe der Kritikpunkte von Bülow an Bethmann Hollweg. Eine Kritik, die zumindest Röhl aus einem anderen Grunde - wegen der Verkennung der Interessen des DR in SO-Europa - als nicht durchdacht kritisiert.

Die Politik der zwanziger und dreißiger basiert auf den Erfahrungen des 1. WK und man kann wohl schlecht daraus Schlüsse auf die Politik der Vorkriegszeit ziehen.

Das ist ein Irrtum, da sich die außenpolitische Bewertung der europäischen Poltik, wie beispielsweise ein Chamberlain es 1938 (z.B. in München) vorgenommen hat, in einen ähnlichen Kontext zum Commonwealth befand, wie vor dem WW1.

In beiden Fällen mußte man sich mit Europa beschäftigen, aber nicht weil man es wollte, sondern weil man durch die politische Dynamik auf dem Kontinent gezwungen wurde.

In in beiden Fällen liegt eine ähnlich globale Sicht zugrunde und in beiden Fällen auch eine ähnliche Bewertung der Bedeutung der europäischen Machtbalance. Wie beispielsweise bei Darwin in der Dynamik und auch Kontinuität beschrieben.

Unfinished Empire: The Global Expansion of Britain - John Darwin - Google Books
 
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Ich bin da wirklich gespannt auf die Argumentation und die entsprechenden Nachweise, welche Kräfte in London "für einen Krieg gearbeitet haben" und welche Ziele damit verfolgt worden sind.

Wie Teile der britischen Presse schon vor der Jahrhundertwende für einen Krieg gegen Deutschland plädiert haben ist schon an anderer Stelle aufgeführt worden.

Der Führer der Tories, Lord Balfour argumentierte schon 1909 vor amerikanischen Diplomaten für die Notwendigkeit einen Kriegsgrund gegen das DR zu finden, bevor Dieses zu stark würde. Er wird bei Allan Nevis (Henry White, Thirty years of american diplomacy" mit folgenden Worten zitiert, die die "verfolgten Ziele" gut zusammenfassen:

"Wir sind wahrscheinlich töricht, daß wir keinen Grund finden, um Deutschland den Krieg zu erklären, ehe es zu viele schiffe baut und uns unseren Handel wegnimmt"
...
"Ist das eine Frage von Recht oder Unrecht? Vielleicht ist das eine Frage der Erhaltung unserer Vorherrschaft
"

Der US-Genralkonsul in München Gaffney notierte vor dem Krieg:

"Bei meinen jährlichen Besuchen stellte ich erstaunt und amüsiert fest, wie die Feindschaft gegen Deutschland wuchs. Meine englischen Freunde zögerten nicht, mir mit völliger Offenheit und der üblichen englischen Anmaßung zu erklären, daß es nötig sei, Deutschland zu zerstören oder Großbritannien würde seine wirtschaftliche Vormachtstellung auf den Weltmärkten verlieren." (John Gaffney, Breaking the Silence)

Über das Agieren von Eyre Crowe ist hier schon Vieles geschrieben worden.

Ab der ersten Marokkokrise 1904 gab es bereits ein Abkommen zwischen Frankreich und GB um im Kriegsfall vier, später sechs britische Divisionen nach Frankreich zu schicken, ab 1906 wird von britischer Seite sondiert, ob Belgien sich in die Entente gegen Deutschland einreihen würde oder ob man zumindest durch belgisches Territorium marschieren dürfte und der Chef der Belgischen Armee, General Ducarne stimmte diesen Vorschlag zu.
1912 teilte der britische Militärattache dem neuen Belgischen Oberkommandierenden General Jungbluth mit, dass GB notfalls seine Truppen auch ohne belgische Erlaubnis an dessen Küsten landen würde. Man hat also damals bereits aktiv eine Landkriegsführung gegen das DR geplant.

Wie schrieb Peter (Britische Kriegsziele und Friedensvorstellungen in: Der Erste Weltkrieg, Michalka Hg., S. 98): " Konfliktabwehr, aber nicht Konfliktscheu war das Grundziel der britischen Außenpolitik im 20. Jahrhundert."

Konfliktabwehr? GB hat von 1814 bis 1914 ca. fünfzig (50!) Kriege geführt, davon die überwiegende Mehrheit selber angefangen. Zu behaupten, dass die agressivste Kolonialmacht der Neuzeit, die sich ca. einen Viertel der Erdoberfläche zum Untertan gemacht hatte, "konfliktabwehrend" agieren würde, ist ein schlechter Witz. Das waren sie nicht einmal, als sie eigentlich schon zu schwach für solche Abenteuer waren, wie z.B. 1954.

