Urchristliche Gemeinden

Ich glaube, hier passt er wieder gut. In diesem letzten großen stoischen Werk stellt der Kaiser die Kardinaltugend des Bürgers dar, die Opferbereitschaft für das Allgemeinwohl, das heißt die römische Identifikation
Was hat die "römische Identifikation" mit der Opferbereitschaft zu tun? Im Übrigen war die Stoa kosmopolitisch ausgerichtet.

Ein anderer Beweis, wie wichtig die Identifikation war, ist das Judentum. Israel war das einzige Gebiet/Volk, an dem die Romanisierung misslang, mit dramatischen Folgen.
Mit Ausnahme von Teilen des Balkans wurde der ganze Osten des Reiches nie romanisiert. Aber auch in Britannien dürfte sie sich eher auf die Städte beschränkt haben.

Hierin bestand aber eine Konkurrenz zur römischen Identifikation, wie sie Mark Aurel anstrebte, zumal beide sehr ähnlich waren: Sie beruhten weitgehend auf der Lehre der Stoa und waren kosmopolitisch ausgerichtet.
Dass das Christentum auf der Stoa basierte, ist aber nur Deine Theorie, keine Tatsache.

Es geht ja nicht nur um die Briefe. Dieser Thread zeigt, dass auch außerhalb radikalkritischer Positionen der Themenkomplex ´Apg und historische Wahrheit´ alles andere als unumstritten ist. Zudem spielt das Thema Briefe in der Apg durchaus eine gewisse Rolle, nur eben nicht in Bezug auf Paulus´ eigene Korrespondenz. Ich habe alle Stellen aus der Apg zusammengestellt, die über einen Brief oder mehrere Briefe handeln:
Natürlich werden in der Apostelgeschichte öfters mal Briefe erwähnt - wenn sie für die Darstellung der Ereignisse eine Rolle spielten. Aber warum sollten die Paulus-Briefe erwähnt werden? "Übrigens, in jener Zeit schrieb Paulus in einer ruhigen Stunde einen Brief an die Korinther"?
Auch hier noch einmal mein Vergleich mit Cicero und Cassius Dio: Auch Cassius Dio erwähnt in seinem Geschichtswerk häufig Briefe - wenn sie für die Geschichte eine Rolle spielten. Aber es bestand eben kein Grund, im Rahmen der Geschichtsdarstellung öfters mal zu erwähnen: "Nach diesen Ereignissen schrieb Cicero einen Brief an Atticus und einen an Terentia, in denen er seine finanzielle Situation auseinandersetzte."

Luther 1984 übersetzt:

Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel; woher wir auch erwarten den Heiland, den Herrn Jesus Christus,…

Elberfelder übersetzt:

Denn unser Bürgerrecht ist in <den> Himmeln, von woher wir auch <den> Herrn Jesus Christus als Retter erwarten

Wuppertaler Studienbibel:

Denn unser Bürgertum ist in den Himmeln, von wo wir auch als Retter sehnlich erwarten den Herren Jesus Christus….
Die Einheitsübersetzung übersetzt: "Unsere Heimat aber ist im Himmel. Von dorther erwarten wir auch Jesus Christus, den Herrn, als Retter,"
In der Vulgata wurde "politeuma" gar mit "conversatio" übersetzt, also: "Unser Aufenthalt aber ist in den Himmeln ..." (Da Hieronymus noch das lebendige Altgriechisch kannte, finde ich es besonders beachtenswert, für welchen lateinischen Ausdruck er sich entschied.)
Alles nicht so eindeutig also.
 
Zuletzt bearbeitet:
Was hat die "römische Identifikation" mit der Opferbereitschaft zu tun? Im Übrigen war die Stoa kosmopolitisch ausgerichtet.
Opferbereitschaft ist ein wichtiges Thema der Stoa (z.B. Marcus Cato bei Seneca). Die Selbstbetrachtungen sind ein Bekenntnis zum Dienst und damit zur Opferbereischaft für das Gemeinwohl und so verstehe ich auch Mark Aurels Zitat. Er selbst oder ein Erbe hat sein Opus als vorbildlich für die Menschen des Reichs angesehen und deshalb bewahrt.

Mit Ausnahme von Teilen des Balkans wurde der ganze Osten des Reiches nie romanisiert. Aber auch in Britannien dürfte sie sich eher auf die Städte beschränkt haben.
"Romanisiert" bezog sich auf die kulturelle Eingliederung der Völker in das römische System. Ich meine damit nicht den sprachlichen Aspekt des Wortes. Selbst die griechischsprechenden Byzantiner sahen sich als "Römer". Griechisch ist für mich eine der beiden Reichssprachen. Britannien kann in gewisser Weise ein Sonderfall sein, aber auch dort wird von einer Akzeptanz der römischen Herrschaft und Kultur auszugehen sein.

Dass das Christentum auf der Stoa basierte, ist aber nur Deine Theorie, keine Tatsache.
Das ist nicht einmal meine Theorie. Mein Modell sieht Jesus in der engeren stoischen Tradition, das rechtgläubige Christentum basiert aber auf Paulus. Schau' Dir aber diesen Paulus von Tarsos an: 50% Stoiker, 30% Kyniker, 20% Jude ist meine Einschätzung. Das Christentum ist aber nicht mehr als stoisch im engeren Sinne zu sehen. Ein Stoiker grenzt sich nicht gegen andere Menschen ab. Auch der "fremde Gott" der Gnostiker passt nicht mehr zu dieser Philosophie.

