Venetisch und Vulgärlatein
Ob die venetische Sprache (neben der gallischen und rätischen) noch nachweisbare Spuren im regionalen Vulgärlatein hinterlassen hat, würde mich interessieren.
Mich interessieren aber nur nachweisbare Spuren und nicht neue windige Spekulationen und absurde Hypothesen.
Beim
Vokabular ist das schwierig festzustellen - nicht nur für Venetisch, sondern ebenso für italische Sprachen und Kontinentalkeltisch, die alle schlecht dokumentierte "Trümmersprachen" sind. Punisch und Etruskisch als nicht IE-Sprachen machen es da einfacher. Einen Beleg gibt es jedoch (
versorium=Wendepflug), wobei hier die Frage ist, ob die Quelle noch Vulgärlatein, oder schon Alt-italienisch bzw. Alt-Venezisch ist:
Veroneser Rätsel ? Wikipedia
Bei einigen bekannten modernen
Entlehnungen aus dem Venezischen (z.B. Cargo, Gondola, Lido) gilt venetischer Ursprung als möglich. Für
Ghetto (ursprünglich Metallarbeiterviertel, vgl. "giessen") wird aufgrund der indoeuropäischen, aber nicht-lateinischen (dort
fundus, gleiche Wurzel, jedoch Anlaut zu "f" verschoben) Wurzel vielfach venetischer Ursprung angenommen. Venezisch
bronza (Feuer, Glut) ist verwandt mit deutsch Brunst, altgriech. πῦρ (pir=Feuer), aber offensichtlich nicht vom ebenfalls verwandten lat.
vapor entlehnt. Hier scheint eine venetische Wurzel wahrscheinlich, teilweise wird jedoch auch Entlehnung aus dem Gotischen angenommen. Ob auch das Wort Bronze (erste Nennungen frühes 14. Jhd. aus Piacenza, Treviso und Venedig) hierauf zurückgeht, wird diskutiert. Alternativ wird Bronze auf hypothetisches, nicht direkt belegtes lateinischen
aes brundisium (Brindisi als vermuteter Anlandeplatz griechischer Bronzeimporte) zurückgeführt, oder direkt vom persischen birinj abgeleitet (Problem hier ist Fehlen im Arabischen als potentiellem Vermittler).
http://it.wikipedia.org/wiki/Lingua_veneta
Bei Durchsicht lexikalischer Unterschiede zwischen Venezianisch und Standard-italienisch im vorstehenden Link fällt auf, dass sie öfters auf lateinische Alternativen zurückgehen - beispielsweise "Nebel": ital.
nebbia (von Lat.
nebula), venez.
caligo (von Lat.
caligo "Dunkel, Finsternis, Dunst, Rauch"). Letzteres hat dann auch noch Parallelen im Keltischen (gael.
scáil Finsternis,
salach dreckig, schmutzig,
salachar Schmutz, Kot), so dass letztlich unklar bleibt, wer da wann von wem entlehnte. Vgl. in diesem Zusammenhang übrigens auch Udolph:
Jürgen Udolph: Die Schichtung der Gewässernamen in Pannonien
Das slavische Sumpfwort *kalú in wruss. kal „Schmutz“, ukrain. kal „Sumpf, Schlamm, Schmutz, Bodensatz“, russ. kal „Kot, Unrat“, poln. kaleñ „Tümpel, dünner Schlamm“, ka³ „Kot, Schlamm“, sorb. ka³, kalnica „Kot, Schlamm“ u.a.m. steckt in hunderten von Gewässer-, Orts- und Flurnamen. Die Kartierung [Karte 6] zeigt den übergroßen Anteil des Westslavischen an der Streuung, eine erneute Häufung im Vorkarpatengebiet und in Slovenien.
[
Auffällig hier, bei Bedeutungsgleichheit "Schmutz, Kot", das "K" im eigentlich den Satem-Sprachen zugerechneten Slawischen, und das "S" in der Kentum-Sprache Gaelisch].