Ich kritisiere durchaus auch andere Positionen, mache mir aber wenigstens die Mühe, eine fakten bzw. literaturorientierte Erwiderung zu schreiben.

Fakten sind interpretationsfähig und nicht jede Schlussfolgerung aus der Literatur muss man folgen.

Ansonsten befinde ich mich mit meiner "kontrafaktischen" Naivität zumindest teilweise in der Nähe der Kritikpunkte von Bülow an Bethmann Hollweg. Eine Kritik, die zumindest Röhl aus einem anderen Grunde - wegen der Verkennung der Interessen des DR in SO-Europa - als nicht durchdacht kritisiert.

Ich möchte nicht in Frage stellen, dass man grobe Fehler begangen hat. Der Durchmarsch durch Belgien war ein solcher, so wie Frankreich den Krieg zu erklären und nicht drauf zu warten dass die Franzosen es täten, was sie früher oder später sowieso getan hätten.

Gegenüber Frankreich wäre es jedoch sinnlos gewesen, sich auf das rechte Rheinufer zurück zu ziehen. Bismark hat bereits 1871 über den Botschafter in London der Britischen Regierung erklären lassen, dass die Anexion des Elsasses und Lothringens für die Verteidigung Deutschlands erforderlich sei, angesichts der stategischen Situation und der vielen Male in der Geschichte, in denen Französische Truppen auf deutschen Boden eingedrungen seien.
Als Argument gegen eine Zurückhaltung führte er an, dass man 1815 Frankreich keine Territorien abnommen habe, die Französische agressive Haltung sich dadurch jedoch nicht geändert hätte und diese sogar Rache für die Niederlage eines anderen Landes forderten ("Rache für Sadowa"). 1914 hatte sich diese Einstellung nicht geändert und man hätte sich militärisch in eine missliche Lage gebracht, wenn man das leichter zu verteidigende Terrain links des Rheins aufgegeben hätte. Großbritannien hätte das m.E. auch nicht von einem Eingreifen abgehalten, ohne Belgien hätte es natürlich eine andere Ausrede finden müssen.

Das ist ein Irrtum, da sich die außenpolitische Bewertung der europäischen Poltik, wie beispielsweise ein Chamberlain es 1938 (z.B. in München) vorgenommen hat, in einen ähnlichen Kontext zum Commonwealth befand, wie vor dem WW1.

Man hatte aber nun völlig andere Erfahrungen die selbstverständlich in die Bewertungen einfliessen mussten. 1914 ahnte kaum jemand, was für ein Blutbad sich anbahnte, nach dem Krieg wusste man das sehr gut. Die globale Situation hatte sich zudem durch die Entstehung der SU und dem Aufstieg Japans grundlegend geändert.

In beiden Fällen mußte man sich mit Europa beschäftigen, aber nicht weil man es wollte, sondern weil man durch die politische Dynamik auf dem Kontinent gezwungen wurde.

1914 war man nicht gezwungen (Deutschland war faktisch eingekreist und bildete keine reale Gefahr für GB, im Rest der Welt war es mehr eine eingebildete Bedrohung da die deutsche Flotte nicht einmal annähernd eine Stärke hatte bei der sie ein tatsächliches Risiko dargestellt hätte und das Potential von U-Booten war noch völlig unbekannt).

Bezeichnend ist das Thema der Baghdad-Bahn, was von den Briten als Herausforderung ihrer Interessen in Nahost angesehen wurde: Die Anexion eines Teiles des Osmanischen Reiches (Kuweit), bedroht duch eine Bahnlinie die nicht einmal an die Küste reichte!

Und das man "wollte" geht aus Zitaten britische Politiker und Presse m.M.n. doch sehr deutlich hervor.

In in beiden Fällen liegt eine ähnlich globale Sicht zugrunde und in beiden Fällen auch eine ähnliche Bewertung der Bedeutung der europäischen Machtbalance. Wie beispielsweise bei Darwin in der Dynamik und auch Kontinuität beschrieben.

Unfinished Empire: The Global Expansion of Britain - John Darwin - Google Books

Du stellst die Erhaltung der "Machtbalance" als einen statische Angelegenheit dar. Tatsächlich war es jedoch ein dynamischer Prozess, bei den Großbritannien nie zögerte in einen Krieg einzugreifen wenn es darum ging, eine aufstrebende Macht niederzukämpfen oder eine im Niedergang befindenden den Rest zu geben.