Auch hier noch einmal mein Vergleich mit Cicero und Cassius Dio: Auch Cassius Dio erwähnt in seinem Geschichtswerk häufig Briefe - wenn sie für die Geschichte eine Rolle spielten. Aber es bestand eben kein Grund...
Wenn wir weiter off topic über die Apostelgeschichte (Apg) diskutieren wollen, wäre es hilfreich, das Motiv für die Erstellung dieses Werks an sich darzustellen:
Für mich ist es der Versuch, eine Kontinuität zwischen dem Jesus des Lukasevangeliums und den "Aposteln" des rechtgläubigen Christentums herzustellen. Deshalb kann auch Paulus plötzlich Wunder wirken (sagt er auch nichts drüber in seinen Briefen). Deshalb wird Simon magus als "Witzfigur" der Gnosis erwähnt. Die Situation nach Paulus' Tod war prekär: Es gab eine sehr große Gemeinde rechtgläubiger Christen, aber ein Rechtfertigungsvakuum. Ihr Apostel hatte Jesus nicht einmal gekannt. Die Wunder in der Apg und bei den Synoptikern dienen unter anderem der Rechtfertigung der Nachfolge und des Beweises, den "heiligen Geist" zu besitzen.
Deshalb spielen diese Wunder kaum eine Rolle bei den Gnostikern. Mir fällt so spontan gar keine Nennung eines der Wunder ein, aber vielleicht kann mir jemand aushelfen...
 
Die Einheitsübersetzung übersetzt: "Unsere Heimat ...
In der Vulgata wurde "politeuma" gar mit "conversatio" übersetzt, ...

conversātio, das Verkehren, Sich-Aufhalten

Ja. Hieronymus übersetzt πολίτευμα auf diese Weise. Und in der EÜ steht für πολίτευμα Heimat.

Wilfrid Haubeck u. Heinrich v. Siebenthal (in: Neuer sprachlicher Schlüssen zum NT, S. 1078) erläutern folgendermaßen:

πολίτευμα = Bürgerrecht; Gemeinwesen, Staat (zu dem man als Bürger gehört), Heimat

Es ist doch nicht abwegig, anzunehmen, dass die Verantwortlichen für die Übersetzung bei Luther 1984 und Elberfelder die Hieronymus-Übersetzung kannten, mit den Eigenheiten des Koine-Griechischen vertraut sind und ihre Wortwahl nach reiflicher Überlegung getroffen haben?

Ich erinnere an den Ausgangspunkt dieser Nebendiskussion:

Judas Phatre schrieb im Beitrag 67:


Wichtig ist eher das Verfahren im ersten Jahrhundert und die Intuition hinter der Verleihung an Nichtrömer. Hier wurde doch absichtlich versucht, eine neue gemeinsame Identität zu schaffen. Sogar Paulus war römischer Staatsbürger.
Mit dem Verweis auf Paulus wird wohl angenommen, es habe bereits in der Mitte des 1. Jhs eine große Zahl von Kilikiern gegeben, die im Besitz des römischen Bürgerrechts gewesen waren.

Dem hatte ich entgegengehalten, dass die Quellenlage diese Annahme nicht stützt. Das Argument von P. Pilhofer dazu hatte ich angemerkt und stelle es gerne nochmals zur Verfügung:

In einer Zeit, in der gerade das syrisch-palästinensische und alexandrinische Judentum einen permanenten politisch-militärischen Unruhefaktor darstellte, hätte es schon eines besonderen Anlasses bedurft, dass die von Geburt jüdische Familie spätestens etwa um Christi Geburt die civitas Romana (durch Freilassung oder Verleihung, kaum durch Kauf) erhielt, worüber sich bei Paulus selbst keinerlei Anzeichen finden.
[...]
Die genannten Listen, die insgesamt 260 römische Bürger umfassen, beziehen sich auf die Zeit vor 212 n. Chr. Bedenkt man die Größe Kilikiens, so ist dies eine verschwindend geringe Zahl. Allein die römische Kolonie Philippi weist in demselben Zeitraum deutlich mehr römische Bürger auf.
Befragt man die Listen nach römischen Bürgern aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, so reduziert sich die Zahl auf ungefähr 105. Von diesen einhundertfünf römischen Bürgern, die möglicherweise dem ersten Jahrhundert zuzuordnen sind, lassen sich ganze drei mit Sicherheit der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts - also der Zeit des Paulus - zuordnen. Wer dem Paulus ein römisches Bürgerrecht zuschreiben wollte, könnte ihn als Nr. 4 in diese Liste aufnehmen.

Diesen Hinweis halte ich für beachtenswert, wobei es für die Beurteilung der Situation in Kilikien unerheblich ist, ob nun Paulus einer von wenigen Kilikiern gewesen war, die das römische Bürgerrecht besessen hatten, oder eben nicht. Eines sollte jedenfalls erkennbar sein: Im Kilikien des 1. Jhs hat es offenbar keine inflationäre Verleihung des römischen Bürgerrechts gegeben. Will man dem Argument keine Bedeutung zumessen, ist es mir auch recht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Diesen Hinweis halte ich für beachtenswert, wobei es für die Beurteilung der Situation in Kilikien unerheblich ist, ob nun Paulus einer von wenigen Kilikiern gewesen war, die das römische Bürgerrecht besessen hatten, oder eben nicht. Eines sollte jedenfalls erkennbar sein: Im Kilikien des 1. Jhs hat es offenbar keine inflationäre Verleihung des römischen Bürgerrechts gegeben. Will man dem Argument keine Bedeutung zumessen, ist es mir auch recht.
Das Problem ist doch, dass wir nicht wissen, was diese Listen aussagen. Wie verhält sich die wirkliche Zahl zu der Zahl der Namen auf den Listen? Ist die eine oder andere repräsentativ wenigstens für eine definierte Bevölkerung oder nicht?
Man kann ja aus der Tatsache, dass in einem bestimmten Zeiträum keine Frauen erwähnt werden, nicht darauf schließen, dass es keine Frauen gab.
 
Es ist doch nicht abwegig, anzunehmen, dass die Verantwortlichen für die Übersetzung bei Luther 1984 und Elberfelder die Hieronymus-Übersetzung kannten, mit den Eigenheiten des Koine-Griechischen vertraut sind und ihre Wortwahl nach reiflicher Überlegung getroffen haben?
Das habe ich nicht in Abrede gestellt. Aber die Verfasser der Einheitsübersetzung werden auch keine Stümper gewesen sein. Wenn sie trotzdem einen ganz anderen Ausdruck wählten, zeigt das die Vieldeutigkeit/Vielschichtigkeit von politeuma und dass man den Begriff nicht einfach auf "Bürgerrecht" einengen kann.
 