Johannes Hubschmid (u.a. Uni Heidelberg) hat in den fünfziger und sechziger Jahren intensiv am Thema der "
Alpenwörter" gearbeitet. Ich hatte da letztes Wochenende einen schönen Auzug in meinem "abgestürzten" Erstentwurf verlinkt- jetzt finde ich ihn leider nicht mehr wieder. Die von Zimmer angesprochenen Alpenwörter "Palua" und der keltische "Fußweg zum Markt" wurden dort auch diskutiert. [Zum letzteren vgl.auch den vierten Link, er deutet die Wurzel als
troia und verbindet sie u.a. mit lat.trahere (schleppen, ziehen)
]
Nachsehen kannst Du u.a. in folgenden Publikationen, die natürlich nicht nur Venetisch, sondern auch andere in Frage kommende Sprachen abhandeln:
https://books.google.de/books?id=6O...CkQ6AEwAQ#v=onepage&q=Latein bruscare&f=false
https://books.google.de/books?id=FG...zgK#v=onepage&q=Hubschmid Alpenwörter&f=false
https://books.google.de/books?id=4u...DgK#v=onepage&q=Hubschmid Alpenwörter&f=false
http://retro.seals.ch/cntmng;jsessi...e=pdf&rid=vxr-001:1945-1946:8::320&subp=hires
Aus letzterem (gesschrieben in der Hochphase des Pan-Illyrismus) als Auszüge:
- Lad./Friuli baranclo (Zwergkiefer, regional auch Wacholder), nicht-lateinisch, verwandt zu slaw. bora (Kiefer), aus IE *bher (hervorstehen) als Diminuitiv,aus der selben Wurzel u.a auch hervorgegangen dt. Föhre, Buche, Birke, lat. fagus;
- *dasia, in versch. lautl. Varianten im Alpenraum für Tannenzweig bzw.-nadeln (dt-tirolerisch Dachsen), verw. mit alb. dushk (Reisig), norw. duse (Gesträuch), IE-Wurzel *dheu (schütteln);
- *sundru in versch. reg. Varianten für die Latsche, gestellt zu urslav. *sendra (geronnene Flüssigkeit), dt. (ver)sintern;
- Lad./Trent. Poina (Halbbutter), Friuli puine (Buttermilch), verwandt mit lit. pienas (Milch), npers. pinu (Sauermilch) [Hier bemerkenswert Sahne: Lat. cremum, ital. crema und panna];
- *carottu (Buttermilchkübel),dt-tirolerisch Kar (Gefäß), verwandt mit alb. karroqe (Melkkübel), alt-russ korec (Getreidemaß), tschech. korec (Gefäß, Maß, Scheffel), weiterhin auch anord. hverr (Kessel), altir. coire (Kessel) - aber cymr (p-keltisch) pair (Kessel), so dass keltische Entlehnung für die Alpen ausscheidet;
- *mucina/*mokina (Steinhaufen), verwandt mit altgriech. muksos (Haufen), anord. mugi (Heuhaufen);
- Venez. carando (nackter Fels), (Alpen-)dt. Kar, (alt-)irisch Cairn (Steinhaufen), car (Fels), alb. kar-ine (Fels), alle aus IE *(s)qer (schneiden). Zur gleichen Wurzel, jedoch in unabhängiger Entwicklung, gehört auch venez. grebano (Fels, Absturz), lad. grebbana (Fels, steiniger Grund), ital greppo (vorspringender Fels), dt. schroff-
Die Beispiele zeigen die Vielzahl von vorrömischen indogermanischen Wörtern, die im Alpenraum überlebt haben. Ob die alle von den Venetern stammten, ist eine andere Frage - aber bei solchen, die im vormalis venetischen Siedlungsraum heute noch gebräuchlich sind, ist die Wahrscheinluchkeit ziemlich hoch, insbesondere, dann, wenn keltisch lautlich (*q-Wurzel) oder mangels entsprechenden Vokabulars ausscheidet.