1858 hatte man zusammen mit Frankreich und dem OR gegen Russland gekämpft, zur Zeit der Koalitionskriege mit verschiedenen Alliierten gegen Frankreich, im 7-Jahrigen Krieg mit Preussen gegen Frankreich, davor mit Holland gegen Spanien etc.

Das Thema des "Festlanddegens und die Niederhaltung der jeweils führenden Kontinentalmacht ist deshalb eine Konstante in der Britischen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert und wurde auch bereits im Vorfeld des 1 WKs von britischer Presse und Politikern bemüht.
 
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Würde man einen "Masterplan" wie angedeutet unterstellen, ergibt sich das kuriose Ergebnis, dass es sich bei der größten Bedrohung für Großbritannien um Russland handelte. Dieses Faktum ist hier im Forum nun schon bis ins Letzte ausgewalzt worden, und ist Stand der Forschung. Das Deutsche Reich war für Großbritannien ein sekundäres (Folge-)Problem*, wobei diese "Erkenntnis" auch die früheren deutsch-zentrierten Betrachtungen nun allmählich ablöst.

Zu den Zitaten, die einmal mehr zeigen, dass solche "Ausschnitte" Kontext benötigen.

1. Balfour ist als Konservativer 1902 explizit Verfechter eines deutsch-britischen Bündnisses gewesen, an Stelle eines Bündnisses mit Japan. Das ist nun umgekehrt auch keine Deutschfreundlichkeit, sondern Überzeugung einer russischen Bedrohung. Seine angeblichen lockeren "Dachlatten"-Sprüche stehen im Kontext des innenpolitischen ökonomischen Streits der Tories, 1907 (und nicht 1909), zitiert bei Nevins White-Biographie, aus einem von Whites Tocher angeblich mitgehörten Gespräch, nicht verifizierbar, publiziert in den Nachkriegs-Verdrängungsschlachten über "Kriegsschuld" und Reparationen, nach Balfours Tod.

Selbst wenn man dem Inhalt der zweifelhaften Quelle folgt, stellt diese keinen "Masterplan" dar, sondern Balfours Genervtheit über den internen Streit der Konservativen über Schutzzölle und Wirtschaftspolitik dar, ansonsten priorisierte er die "russische Krake" im mittleren Osten, die Indien und Persien bedroht. Deswegen ging er in die Entente mit Frankreich (mittelfristige Strategie: Schwächung GBs gegenüber Russland vermeiden, Zugang zu einem Interessenausgleich mit Russland über Frankreich zu finden, das Deutsche reich spielte dabei nur eine marginale Rolle). Der politische Gegner warf ihm zuweilen sogar vor, ausgesprochen "germanophil" (sic!) zu sein (was man den Konservativen und "Rußlandhassern" gern unterstellte), weil er angeblich deutsche Gefahren verniedlichen würde und die "Home Defence" vernachlässigen würde (was wiederum Quatsch ist, da sein besonderes Interesse der Royal Navy galt - siehe Ölthread hier im Forum). Übrigens wird das Zitat gern in Schriften verwendet, die sich mit angloamerikanischen Welt- und Kriegsverschwörungen beschäftigen. Dass Balfour mit der Deklaration außerdem mit jüdischen Interessen in Verbindung gebracht wird, verstärkt das Interesse an ihm zusätzlich. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das alles betrifft nur den Hintergrund dieses Zitates, und hat natürlich klarstellend nichts mit den Beiträgen hier im Forum und speziell mit dem Beitrag von Bdaian zu tun, sondern ist schlicht Kontext. Ich halte im Übrigens nichts von Schlachten über Zitateschnipsel, aber wenn diese aufgebracht werden, muss der Kontext klar werden.

2. Gaffney wurde unehrenhaft aus dem US-Außenamt entlassen, war dem irischen Widerstand und jedem verbunden, der im Kampf gegen England nützlich schien. Während des Kriegs folgte er in Deutschland der Linie, auf den Erzgegner England einzuschlagen. Außerdem behauptete er alles und jedes, trieb sich in "keltologischen" Kreisen und Geheimbünden herum.

Das ist an sich nichts Schlimmes (seine radikalen Positionen stehen im Kontext des irischen Freiheitskampfes, und sind vielleicht nachvollziehbar), aber man sollte die mangelnde Seriösität eines Mannes berücksichtigen, von dem sich schlußendlich selbst irische nationale Widerstandsbewegungen distanzierten.