In der Vulgata wurde "politeuma" gar mit "conversatio" übersetzt, also: "Unser Aufenthalt aber ist in den Himmeln ..." (Da Hieronymus noch das lebendige Altgriechisch kannte, finde ich es besonders beachtenswert, für welchen lateinischen Ausdruck er sich entschied.)

In der Vulgata wird die Stelle mit nostra autem conversatio in caelis est übersetzt.Das aber ist eine spätere Verwässerung des ursprünglichen Sinnes, wie Kurt Aland nachgewiesen hat.* Bei Tertullian nämlich, der diese Stelle aus dem Philipperbrief mehrfach in lateinischer Übersetzung anbietet, findet sich überall das lateinische Wort municipatus, das "das politische Verständnis eindeutig" festlegt.

*Kurt Aland: Die Christen und der Staat nach Phil. 3,20, in: Paganisme, Judaïsme, Christianisme. Influences et affrontements dans le monde antique, Paris 1978, S. 247ff.



..., zeigt...dass man den Begriff nicht einfach auf "Bürgerrecht" einengen kann.

Ich denke schon, dass man das kann.

Die Interpretation des Terminus πολίτευμα (politeuma) im Sinne von "Bürgerrecht" ist nicht nur eine zu diskutierende Möglichkeit, sie wird in wissenschaftlichen Kommentaren zu Phil 3,20 überwiegend zugrunde gelegt.

Beispiele:

J. Becker, Paulus, Mohr Siebeck, 1998 Tübingen, S. 262

9.3 Das himmlische Bürgerrecht und die vergehende Welt

Neben dem grundlegenden Problem der neuen Gemeinschaftsbildung mussten die jungen Missionsgemeinden natürlich auch ihr Außenverhältnis neu ordnen. … Der Geist als Zeichen der Endzeit war ihnen schon gegeben. … Ihr Bürgerrecht war nicht mehr an eine bestehende Stadt gebunden, sondern himmlisch (Phil 3,20).

A. M. Schwemer, Himmlische Stadt und himmlisches Bürgerrecht bei Paulus (Gal 4,26 und Phil 3,20), in: M. Hengel (Hrsg.) Die Stadt Gottes, S. 230:

Gewiss wählt Paulus den rechtlich-politischen Begriff…, weil er – wie die Gemeindemitglieder in Philippi - weiß, wie wichtig es ist im gegenwärtig irdischem Leben eine einigermaßen zuverlässige Rechtsordnung zu haben, zu einem πολίτευμα, einer Polis, einem Verein, einer Bürgerschaft zu gehören und damit ein πολίτευμα als "Bürgerrecht" gleich welcher Art zu besitzen.

Dirk Schinkel, Die himmlische Bürgerschaft, 2007 Vandenhoeck & Ruprecht, S. 122:

…darum geht es Paulus in Phil 3,19-21. Ihm liegt nicht an der Ausschmückung dieses πολίτευμα ἐν οὐρανοῖς in apokalyptischen Farben, sondern die Deutung der Zukunftshoffnung von der Gegenwart her. Das, was die Gemeinde Hier und Jetzt bewegt, ist bei Paulus Dreh- und Angelpunkt seiner Verkündigung. Das politische Bürgerrecht,…, nimmt Paulus auf durch das Motiv von der "himmlischen Bürgerschaft"…
 
Ein erklärungsbedürftiger Punkt in Sachen Apostelgeschichte betrifft eine Stelle in Kap. 28. Dort hält Paulus eine Abschiedsrede an die Gemeinde von Ephesus und sagt u.a. folgendes:

28 So habt nun acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in welcher der Heilige Geist euch zu Aufsehern gesetzt hat, um die Gemeinde Gottes zu hüten, die er durch sein eigenes Blut erworrben hat! 29 Denn das weiß ich, dass nach meinem Abschied räuberische Wölfe zu euch hineinkommen werden, die die Herde nicht schonen; 30 und aus eurer eigenen Mitte werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen in ihre Gefolgschaft.

Mit den "reißerischen Wölfen" und den "verkehrte Dinge redenden Männern" sind, zumindest überwiegend, jene Gnostiker gemeint, die in den Paulusbriefen die Gegner darstellen, welche den Anlass für die brieflichen Ermahnungen an diverse Gemeinden bilden. Nachfolgend zitiere ich dazu (den in der Authentizitätsfrage betr. Paulus und Apg durchaus konservativen) Prof. Kurt Rudolph, der darauf hinweist, dass die gnostischen Tendenzen innerhalb der von Paulus gegründeten Gemeinden ein, aus orthodoxer Sicht, gravierendes Problem darstellten, welches die Gemeinden zu (Zitat) "zerrütten" drohte:

(Aus: „Neues Testament“ - Einführungen – Texte – Kommentare, S. 321)