Hiervon abgesehen gibt es natürlich diverse
lautliche Eigenheiten im (erweiterten) Siedlungsraum der alten Veneter, die nicht mit dem Westromanischen, auch nicht mit dem Rätoromanischen, interessanterweise jedoch vielfach mit dem Französischen geteilt werden. Einige davon hatten wir hier ja schon diskutiert:
- Sehr weitgehender Lautwandel Kw->k, auch im Anlaut und vor dunklen Vokalen.
- Intervokalischer Ausfall (nicht nur Lenisierung) des "T" bzw. "D".
Zu letzterem fand ich Deinen Verweis zu Trient bemerkenswert. Hull (S. 337ff) zeigt, dass lateinisches intervokalisches "t" und "d" sich regional unterschiedlich entwickelt haben. Das "d" fiel im gesamten rätoromanisch-ladinischen Sprachbereich aus, und zwar offenbar schon sehr früh, da dieser Ausfall germanische Lehnwörter (z.B. wadanjan) nicht betrifft. Alt-Venezianisch zeigt das selbe Phänomen, jedoch nur für den "th"-Laut (benedetto>beneeto, aber sedhere, veder). Für das Trentino gilt das Gleiche (expedire>spedir), so dass das "d" in "Tridentium" anscheinend schon in der Antike als "th" gesprochen wurde. Auf den Zeitpunkt des Ausfalls des intervokalischen "t", der auch im Trentino regelhaft war (acetu>asé, nepote>neó), lässt sich aus dem Tridentum-Beispiel also leider nichts ableiten - wir reden hier, trotz lautlicher Ähnlichkeit, über separate Phänomene bzw. Lautwandelprozesse. Auch beim intervokalischen "d" ist wiederum die Paralele zum Französischen (z.B. credere>croire "glauben") auffällig.
- Die von mir im Vorbeitrag verlinkte Quelle vermerkt weiterhin, dass die alt-vulgärlateinische "Erweichung" des "l" (3. Jhd. v. Chr.) Venetisch nicht umfasste. Die sehr unregelmäßige Entwicklung des "l" im Ostalpenraum mag hiermit in Verbindung stehen. Im Venezischen und Ladinischen findet sich, regional variierend, teilweise Konservierung, teilweise Komplettausfall des "l", jedoch nirgendwo die sonst für romanische Sprachen typische Palatisierung; vgl "Sohn": Lat. filius, span. hijo, ital. figlio, venez. fio, frz. fils (dort ebenfalls Komplettausfall, jedoch nicht bei fille [Tochter]).
- Gvozdanovic schliesslich beschreibt die Lenisierung des "g" zu "j", teilweise auch intervokalischer Komplettausfall, als phonetisches Merkmal des Venetischen. Auch dieses Phänomen ist sehr ausgeprägt im Venezischen, Friaulischen, sowie Ladinischen, fehlt jedoch in einzelnem rätoromanischen Varianten (vgl. Hull S. 330ff).
Morphologisch schließlich scheint der
venetische "s"-Aorist im heutigen Venezisch fortzuleben, vgl. "Ich habe gemacht": Venet.
(m)ego vhagsto, Venez. Mi go faze
sto, Lat.
feci, ital.
Io ho fatto.
Während z.B. die umbrisch-oskische Substratwirkung auf das Vulgärlatein gut bekannt ist, scheint sich erstaunlicherweise, trotz der o.g. Phänomene, bislang niemand die Mühe gemacht zu haben, venetisches Substrat genauer zu erforschen. Epigraphisch lässt sich eine relativ lange Phase der Zweisprachigkeit vom späten 2. Jh.v. Chr. bis Ende des 1.Jh.n. Chr. erschliessen.