Die von ihm verfasste Verschwörungsliteratur findet selbstredend in der Forschung keinen Widerhall und keine Verwendung. Es bleibt seine Englandhetze in Deutschland (wozu auch gehörte, die englische Weltverschwörung gegen Deutschland zu verbreiten), um hier Verbündete für die irische Unabhängigkeit zu gewinnen. Das wäre zu ergänzen, wenn man ein solches Zitat liest.


3. Über Crowe ist einiges Wichtige hier schon geschrieben worden, muß ich nicht wiederholen. Es ist aber ohne Probleme möglich, auch bzgl. einzelner Crowes-Zitate eine seriöse Quellenkritik anzubringen. Etwas vom Kontext und seinen fundamentalen Überzeugungen ist oben ja schon angerissen worden.

4. Alle europäischen Großmächte 1815-1914 stehen im Kontext ihrer imperialistischen Strategien inkl. geführter Kriege. "Kriegstatistiken" sind hier wenig ergiebig, und es geht wohl nicht darum, die konkrete Diskussion über den Kriegsausbruch 1914 darauf zu erstrecken, wer in 200 Jahren davor am Meisten auf dem Kerbholz hatte. Die Frage hätte jedenfalls mit dem Juli 1914 wenig zu tun.



* durch (a) Kräftebindung/Marine-Wettrüsten und (b) den britischen worst-case, nämlich eine Anlehnung Deutsches Reich/Russland in Kontinentalfragen (dem nach der Überzeugung der tragenden Personen im FO dann früher oder später Frankreich folgen müsste).
 
Von einem Masterplan habe ich nichts geschrieben und nichts angedeutet, nur von einer Kontinuität in der britischen Aussenpolitik.

Ich habe die Zitate aufgeführt, weil ich mich durch Thanes Antwort dazu aufgerufen gefühlt habe (Literatur!). Ich denke jedoch dass auch der Rest aussagekräftig genug ist.

Die Beispiele an antideutscher Hetze in der Britischen Presse wird wohl niemand in Frage stellen. (Ich kenne dagegen keine Beispiele, dass in der deutschen Presse der damaligen Zeit ähnliches abgegangen wäre, ausgenommen eventuell während des Burenkrieges und entgegen einen üblichen scharfen Ton gegen Frankreich). Die Presse ensteht jedoch nicht im luftleeren Raum sondern entspricht politischen Tendenzen. Die Pressezitate reichen also zum Nachweis antideutscher Tendenzen in der britischen Politik, also das, was ich behauptet habe (und nichts von einem Masterplan).

Der Vorwurf an Balfour, "Germanophil" zu sein, beweist dieses übrigens auch. Warum sollte es ein Vorwurf sein, wenn es normale Beziehungen gäbe? Wer wäre z.B. heute bei uns beleidigt, wenn man ihn als Francophil bezeichnen würde?

Das alle europäischen imperialistischen Mächte ähnliche Vorgangsweisen hatten, sogar die fast lächerliche Versuche sich in letzter Minute noch einen Teil des Kuchens zu sichern und sich dabei völlig wertlose Kolonien zuzulegen wie Djibouti, Somaliland, Rio Muni, Spanisch Westsahara u.Ä. stelle ich auch nicht in Frage.

Nur waren GB und Frankreich, gefolgt von den USA in der kolonialen Spätphase, die agressivsten und erfolgreichsten davon.

Ich habe keine zweihundert Jahre aufgeführt sondern lediglich die letzten Hundert. Verkürzen wir den Zeitraum: Allein in den 20 Jahren vor 1914 führte das Empire ca 10 Kriege bei denen Souveräne Staaten wie Burma, das Zululand, Sikkim, oder die Südafrikanischen Freistaaten angegriffen und erobert wurden. Das ist, abgesehen von der erfolgreichen Expansion der USA auf Kosten des spanischen Restkolonialreiches, die größte Expansion in dieser Periode.

In Thanes Darstellung, bzw. in der von ihm zitierten Werke, wird GB fast als eine pazifistische Nation aufgeführt, die versuchte Konflikten aus dem Weg zu gehen wenn es ging. Das ist, angesichts der Fakten, völlig unhaltbar.

Mag sein, dass Russland eigentlich die größere Bedrohung für das Britische Empire war. Eventuell hätte man Krieg gegen diese geführt (wie man es 1858 bereits getan hatte, wie man es 1918-19 erneut tat, wie man es 1904-05 stellvertretend die Japaner machen liess). 1914 wollte man jedoch die günstige Konstellation nutzen, um das deutsche Reich in die Schranken zu weisen und dessen Aufstieg zu einer größeren Bedrohung zu unterbinden.
 