Seine (echten) Briefe, die er zwischen 41 und 52 verfasst hat, enthalten wiederholt eine leidenschaftliche Frontstellung gegen falsche Lehrmeinungen, die sich in den meist von ihm gegründeten Gemeinden breitmachten und zu denen auch gnostische gehörten. Am deutlichsten ist dies in Korinth der Fall gewesen, wo Paulus um 41 eine Gemeinde gegründet hatte, an die er später (ca. 49/50) die beiden berühmten Briefe schrieb (sie sind genauer besehen eine Briefsammlung). Aus der Polemik geht die gnostische Herkunft der Gegner deutlich hervor. Es sind Pneumatiker und «Vollkommene», die auf ihre «Erkenntnis< stolz sind und denen «alles erlaubt ist; daher schauen sie auf die «Schwachen» herab. Als Geistbesitzer haben sie schon die Auferstehung. Die Gemeindeversammlung wird zu einer Demonstration gnostischer Geistbesessenheit, Frauen sind dabei aktiv. Das Abendmahl wird zu einem Sättigungsmahl degradiert. Man lässt sich für die Toten taufen. Der irdische Jesus wird offenbar zugunsten des himmlischen Christus verachtet, was später auch von den sogenannten Ophiten berichtet wird. Das gnostische Freiheitsverständnis scheine die Gemeinde des Paulus zerrüttet zu haben. Die jüdische Herkunft dieser «Apostel» wird ausdrücklich festgehalten. Außer in Korinth hat es offenbar auch in anderen Paulinischen Gemeinden ähnliche Verhältnisse gegeben, die auf gnostische Propaganda zurückgehen, etwa in Thessalonich (heute Saloniki), Philippi (Mazedonien), Kolossae und Ephesus (in den beiden letzteren allerdings erst nach Paulus).

Die beschriebenen Sachverhalte werfen in Verbindung mit der eingangs zitierten Apg-Stelle mehrere Fragen auf:

Wenn denn nun die gnostischen ´Unterwanderer´ der Gemeinden eine Gefahr für den ´wahren Glauben´ darstellten, warum werden sie in der Apg nicht als reale gegenwärtige Bedrohung thematisiert, sondern

a) lediglich an einer Stelle überhaupt erwähnt (28,29 ff.)

und

b) dann auch noch in die Zukunft projiziert ("dass nach meinem Abschied räuberische Wölfe zu euch hineinkommen werden, die die Herde nicht schonen; 30 und aus eurer eigenen Mitte werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen in ihre Gefolgschaft (...)"

c) Warum werden, um zum Briefthema zurückzukehren, nicht die Briefe erwähnt, die der Abwehr jener ´Gefahr´ dienten? Raveniks Einwand, dass die Briefe nur für nachweltliche Exegeten von erstrangiger Bedeutung seien, wird durch die Brisanz der Umstände, welche den Anlass für die Abfassung der Briefe bildeten, widerlegt. Wie kann die gnostische ´Unterwanderung´ (laut den Paulusbriefen) ein veritables Problem sein, die Briefe, die ihrer Bekämpfung dienen, einer Erwähnung in der Apg aber nicht würdig?

Das widerspricht sich.

Dass die bekämpften ´Irrlehrer´ tatsächlich Gnostiker sind, ist z.B. aus folgender Stelle ersichtlich, die definitiv auf Gnostiker anspielt:

(2Kor 11,1 ff.)

Denn wenn der, welcher zu euch kommt, einen anderen Jesus verkündigt, den wir nicht verkündigt haben, oder wenn ihr einen anderen Geist empfangt, den ihr nicht empfangen habt, oder ein anderes Evangelium, das ihr nicht angenommen habt, so habt ihr das gut ertragen. (…)

Denn solche sind falsche Apostel, betrügerische Arbeiter, die sich als Apostel des Christus verkleiden. Und das ist nicht verwunderlich, denn der Satan selbst verkleidet sich als ein Engel des Lichts.


Nach Offb 2,6 waren es, legen wir einmal deren Datierung um 100 zugrunde, in Ephesus zu dieser Zeit die gnostischen Nikolaiten, die im Sinne der Orthodoxie eine Gefahr für die dortige Gemeinde darstellten.

Frage: Ist Apg 28,29 ff., ihre Frühdatierung um die Mitte des 1. Jh. vorausgesetzt, also als „Prophezeiung“ zu verstehen, die tatsächlich ein paar Jahrzehnte später in Erfüllung ging? Hätte ein Autor um die Mitte des 1. Jh. tatsächlich riskiert, dass sich in Ephesus – entgegen der ´Prophezeiung´ - nach Paulus´ Abschied gar keine ´Irrlehrer´ einfinden, womit die Wahrhaftigkeit der Textstelle widerlegt wäre, was gläubige Leser gewiss irritiert hätte?

Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang also obige Fragestellung b): Warum wird die Gefahr, Ephesus betreffend, in die Zukunft projiziert?

Der angebliche Zeitpunkt der Abschiedsrede in Ephesus fällt in das Jahr 56, nach vier Jahren eines dortigen Aufenthalts, in denen Paulus mehrere Briefe verfasst haben soll (dazu gibt es Datierungen, die von den oben zitierten bei Rudolph leicht abweichen), welche zumindest teilweise die Bekämpfung der gnostischen ´Irrlehre´ zum Inhalt hatten. Auch in Ephesus müsste also die gnostische ´Gefahr´ mittlerweile virulent geworden sein, nur eben nicht laut Apg, denn diese projiziert, wie zitiert, die Gefahr in eine unbestimmte Zeit nach Paulus´ Abreise.

Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten:

1) Der Autor hat die Apg - entsprechend der orthodoxen Meinung - noch vor Paulus´ (angeblichem) Tod um das Jahr 60 verfasst, die (laut Paulusbriefen erhebliche) Gegner-Problematik aber stark heruntergespielt, indem er sie nur an einer Stelle erwähnt und dann auch noch in die Zukunft projiziert. Die Frage stellt sich natürlich: Gibt es dafür einen nachvollziehbaren Grund?

2) Der Autor hat die Apg nicht zu Paulus´ Lebzeiten verfasst, sondern ein Jahrhundert später, als es bereits gnostische Systeme gab, die dem Reifegrad entsprachen, welche für die von Paulus in den Briefen bekämpfte Gnosis vorausgesetzt werden muss. Denn es ist kaum denkbar, dass um die Mitte des 1. Jh. ein hinreichend entwickeltes gnostisches System existierte, das die (angeblichen) Gemeinden zu unterwandern vermochte. Außer zur legendären Simon-Magus-Gestalt gibt es keinerlei Hinweise auf die Existenz einer Gnosis im 1. Jh.

