Das Hauptproblem, was ich an der ganzen Fragestellung sehe, ist der historische Wert der Weihnachtsgeschichte (bzw aller Bibel-Erzählungen über Jesu, die vor seiner Wandlung zum Wanderprediger spielen). Viel einacher ist es mE, anzunehmen, die Geschichte mit der Geburt in Bethlehem sei von den Autoren der Bibelgeschichten erfunden (oder in bester Überzeugung für wahr gehalten) worden, um Jesus in die Abstammungslinie von David zu stellen, und so die Prophzeiungen des AT aufzugreifen. Dass Jesus Heimatort Nazareth war ist wesentlich besser verbürgt, die Annahme, er sei auch dort geboren worden und stamme nicht aus "dem Stamme Davids" eigentlich naheliegend... aber das passt halt nicht unbedingt zur "Vorgeschichte"...
Es ist gut, dass Überlegungen in diese Richtung, wie sie ja auch die Fachleute anstellen, in Diskussionen wie diesen hier zwischendrin immer mal formuliert werden, weil hier ja zum Teil sehr viel unter der Prämisse der Historizität dieser Geschichten geschrieben wird. Ich für meinen Teil überlege halt gerne, was historisch dahintersteckt und wie das alles abgelaufen sein kann, falls Lukas tatsächlich historisch zutreffende Überlieferungen verarbeitet hat.
Es würde organisatorisch Sinn ergeben, wenn es in Bethlehem irgendwelche Listen oä Informationen gegeben hätte, in denen die "Nachfahren Davids" erfasst worden wären. Dann hätte eine Ansage wie "Alle begeben sich dorthin, wo sie [steuerlich] erfasst sind" einen Wert. Nur habe ich von sowas auch noch nicht gehört.
Danke, dieser Gedanke bringt mich auf einen ähnlichen.
Mein Vorschlag dazu, wie die Zuständigkeitsorte für die Herodes-Reich-Bewohner zur Zeit der Lk.-apographe festgelegt worden sind:
Wollten die Römer eine von ihnen bisher unerfasste Bevölkerung wie die im Herodes-Reich, vollständig erfassen, so ist klar – weil sie nicht gleichzeitig im ganzen Land von Haustür zu Haustür gehen konnten und wollten –, dass sie anordneten, jeder einzelne habe sich selbst zu melden und einzuschreiben. Und wo?
Wenn man erst mal alle Einwohner gelistet hat, ist die Beantwortung der Frage einfach: Dort, wo jeder ohnehin gelistet ist (bzw. bei gerade erstmals steuerpflichtig Gewordenen halt dort, wo sie vom Familienvater das letzte Mal bei der Behörde als nichtpflichtiges Kind angegeben worden sind). Bei der ersten Einschreibung überhaupt aber muss man den Menschen den Zuständigkeitsort anderweitig genau charakterisieren.
Arbeitsort und Wohnort der bäuerlichen Bevölkerung ist zwar ziemlich stetig, aber bei bestimmten Menschen- bzw. Berufsgruppen ändern diese sich oft. Tagelöhner und Bauhandwerker (auf Montage) haben vielleicht gar keinen festen Wohnort und arbeiten heute hier, morgen da. Die könnten sich also relativ einfach um eine Registrierung drumherum mogeln. Es empfiehlt sich also nicht gerade, Wohn- oder Arbeitsort zum Zuständigkeitsort zu erklären, weil sonst bei der Erfassung zu viele durch die Lappen gehen können. Wie sieht's nun aber aus mit dem Besitzort? Nicht jeder hat einen solchen, da nicht jeder Land oder Immobilien besitzt. Auch damit lassen sich also nicht alle erfassen.