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In Thanes Darstellung, bzw. in der von ihm zitierten Werke, wird GB fast als eine pazifistische Nation aufgeführt, die versuchte Konflikten aus dem Weg zu gehen wenn es ging. Das ist, angesichts der Fakten, völlig unhaltbar.

1. Das ist falsch. Ich habe GB als "zweckrational" dargestellt, mit der Kontroverse zwischen empireorientierten Isolationisten und interventionsorientierten "Europäern". Zur Absicherung seiner wirtschaftlichen Basis!

2. Meine Darstellung ist weitgehend kompatibel zu dem, was Silesia schreibt; vl. beispielsweise #9

3. Meine Darstellung orientiert sich an einer Reihe von aktuellen Darstellungen, die teilweise hier schon, mit Angabe der entsprechenden Seitenzahl, angeführt worden sind (vgl. Literaturliste)

4. Und diese unterschiedlichen Autoren haben eine relativ einheitliche Sicht auf die Entwicklung, die beabsichtigen und auch die nicht intendierten Ergebnisse der britischen Außenpoltik. Und stellen die "Balance of Power" in das Zentrum der britischen Intentionen.

5. Eine zusätzlich Sicht, die hier nicht diskutiert wurde, ist die Rückwirkung der Innenpoltik und die Berücksichtigung des notwendigen sozialen Wandels der britischen Gesellschaft für ihr Fortbestehhen als Weltmacht, auf die Außenpoltik.

6. Und an dieser Sicht habe ich mir primär orientiert bei meinen Darstellungen. Und sollte diese Sicht angeblich "naiv" sein, oder eine "pazifistische" Sicht zeichnen, dann weicht Deine Sicht, @Bdaian, von dieser literaturorientierten Sicht ab. Und damit kann ich hervorragend leben.

Dewegen noch einmal die Liste der von mir genannten Autoren, auf die im wesentlichen meine Darstellung basiert.

Darwin, J.: Unfinished Empire: The Global Expansion of Britain
French, D.: British Economic and Strategic Planning: 1905-1915
Gregory, A.: Britain and Ireland, in: A Companion to World War I, Horn (Ed.), S. 403ff
Harris, J.P.: Great Britain, in The Origins of World War I, Hamilton & Herwig (Eds)
Kennedy, P.: Great Britain before 1914, in: Knowing One`s Enemy, May (Ed), S. 172 ff
Mombauer, A. The Origins of the First World War. Controversies and Consensus.
Otte, T.G.: Almost a Law of Nature? Sir Edward Grey, the Foreign Office, and the Balance of Power in Europe, 1905-12, S. 75ff
Peter, M.: Britische Kriegsziele und Friedensvorstellungen, in: Der Erste Weltkrieg, Michalka (Hg) S. 95ff
Steiner, Z.: British Power and Stability. The Historical Record, in: Power and Stability. British Foreign Policy, 1865-1965, S. 24ff
 
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thanepower schrieb:
4. Und diese unterschiedlichen Autoren haben eine relativ einheitliche Sicht auf die Entwicklung, die beabsichtigen und auch die nicht intendierten Ergebnisse der britischen Außenpoltik. Und stellen die "Balance of Power" in das Zentrum der britischen Intentionen.

Großbritannien hat sich im Zuge seine Balance of Power Politik stets auf die Seite des oder der Schwächeren gestellt. Das hat sich m.E. nach aber eben mit Amtsantritt der liberalen Regierung definitv geändert gehabt. Grey sein auswärtige Politik war schlicht einseitig und er hat sich mit entsprechenden Personal umgeben.

Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn galten zusammen als schwächer als Frankreich und Russland.

Die Schwächephase Russlands nach der Niederlage galt als temporär. Frankreich war dabei massiv Abhilfe zu schaffen.

Auch übersah man in London durchaus die kontinentale Gewichtsverschiebung nicht, denn die russischen Reserven galten als unermesslich, Russland wurde vollkommen überschätzt, und nahm das gestiegene russischen Selbstbewußtsein zur Kenntnis. Und trotzdem trat man der stärkeren Seite, eben Frankreich und Russland bei, gab aus Gründen des Erhalts des Empires die alte Sicherheitspolitik auf. Problemantisch war, das sich in Europa jetzt zwei feindliche Blöcke gegenüberstanden und die Handlungsspielräume sich ziemlich verengt hatten. Man machte sich komischerweise immer wieder Sorge um eine deutsche Hegemonie, die man keinesfalls dulden wollte, auf dem Kontinent, was aber einfach an der Wirklichkeit vorbeiging. Großbritannien hat sich im Prinzip das russische Stillhalten erkauft. Die Russen hielten ja auch nur bedingt still. London machte erhebliche Zugeständnissen in Europa, beispielsweise des "Übersehens" der panslawistischen Expanion auf dem Balkan und natürlich durch entsprechende Bündnispflege der Triple Entente. Das war für Europa letzen Endes im Ergebnis verhängnisvoll.
 