Daraus erklärt sich, dass ein (hypothetischer) Apg-Autor des 2. Jh., d.h. um 150, der die Handlung der Apg frei erfindet, nicht einfach behaupten kann, dass es um die Mitte des 1. Jh. eine gnostische Bedrohung der (angeblichen) Gemeinden schon gab. Vielmehr wäre er gezwungen, diese Bedrohung - wie in der Apg geschehen -, in eine zum Handlungszeitpunkt relative Zukunft zu projizieren. Denn seine gebildeten Leser (um 150) hätten eine hundertjährige Rückdatierung der Gnosis, die aller Wahrscheinlichkeit nach auf einem relevanten Niveau erst im 2. Jh. entstand, natürlich als Märchen durchschaut.

Die daraus zu ziehenden (natürlich immer hypothetischen) Schlüsse haben derart komplexe Implikationen, dass ich sie an diese Stelle (noch) nicht zur Sprache bringen möchte. Erst einmal würde mich interessieren, wie andere User obige Ungereimtheiten zwischen Apg und Briefen interpretieren.
 
Zuletzt bearbeitet:
Corrigendum:

Wieder mal eine Konzentrationsschwäche von mir: Ich meine natürlich Kap. 20, 28 ff. Ich hatte noch das vorher durchgesehene Kap. 28 im Kopf, als mir das unterlief, sorry.
 
Chan, ein wenig wundert mich Deine ganze Argumentation schon:
Normalerweise behauptest Du doch, Jesus und das ganze Christentum seien erst im 2. Jhdt. erfunden worden und auch sämtliche Schriften des NT zu dieser Zeit gefälscht. Da siehst Du anscheinend kein Problem mit der Glaubwürdigkeit für die Leser, aber jetzt argumentierst Du, es wäre unglaubwürdig gewesen und den Lesern aufgefallen, wenn der Autor der Apostelgeschichte die Anfänge einer entwickelten Gnosis in die Mitte des 1. Jhdts. zurückdatiert? Die Erfindung eines Details würde auffallen, aber die Erfindung des Ganzen nicht?

Ansonsten basiert Deine Argumentation auf Annahmen, aus denen Du Schlüsse ziehst.
Die zitierte Stelle in der Apostelgeschichte warnt ganz allgemein vor Irrlehrern. Dass damit die Gnosis gemeint sei, ist überhaupt nicht gesagt. Im frühen Christentum, als überall christliche Gemeinden wie die Schwammerl aus der Erde schossen, ist es nur natürlich, dass sich mangels eines NTs als Orientierungshilfe und mangels theologisch einschlägig geschulten Personals unterschiedliche Lehren verbreiten konnten und so mancher lokale Prediger sein eigenes Süppchen kochen wollte. Mehr kann man hineininterpretieren, muss man aber nicht. Ich sehe jedenfalls keinen Grund, diese Warnung auf eine bestimmte Strömung zu verengen.
Dass sich Paulus' Warnung auf die Zukunft bezieht, lässt sich auch ganz zwanglos erklären: Er hielt die Rede an die Epheser. Nicht allzulange davor hatte er selbst mehrere Jahre in Ephesos verbracht, also selbst ein Auge auf die dortigen Zustände gehabt, somit ist doch klar, dass er nur für die Zukunft warnte.
Woraus Du schließt, dass auch in Ephesos die gnostische Gefahr schon zur Zeit von Paulus' Aufenthalt dort virulent gewesen sein müsse, bloß weil er zu dieser Zeit andere Gemeinden brieflich davor gewarnt habe, erschließt sich mir nicht.

Zu den Briefen: Zuerst bemängelst Du, dass die Bedrohung durch die Gnosis in der Apostelgeschichte kaum thematisiert werde, dann, dass die Briefe, die der Abwehr dieser Gefahr dienen sollten, nicht erwähnt werden. Die Antwort liegt in Deiner eigenen Argumentation: Wenn die Bedrohung dem Autor der Apostelgeschichte keine umfassende Berichterstattung wert war, gab es erst recht keinen Grund, Briefe zu erwähnen, die der Bekämpfung dieser Bedrohung dienen sollten. In der Apostelgeschichte geht es nun einmal über weite Strecken hinweg primär um Paulus' Missionsreisen und die Schaffung neuer Gemeinden, weniger um seine Sorge wegen Missständen in bereits bestehenden Gemeinden.
Und auch auf die Gefahr hin, zu nerven, bringe ich noch einmal Cassius Dio: 44 und 43 v. Chr. schrieb Cicero zahlreiche Briefe, in der er Verfechter der Republik wie die beiden Bruti, aber auch Politiker, die er für die Republik zu gewinnen suchte, motivierte, ermahnte und beriet. Cassius Dio berichtet natürlich auch über Ciceros Einsatz für die Republik zu dieser Zeit, trotzdem erwähnt er nicht all seine Briefe, schon gar nicht jeden einzelnen. Warum nicht, wenn Deiner Argumentation zufolge ein Bericht über das eine notwendigerweise einen Bericht über das andere nach sich ziehen muss?

@ Epicharm:
Das Wort "municipatus" ist von municipium abgeleitet. Ein municipium war eine lokale Stadtgemeinde mit Selbstverwaltung, der municeps ihr berechtigter Einwohner. Der Ausdruck "municipatus" bezieht sich somit auf die Zugehörigkeit zu einem solchen municipium (also eine Art Heimatrecht dort mit allen Rechten und Pflichten) - und eben nicht auf das römische Bürgerrecht. (Denn natürlich konnte auch der municeps irgendeines municipiums römischer Bürger sein und war es in Italien im 1. Jhdt. in der Regel auch, erst recht zu Tertullians Zeiten.) "Bürgerrecht" bedeutet "municipatus" nur insofern, als es sich auf den Status des municeps und seine Rechte im municipium bezog.
Wenn Du also davon ausgehst, dass "municipatus" den Sinn von "politeuma" besser erfasse als "conversatio", dann kann man aus der Stelle im Philipperbrief trotzdem keine Schlüsse bzgl. Paulus' römischem Bürgerrecht ziehen, denn dann wäre die Stelle etwa so zu verstehen: "Unser Heimatrecht aber ist in den Himmeln."
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich zitiere gleich zu Beginn eine Stelle aus 2 Kor:

9 Das sage ich aber, daß ihr nicht euch dünken lasset, als hätte ich euch wollen schrecken mit Briefen. 10 Denn die Briefe, sprechen sie, sind schwer und stark; aber die Gegenwart des Leibes ist schwach und die Rede verächtlich.