Die Römer sind nicht dumm und gucken, wie denn Herodes die Personalsteuer seiner Untertanen flächendeckend einzieht. Die königliche Verwaltung hat die Untertanen längst steuerlich erfasst. Jeder Einwohner weiß, wo er hingehen muss, um dem König seine jährlichen Abgaben zu zahlen. Also geben die Römer die Order heraus, jeder solle sich bei derjenigen lokalen Behörde melden und einschreiben, die bisher für ihn als Personalsteuerzahler maßgeblich und zuständig war. Dort können die röm. Zensusbeamten die eingehenden Meldungen mit den königlichen Listen abgleichen (oder überlassen den einheimischen Behörden dieses Geschäft, vergewissern sich dann nur der Vollständigkeit der Erfassung durch Stichproben und Abschreckungsstrafen im Falle von Schummelei oder Schlamperei). Nach sich nicht meldenden „Steuerflüchtigen“ wird halt gefahndet (wobei man sich auch auf die bisherigen Wege und Mittel der königlichen Steuerfahndung gestützt haben mag bzw. dieser diese Arbeit übertragen haben mag). Insgesamt aber haben die Römer auf diese Weise die beste Chance, die Bevölkerung vollständig zu erfassen.
Joseph nun hätte in solchem Fall Bethlehem angesteuert, weil er da auch bisher immer seine Personalsteuern an den König abgetreten hatte. Nach Matthäus war Joseph in Bethlehem zu Hause. Sein von Lukas ausgesagter Aufenthalt in Nazareth vor der Geburt Jesu mag also ein zeitweiliger, ursprünglich berufsbedingter Aufenthalt gewesen sein. In jenen Jahren, als er in Nazareth war, zahlte er seine Personalsteuern an die Königlichen vermutlich, wenn er als jährlicher Festbesucher Jerusalems ohnehin in der Nähe von Bethlehem war. Es lässt sich annehmen, dass Bethlehem Josephs Heimatstadt – auch steuerlich gesehen! – war, wo er herstammte, aufgewachsen war, und größtenteils gelebt hat. (Dass Bethlehem der Stammort der Familie Josephs war, legt ja auch die von uns woanders schon mal diskutierte Erzählung des Hegesipp bei Euseb.: hist. ecc. III 20 nahe, nach welcher Nachkommen dieser Familie noch unter Domitian in Bethlehem lebten.)
Wenn man annimmt, dass der Zuständigkeitsort der apographe bei Lukas für den einzelnen Steuerpflichtigen genau derjenige Ort war, an dem er unter Herodes schon immer seine Personalsteuern gezahlt hatte, dann stellt sich sofort die nächste Frage: Nach welchen Kriterien hat denn Herodes zum aller ersten Mal den Zuständigkeitsort bestimmt?
Ich vermutet, dass er sich da gar nichts Neues einfallen lassen musste, weil die Hasmonäer ja schon vor ihm Steuern eingezogen hatte und er deren Strukturen im Groben einfach nur zu übernehmen brauchte. So hatte die Einrichtung der Zuständigkeitsorte in den jüdischen Kerngebieten vermutlich seit Mitte des 2. Jhs., seitdem die Makkabäer/ Hasmonäer einen unabhängigen Staat gegründet hatten, Bestand. Dass in der Zeit von damals bis kurz vor der Zeitenwende nicht alle Familien am gleichen Fleck blieben, ist klar. Natürlich konnte man sich weit weg von der Heimatstadt und damit weit weg vom bisherigen steuerlichen Zuständigkeitsort dauerhaft niederlassen. Wenn einem der jährliche Weg zum alten Zuständigkeitsort zu blöd war, stellte man bei den Behörden vermutlich einen Antrag auf Änderung der Zuständigkeit. Trotz solcher Umzüge und Änderungen in nicht wenigen Einzelfällen dürfte auch unter Herodes noch immer ein Großteil der Bindungen bestimmter Geschlechter und Familien an bestimmte Zuständigkeitsorte aus der Zeit der Einführung des hasmonäischen Steuersystems stammen. Ein Großteil dieser traditionellen Bindungen dürfte sich also über viele Familiengenerationen hingezogen haben, sodass man in vielen Fällen den Zuständigkeitsort mit dem Stammort des Geschlechts gleichsetzen konnte, wie Lukas es im Fall des Joseph tut.
Bethlehem galt den Juden als Stadt Davids. Lukas' Begründung, warum Joseph – da jeder zwecks Einschreibung „in seine Stadt“ gehen sollte (Lk. 2, 3) – nach Bethlehem reist, ist nachvollziehbar: Joseph ging zur Einschreibung nach Bethlehem, „deswegen, weil er aus dem Haus und dem Geschlechts Davids war“ (Lk. 2, 4). Er stammte aus Bethlehem und war dort eben steuerlich erfasst.