Auch übersah man in London durchaus die kontinentale Gewichtsverschiebung nicht, denn die russischen Reserven galten als unermesslich, Russland wurde vollkommen überschätzt, und nahm das gestiegene russischen Selbstbewußtsein zur Kenntnis.

Spontan eine Antwort zu disem Punkt (und ich sehe die anderen auch anders). Mit Kennedy (vgl. Literaturliste) will ich Dir punktuell widersprechen, der auf die Unterschätzung, ja geradezu Geringschätzung der russsichen Armee hinweist.

Und dieses war für die Bewertung vor 1914 relevant, da man "allseits" von einem kurzen Krieg ausging.
 
1. Sämtliche Verträge Großbritanniens, 1902 mit Japan, 1904 mit Frankreich und 1907 mit Russland, hatten durchweg nichts mit europäischer Kräftelage zu tun, sondern sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrer weiteren Aufrechterhaltung außereuropäische Gründe im Empire.

2. Die "Kontinuitätsthese" ist schon aufgrund des scharfen Bruches (mit massiven innenpolitischen Konflikten) zwischen "Splendid Isolation" und den genannten Verträgen unhaltbar. Die massiven innenpolitischen Friktionen über die Kurswechsel wurden nun bereits mehrfach, jetzt zuletzt von thanepower, erwähnt.

Das ist der internationale Forschungsstand. Die einschlägigen Monographien zu diesen Fragen sind hier im Forum zitiert worden.
 
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1. Sämtliche Verträge Großbritanniens, 1902 mit Japan, 1904 mit Frankreich und 1907 mit Russland, hatten durchweg nichts mit europäischer Kräftelage zu tun, sondern sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrer weiteren Aufrechterhaltung außereuropäische Gründe im Empire.

2. Die "Kontinuitätsthese" ist schon aufgrund des scharfen Bruches (mit massiven innenpolitischen Konflikten) zwischen "Splendid Isolation" und den genannten Verträgen unhaltbar. Die massiven innenpolitischen Friktionen über die Kurswechsel wurden nun bereits mehrfach, jetzt zuletzt von thanepower, erwähnt.

Das ist der internationale Forschungsstand. Die einschlägigen Monographien zu diesen Fragen sind hier im Forum zitiert worden.

1. Mir sind die die Verträge, wie du sicher ganz genau weißt, von 1902, 1904 und natürlich auch 1907 bekannnt; sowohl was deren Anlaß und Ursache aber auch deren Inhalte angeht. Die Entente Cordiale, die bekanntermaßen ja "nur" ein weltweiter kolonialer Ausgleich zwischen Frankreich und Großbritannien war, wurde von Grey zu einen Bündnis ausgebaut. Schon während der Ersten Marokkokrise hatte Großbritannien an Frankreich eindeutige und unmissverständliche Botschaften gesendet. Es kam ja auch relativ schnell zu militärischen Besprechungen.
Frankreichs Bemühungen galten dieses Bündnis auch auf Russland auszudehnen, was schließlich ja auch 1907 gelang. Und später wurden dann auch Verhandlungen mit Russland hinsichtlich einer Marinekonvention aufgenommen. Der Krieg kam aber schon vor Abschluss zu Stande.

2. Andreas Rose, Konrad Canis und andere sind ebenfalls aktueller Forschungsstand und werden von dir abglehnt. Du gibst beispielsweise Zara Steiner an. Ihr Werk ist aber auch nicht mehr tauffrisch, es ist immerhin schon 1986 erschienen, und wurde in Großbritannien und den USA sehr gelobt. Ins Deutsche wurde es erst gar nicht übersetzt im Gegensatz beispielsweise zu George Monger oder ganz aktuell Christopher Clark und demnächst Sean McMeekin.

3.Die Splendid Isolation wurde bereits von der konservativen Vorgängerregierung Balfour und Landsdowne "überwunden", allerdings ohne dabei sich dabei so dermaßen einseitig festzulegen und eigene vorhandene Handlungsspielräume in der auswärtigen Politik aufzugeben.