Das ist ein Beleg aus erster Hand dafür, dass für Paulus selbst seine Briefe eine noch größere Bedeutung hatten als seine persönliche Gegenwart in den Gemeinden. Du aber schreibst:

In der Apostelgeschichte geht es nun einmal über weite Strecken hinweg primär um Paulus' Missionsreisen und die Schaffung neuer Gemeinden, weniger um seine Sorge wegen Missständen in bereits bestehenden Gemeinden.

Das ist nun wirklich kein logisches Argument. Der Umstand, dass es im Text die Missstände nicht erwähnt werden, ist ein Faktum, das der Erklärung bedarf. Du erklärst es damit, dass diese Missstände irrelevant für die Geschichte sind. Woher weißt du das? Dein Argument funktioniert einfach nur nach dem Schema:

Die gnostische Bedrohung wird deswegen nicht erwähnt, weil die gnostische Bedrohung nicht erwähnt wird.

Zudem scheinst du die Brisanz der gnostischen ´Bedrohung´ zu verkennen bzw. zu ignorieren. Habe ich Rudolph denn umsonst zitiert? Diese ´Bedrohung´ war doch dabei, das Lebenswerk des Paulus zu "zerrütten" (Zitat Rudolph). Es würde doch absolut keinen Sinn machen, eine Geschichte weitgehend dem Aufbau des Lebenswerks zu widmen, ohne auch nur im Ansatz darauf einzugehen, dass dieses Werk einer Gefahr ausgesetzt war.

Normalerweise behauptest Du doch, Jesus und das ganze Christentum seien erst im 2. Jhdt. erfunden worden und auch sämtliche Schriften des NT zu dieser Zeit gefälscht.

Ich "behaupte" es nicht, sondern halte das für eine plausible Arbeitshypothese, die gegenüber den konservativen Datierungen u.a. die Vorteile hat, 1) nicht mit dem Mangel an jedwedem historischen Beleg für ein Christentum des 1. Jh. belastet zu sein und 2) nicht auf die Glaubwürdigkeit christlicher Quellen angewiesen zu sein, was insofern problematisch ist, als Quellenfälschung nachgewiesermaßen eine beliebte Praxis innerhalb des katholischen Klerus war. Dafür brauche ich bloß an das Faktum zu erinnern, dass von 27 neutestamentlichen Texten ganze 7 (in Worten: sieben) als echt, also nicht als pseudoepigraphisch gelten.

Da siehst Du anscheinend kein Problem mit der Glaubwürdigkeit für die Leser, aber jetzt argumentierst Du, es wäre unglaubwürdig gewesen und den Lesern aufgefallen, wenn der Autor der Apostelgeschichte die Anfänge einer entwickelten Gnosis in die Mitte des 1. Jhdts. zurückdatiert? Die Erfindung eines Details würde auffallen, aber die Erfindung des Ganzen nicht?

Das (hypothetischerweise!) Erfundene beziehe ich auf Aussagen über Personen und Ereignisse, die sich nach einem Jahrhundert nicht falsifizieren lassen, z.B. Existenz des Jesus und seine Kreuzigung. Die Existenz(behauptung) von Pilatus z.B. könnte aber falsifiziert werden, z.B. anhand von Einsichtnahme in Archive. In die gleiche Kategorie falsifizierbarer Aussagen gehört eben auch die Behauptung, dass um die Mitte des 1. Jh. eine ausgebildete Gnosis existierte, vertreten durch angebliche Irrlehrer in den paulinischen Gemeinden. Zumindest wäre eine solche Behauptung für gebildete Leser falsifizierbar, was ich auch explizit betonte.

Ein guter Fälscher würde also so fälschen, dass das Erfundene nicht falsifizierbar ist und das Falsifizierbare nicht erfunden.

Die zitierte Stelle in der Apostelgeschichte warnt ganz allgemein vor Irrlehrern. Dass damit die Gnosis gemeint sei, ist überhaupt nicht gesagt.

Faktisch waren es aber die gnostischen Nikolaiten, die zur Zeit der Offb (100 oder später, egal) in Ephesus ´unterwandert´ hatten. Da liegt es nahe, einen Zusammenhang herzustellen dergestalt, dass der Autor davon wusste, also nach 100 schrieb, z.B. um 150.

Dass sich Paulus' Warnung auf die Zukunft bezieht, lässt sich auch ganz zwanglos erklären: Er hielt die Rede an die Epheser. Nicht allzulange davor hatte er selbst mehrere Jahre in Ephesos verbracht, also selbst ein Auge auf die dortigen Zustände gehabt, somit ist doch klar, dass er nur für die Zukunft warnte.

In diesem Argument sehe ich drei Probleme:

1) Er "warnt" nicht vor der Zukunft, sondern sagt kategorisch, dass die Irrlehrer erscheinen werden. Das ist eine Prophezeiung, keine bloße Warnung.

3) Du hältst die paulinische Rede für authentisch. Dass der Autor ein Paulusbegleiter war, ist aber ganz und gar nicht gesichert. Der Theologe Prof. Georg Strecker z.B. meint, es handele sich bei ihm um einen Autor aus der 2. oder 3. Generation nach Paulus. Hinzu kommt der sehr hohe Anteil an offensichtlich Erfundenem in der Apg, ich erinnere bloß in die vielen Wunder und Wundertaten, auch des Paulus selbst. Wie kann man da annehmen, dass eine bestimmte Stelle, z.B. die Prophezeiung des Paulus, nicht erfunden wäre? Also besteht in hohem Maße die Möglichkeit, dass der Autor die Rede erfunden hat.