Raixe Venete, el jornale dei Veneti - RaixeVenete.net, el sito Veneto - in lingua veneta (dialetto veneto)
Der sehr lange und graduelle Prozess des Sprachwandels wir u.a. auf die traditionelle Rolle des Venetischen als ostalpine Verkehrssprache, und sein entsprechend hohes Sozialprestige zurückgeführt (letzteres gilt ja auch für Venezianisch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit). Auch die hohe politische und wirtschaftliche Autonomie (z.B. keine römischen Münzfunde aus voraugusteischer Zeit im Veneto, dagegen venetisch beschriftete Münzprägung im Noricum) bremste die Romanisierung. Die traditionelle Ähnlichkeit mit dem Latein, aber auch dem Keltischen, erschwert die Identifikation von Ausmass und Richtung der Akkulturationsprozesse.
http://www.latinitas.altervista.org/pdf/storia03.PDF
Ab dem 2. Jhd n. Chr. haben Inschriften romanischen Charakter, jedoch den sehr eigenständigen des "
latino aquileiese", welches auch die Romanisierung Raetiens prägte. Das "latino aquileiese" wiederum wird häufig als direkter Vorgänger des Friulischen angesehen.
https://books.google.de/books?id=oQ...Q6AEwAA#v=onepage&q=latino aquileiese&f=false
https://books.google.de/books?id=3R...Q6AEwAQ#v=onepage&q=latino aquileiese&f=false
Storia del gradese
Ai tempi di Aquileia romana, a Grado si parlava probabilmente lo stesso linguaggio, un latino dei soldati e coloni in prevalenza sanniti, con influenze di una base veneta preesistente.
Sinngemäss: "Zur Zeit des römischen Aquileia sprach man in Grado wahrscheinlich den gleichen Dialekt, ein Latein der Soldaten und Kolonen vorwiegend sabellianischer Herkunft, mit Einfluß der vorherigen venetischen Basis".
Der aus Istrien stammende, u.a. in Aquileia ausgebildete Heilige Hieronymus (
Liber de viris illustribus Patrologia Latina, t. XXIII, c. 97, coll. 735-738) berichtet, dass der damalige Bischof Aquileias eine Bibelübersetzung in
sermone rustica angefertigt hätte. Dies wird, je nach Lesart, als Beleg für frühe Auffächerung des homogenen romanischen Sprachraums, oder Beweis, dass ein solcher nie existierte, gedeutet.
http://www.eurocomrom.de/compact/kurs/minifriaul.pdf
Auch hier sei darauf hingewiesen, dass Hieronymus lateinische Bibelübersetzung, die Vulgata, durchaus durch dessen istrisch-venetische Herkunft geprägt sein mag (er bekennt sich ja ausdrücklich zur Nutzung der Volkssprache) und somit als Referenz für die Rekonstruktion des Spätlateins nicht unproblematisch ist. In ihrer Bedeutung für die romanische Sprachentwicklung dürfte die Vulgata kaum hinter der von Luthers Bibelübersetzung für das Deutsche zurückstehen.
http://de.wikipedia.org/wiki/Hieronymus_(Kirchenvater)
Auch die lautlichen Parallelen zwischen Venezisch/ Ladinisch und Französisch, unter Umgehung des Rätoromanischen, scheinen nur unzureichend erforscht. Der traditionelle Ansatz des keltischen Substrats vermag diverse Phänomene wie z.B. den weitgehenden Kw->K Wandel, nicht zu erklären. Es ist natürlich verlockend, hier die armorikanischen Veneter ins Spiel zu bringen, aber dies scheint mir, abgesehen von allen Fragen zu ihrer Sprache, deren demographische Relevanz zu überzeichnen. Plausibler ist hier zum einen die hochmittelalterliche Sprachkette Venedig<>Genua<>Provencal (vgl. u.a. Hull). Darüber hinaus stammten wesentliche karolingische Sprachreformer (Paulus Diaconus, Paulinus von Aquileia) aus Friaul, also dem Raum des "latino aquilieise".
Bedenkt man schließlich noch, dass die "Romanisierung" der Goten und Langobarden in diesem Dialektraum ihren Anfang nahm, könnte man die Eingangsfrage eigentlich schon fast umkehren: Wieviel ursprüngliches Latein war noch im venezisch-friaulisch geprägten "Vulgärlatein" des Frühmittelalters enthalten? Gut, das ist überspitzt, aber es verdeutlicht die Problematik.