Grey ging gleich zur Sache. Er hat Benckendorf schon gleich beim ersten Gespräch eine Enigung über die strittigen Fragen in Ausssicht gestellt, ohne das die Russen groß etwas dafür getan oder geboten hätten. Benckendorf und noch mehr der Zar düften sich verwundert die Augen gerieben haben. Großbritannien befand sich nach der Niederlage des Zarenreichs gegen Japan in einer sehr guten Lage, die aber von Grey überhaupt nicht adäquat genutzt wurde. Er wollte eine Einigung mit Russland, dem wurde fast alles untergeordnet. Das Foreign Office hätte wohl mehr herausholen können.
 
Spontan eine Antwort zu disem Punkt (und ich sehe die anderen auch anders). Mit Kennedy (vgl. Literaturliste) will ich Dir punktuell widersprechen, der auf die Unterschätzung, ja geradezu Geringschätzung der russsichen Armee hinweist.

Und dieses war für die Bewertung vor 1914 relevant, da man "allseits" von einem kurzen Krieg ausging.


Der preußische Kriegsminister von Heeringen brachte im April 1913 vor der geheimen Reichshaushaltskommission folgendes zum Ausdruck: "Ein bisher unerhörter Grad an Kriegsbereitschaft sei auf Seiten der Russen erreicht und die gesamte Reorganisation werde werde wohl in 2 Jahren abgeschossen sein." (1)

(1) Groh, Die geheimen Sitzungen der Reichshaushaltskommission vom 24.04. und 25.04.1913. Bericht des Generalmajors Wenninger am 24.04.1913 an den Bayrischen Kriegsminister.
 
Der Führer der Tories, Lord Balfour argumentierte schon 1909 vor amerikanischen Diplomaten für die Notwendigkeit einen Kriegsgrund gegen das DR zu finden, bevor Dieses zu stark würde. Er wird bei Allan Nevis (Henry White, Thirty years of american diplomacy" mit folgenden Worten zitiert, die die "verfolgten Ziele" gut zusammenfassen:

"Wir sind wahrscheinlich töricht, daß wir keinen Grund finden, um Deutschland den Krieg zu erklären, ehe es zu viele Schiffe baut und uns unseren Handel wegnimmt"
...
In Fragen Handel waren die Briten schon zu Napoleons Zeiten empfindlich. Wie sah es denn Anfang des 20. Jahrhunderts aus, war das Deutsche Reich da in der Lage, seewirtschaftlich den Briten Paroli zu bieten?

Was die Politik angeht, bin ich schon irritiert. GB verbündet sich mit Frankreich, offiziell der Kolonien halber, und weiß nicht (oder negiert es), dass Frankreich noch eine "Rechnung" mit dem deutschen Reich "offen" hat (Elsaß-Lothringen), mal von den "natürlichen Grenzen" völlig abgesehen. Ist das nicht eine Politik einer Insel, die den Kontinent britisch betrachtet, weil die Insel militärisch (noch) nicht erreicht werden kann?

Grüße
excideuil
 
Den geostrategischen, und ökonomisch-militärischen Hintergrund des anglo-französischen Interessenausgleichs (und seinen Kontext zum Bündnis mit Japan) resümiert Sumida, in: The Fog of Peace and War Planning.

"The Anglo-Japanese alliance of 1902, which called for joint belligerency in the event that either party was attacked by two others, redressed British naval weaknesses in Asian waters vis-à-vis France and Russia, but was accompanied by the danger of involvement in a major war precipitated by Japanese action. This contingency did not come to pass in 1904 when Japan attacked Russia because France remained neutral. The British government, nonetheless, believed that hostilities with France and Russia, and perhaps even Germany as well, were possible and even likely. Moreover, Russian victory – which the British expected – would result in a less favorable naval situation in the Far East. While all these issues were in play, the cabinet informed the Admiralty that significant cuts in naval spending were immi- nent. The combination of international crisis and downturn in the navy’s fiscal outlook prompted Lord Selborne, the civilian naval minister (First Lord), to seek a radical change in the direction of British naval policy."

Alle britischen "Konkretisierungen" der Absprache, unter permanentem französischen Druck auf den "Verbindlichkeitscharakter", wies GB bis 1914 zurück. Dutzende Vorgänge dieser Art - meist in Zusammenhang mit politischen Krisen, in die Frankreich verwickelt wurde - wies GB diplomatisch zurück. Bezeichnenderweise gibt es noch 1913 Memoranden und Lageanalysen, die ratlos die Beistands-Frage offen ließen und als nebulös empfanden. Das hatte einen triftigen Grund: sämtliche diplomatische Noten über den fehlenden "Automatismus" sollten dämpfend auf Frankreichs Krisenbereitschaft wirken bzw. ausschließen, dass Frankreich mit einer "harten Patronatserklärung" GBs im Rücken Eskalationsbereitschaft zeigt.