2) Das dritte Problem habe ich schon genannt. Theoretisch wäre es ja möglich gewesen, dass in Ephesus nach der Abreise keine Gnostiker auftauchen. Also hätte ein zeitgenössischer Autor riskiert, dass die Prophezeiung nicht eintrifft. Würdest du den Autor der Apg für so gedankenlos oder leichtsinnig halten?

Zu den Briefen: Zuerst bemängelst Du, dass die Bedrohung durch die Gnosis in der Apostelgeschichte kaum thematisiert werde, dann, dass die Briefe, die der Abwehr dieser Gefahr dienen sollten, nicht erwähnt werden. Die Antwort liegt in Deiner eigenen Argumentation: Wenn die Bedrohung dem Autor der Apostelgeschichte keine umfassende Berichterstattung wert war, gab es erst recht keinen Grund, Briefe zu erwähnen, die der Bekämpfung dieser Bedrohung dienen sollten.

Umgekehrt wird ein Schuh draus: Auffällig ist zunächst einmal, dass keine Briefe erwähnt werden. Man fragt sich, wieso. Das impliziert die Frage nach der Bedeutung der Briefe. Das führt zur gnostischen Bedrohung. Da diese eine erhebliche Brisanz hatte, wirft das die Frage auf, warum diese Bedrohung verschwiegen wird.

Und diese Frage ist dann natürlich die primäre.

In Anbetracht vom eingangs zitierten 2 Kor 10 allerdings stellt sich die Frage bereits von den (nicht erwähnten) Briefen her, unabhängig von deren Inhalt. Denn Paulus bewertete ihre Bedeutung, wie gesagt, noch höher als seine persönliche Gegenwart. Das sollte für einen Apg-Autor Grund genug sein, sie zu erwähnen.

Und auch auf die Gefahr hin, zu nerven,

Nein, keine Sorge, nur zu.

bringe ich noch einmal Cassius Dio: 44 und 43 v. Chr. schrieb Cicero zahlreiche Briefe, in der er Verfechter der Republik wie die beiden Bruti, aber auch Politiker, die er für die Republik zu gewinnen suchte, motivierte, ermahnte und beriet. Cassius Dio berichtet natürlich auch über Ciceros Einsatz für die Republik zu dieser Zeit, trotzdem erwähnt er nicht all seine Briefe, schon gar nicht jeden einzelnen. Warum nicht, wenn Deiner Argumentation zufolge ein Bericht über das eine notwendigerweise einen Bericht über das andere nach sich ziehen muss?

Ich halte diese Analogie für verfehlt. Man kann aus dem Vergleich keine substantiellen Schlüsse ziehen, welcher Art auch immer. Weder ist das Verhältnis Cicero-Republik analog zum Verhältnis Paulus-Gemeinden, noch kann man Cassius Dio mit einem Autor der Apg analogisieren, von dem weder die Identität noch die Zeit seines Wirkens feststeht. Auch berichtet Cassius Dio nicht alle Naslang von Wundern und Wundertaten wie der Apg-Autor.
 
Zuletzt bearbeitet:
Wenn Du also davon ausgehst, dass "municipatus" den Sinn von "politeuma" besser erfasse als "conversatio",...

Ich gehe nicht von irgendetwas aus, sondern hatte auf deinen Einwand, in der Vulgata werde "politeuma" gar mit "conversatio" übersetzt, darauf hingewiesen, dass bei Tertullian noch "municipatus" anstelle von "conversatio" steht und dass den Beweis dafür Kurt Aland erbracht hatte. Der Beleg dafür wurde beigebracht.

Das Wort "municipatus" ist von municipium abgeleitet. Ein municipium war…

Zur Verwendung von "municipatus" bei Tertullian siehe hier.
Aus dem Handwörterbuch von Karl Ernst Georges (Bd 2, 1053):

mūnicipātus, ūs, m. (municeps), das Bürgerrecht, Corp. inscr. Lat. 3, 268: übtr., noster m. in caelis, Tert. de coron. mil. 13: municipatum in caelis esse pronuntians, Tert. adv. Marc. 3, 24: ita municipatum caeli cum Paulo consequaris, Hieron. epist. 16, 2.

…dann kann man aus der Stelle im Philipperbrief trotzdem keine Schlüsse bzgl. Paulus' römischem Bürgerrecht ziehen,...
Schlüsse lassen sich aus der Summe der Argumente ziehen. Pilhofer stellt sie auf zwölf Seiten vor. Den Hinweis, wo das publiziert ist, hatte ich gegeben. In einschlägigen Bibliotheken liegt das Buch auf. Die zwölf Seiten in ihrer Gesamtheit zu zitieren, ist schon aus urheberrechtlichen Gründen nicht möglich. Wer davon ausgeht, dass der Apg in dieser Frage höhere Glaubwürdigkeit zuzumessen sei, den werden die von Pilhofer vorgetragenen Indizien ohnehin nicht beeindrucken.


Ich hatte angemerkt, dass diese Frage in Fachkreisen wieder intensiver diskutiert wird und festgehalten, dass für mich jene Zweifel, die Pilhofer an Paulus' röm. Bürgerrecht hat, plausibel erscheinen. Erläuternd hatte ich ein paar von Pilhofers Argumenten vorgelegt, die offenbar nicht überzeugen.

…denn dann wäre die Stelle etwa so zu verstehen: "Unser Heimatrecht aber ist in den Himmeln."
Dass die Stelle überwiegend im Sinne von „…unser Bürgerrecht ist in den Himmeln…“ verstanden wird, habe ich ausreichend belegt. Faktum ist, dass in der wissenschaftlichen Literatur "πολίτευμα" (in Phil 3,20) in der Bedeutung von "Bürgerrecht" wahrgenommen wird.