Der Ritt auf der Rasierklinge: sämtliche "Zurückweisungen" sollten andererseits nicht einen Bruch des Interessenausgleichs provozieren.

Die militärischen Absprachen haben (in ihren qualitativen Steigerungen) unmittelbaren Bezug zu den beiden Marokkokrisen. Sie änderten nichts am Grundgehalt der Vereinbarung, dass GB möglicherweise im Fall eines deutschen Angriffs helfen würde, nicht jedoch bei einem durch Frankreich ausgelösten Krieg. Die Verfestigung 1911 Stand zudem im Kontext der festen Prognose des General Staff, dass Deutschland die belgische Neutralität verletzen würde (1906 war das weicher prognostiziert, aber die Anfänge der britischen "Kontinentalplanung" vor 1906 kreisten stets um "Antwerpen". Der Wert der anglo-frz. Militärabsprachen wurde von frz. Seite noch bis 1914 als wertlos bzw. vernachlässigbar eingeschätzt. Von frz. Seite gab es daher ständig Forderungen auf erhöhte britische Kontingente.

Der Wert der Planungen steht weiter in dem Kontext, dass es im GS außerdem (neben Kriegsfall Deutschland) die jährlichen Szenarien Krieg gegen Frankreich (nach 1904!), gegen die USA, gegen Russland (nach 1907!), Kolonialkrieg in Afrika und "Small Wars" gab. Das "Continental Commitment" der Army ist außerdem vor dem Hintergrund zu sehen, im Tauziehen um die Budgets mit der Navy ihre Bedeutung zu erhöhen. Strachan (in: The British General Staff) resümiert:

"In the same year John Gooch’s The Plans of War: The General Staff and British Military Strategy, c. 1900–1916 not only examined the creation of the General Staff as an institution but also drew attention to those of its plans which were never implemented as well as those which were. Gooch abandoned McDermott’s vocabulary of revolution for that of gradualism, dubbing the period 1902– 07 as one of ‘strategic reorientation’. For him 1910, not 1906, let alone 1904, was when this process of change hardened. In August of that year Sir Henry Wilson was appointed DMO.
In the foreword to his collection of essays, The Prospect of War (1981), Gooch was even more forthright in condemning the work of d’Ombrain and McDermott.
Edward Spiers’s study of Haldane as an army reformer, published in 1980, endorsed Gooch’s view. Spiers dismissed Haldane’s claim that he had set about the creation of a British Expeditionary Force (BEF) in 1906 with a view to fulfilling the army’s continental commitment in 1914. The BEF, Spiers insisted, was a force designed for intervention anywhere in the world, not just in Europe. It was the solution to a long- standing dilemma: the pressure to scatter British regular forces around the empire in penny packets as opposed to the need to create a central strategic reserve. At least until 1907 and the Anglo-Russian entente, and even implicitly thereafter, the continent for which the BEF seemed to be destined was Asia, not Europe, and its putative opponent Russia rather than Germany. Spiers, like Gooch, pinpointed Henry Wilson’s arrival as DMO in August 1910 as the moment of change.
Wilson’s drive, enthusiasm and complete conviction about the necessity to render effective land support to France were to provide the stimulus to move military strategy on from the period of consideration and of deciding between alternatives to that of detailed planning for action."

1909/10 liefen außerdem die britischen Scares über den Marine-Rüstungswettlauf mit dem Deutschen Reich auf Hochtouren.

Das Abkommen mit Frankreich selbst wurde weiter weich gehalten, jede britische Garantie wurde vermieden, Andeutungen über einen möglichen Beistand bei einem deutschen Überfall mit Vorbehalt einer dann fälligen Entscheidung versehen.

Aus dem Grund gab es auch keinen Faktor "Elsaß-Lothringen" in diesem Abkommen, da kein Beistandsfall (ebenso übrigens die russische Postion, sich nicht in einen von Frankreich provozierten Revanche-Krieg ziehen zu lassen).

Alle folgenden politischen Zuspitzungen waren aus britischer Sicht (Grey, aber auch andere) eine Gradwanderung, die Interessenausgleiche nicht durch Brüskierung aufs Spiel zu setzen (wie 1905 oder im Fall Russland/Liman-von-Sanders-Krise) und andererseits keine Bündnisse zu erhärten, die GB mit Automatismus in einen Krieg ziehen könnten.
 
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