 
Ich zitiere gleich zu Beginn eine Stelle aus 2 Kor:

9 Das sage ich aber, daß ihr nicht euch dünken lasset, als hätte ich euch wollen schrecken mit Briefen. 10 Denn die Briefe, sprechen sie, sind schwer und stark; aber die Gegenwart des Leibes ist schwach und die Rede verächtlich.

Das ist ein Beleg aus erster Hand dafür, dass für Paulus selbst seine Briefe eine noch größere Bedeutung hatten als seine persönliche Gegenwart in den Gemeinden.
Paulus hat nicht die Apostelgeschichte verfasst. Wie Paulus sein Wirken einschätzte, besagt nichts darüber, wie der Verfasser der Apostelgeschichte das Verhältnis Missionsreisen-Briefe gewichtete.

Übrigens hast Du die von Dir zitierte Stelle erstens aus dem Zusammenhang gerissen (der nächste Satz ist auch noch wichtig) und zweitens anscheinend missverstanden: Nicht Paulus selbst schreibt, dass seine Briefe stark seien und seine persönliche Gegenwart schwach, sondern er schreibt, dass andere diese Ansicht vertreten würden. Im darauffolgenden Satz (2 Kor 10,11) widerspricht er dieser Auffassung sogar ausdrücklich: "Wer so redet, der soll sich merken: Wie wir durch das geschriebene Wort aus der Ferne wirken, so können wir auch in eurer Gegenwart tatkräftig auftreten."

Der Umstand, dass es im Text die Missstände nicht erwähnt werden, ist ein Faktum, das der Erklärung bedarf. Du erklärst es damit, dass diese Missstände irrelevant für die Geschichte sind. Woher weißt du das? Dein Argument funktioniert einfach nur nach dem Schema:

Die gnostische Bedrohung wird deswegen nicht erwähnt, weil die gnostische Bedrohung nicht erwähnt wird.
Nein, mein Argument bezieht sich auf die Auffassung des Verfassers der Apostelgeschichte, was also er für wichtig hielt und was nicht.

Zudem scheinst du die Brisanz der gnostischen ´Bedrohung´ zu verkennen bzw. zu ignorieren. Habe ich Rudolph denn umsonst zitiert? Diese ´Bedrohung´ war doch dabei, das Lebenswerk des Paulus zu "zerrütten" (Zitat Rudolph). Es würde doch absolut keinen Sinn machen, eine Geschichte weitgehend dem Aufbau des Lebenswerks zu widmen, ohne auch nur im Ansatz darauf einzugehen, dass dieses Werk einer Gefahr ausgesetzt war.
Allerdings ist diese "Bedrohung" in erster Linie eine moderne Interpretation. Den Quellen selbst lässt sich eine "gnostische Bedrohung" bereits Mitte des 1. Jhdts. nicht so dezidiert entnehmen.

Du hältst die paulinische Rede für authentisch.
Nein, keineswegs, zumindest nicht für eine wortwörtliche Wiedergabe. Aber sofern der Verfasser der Apostelgeschichte kein totaler Trottel war, wird auch er gewusst haben, dass er erst kurz davor berichtet hatte, dass sich Paulus mehrere Jahre in Ephesos aufhielt. Also auch wenn die Rede komplett fiktiv ist, hat der Autor diesen Umstand berücksichtigen können und Paulus nicht eine Warnung oder Prophezeiung für die Zeit seiner eigenen Anwesenheit aussprechen lassen.

Das dritte Problem habe ich schon genannt. Theoretisch wäre es ja möglich gewesen, dass in Ephesus nach der Abreise keine Gnostiker auftauchen. Also hätte ein zeitgenössischer Autor riskiert, dass die Prophezeiung nicht eintrifft. Würdest du den Autor der Apg für so gedankenlos oder leichtsinnig halten?
Das hängt u. a. davon ab, wann die Apostelgeschichte verfasst wurde und ob der Autor davon ausging, dass man sie auch in Ephesos bzw. generell in "bedrohten" Gemeinden lesen würde, ob also eine Warnung/Prophezeiung dann noch aktuell sein würde.
Im Übrigen wird bei Prophezeiungen häufig riskiert, dass sie nicht eintreffen. Sie sollen oft primär nur für den Augenblick beeindrucken. Das gesamte Geschäftsmodell der Astrologie und generell Wahrsagerei beruht darauf.

Umgekehrt wird ein Schuh draus: Auffällig ist zunächst einmal, dass keine Briefe erwähnt werden. Man fragt sich, wieso. Das impliziert die Frage nach der Bedeutung der Briefe. Das führt zur gnostischen Bedrohung. Da diese eine erhebliche Brisanz hatte, wirft das die Frage auf, warum diese Bedrohung verschwiegen wird.
Auffällig ist das vor allem dann, wenn es einem auffallen will, weil man nach etwas sucht, was einem auffallen könnte. Wie ich mit meinem Cassius Dio-Beispiel bereits gezeigt habe, ist es keineswegs selbstverständlich, dass Briefe erwähnt werden, auch wenn sie einen nicht unwesentlichen Aspekt des Wirkens eines Mannes bildeten.

Denn Paulus bewertete ihre Bedeutung, wie gesagt, noch höher als seine persönliche Gegenwart.
Eben nicht. Er selbst gewichtet beides gleich. In 2 Kor 10,2 droht er geradezu mit seinem persönlichen Auftreten.

Ich halte diese Analogie für verfehlt. Man kann aus dem Vergleich keine substantiellen Schlüsse ziehen, welcher Art auch immer. Weder ist das Verhältnis Cicero-Republik analog zum Verhältnis Paulus-Gemeinden, noch kann man Cassius Dio mit einem Autor der Apg analogisieren, von dem weder die Identität noch die Zeit seines Wirkens feststeht. Auch berichtet Cassius Dio nicht alle Naslang von Wundern und Wundertaten wie der Apg-Autor.
Cicero setzte seine Briefe ein, um (neben persönlichem Auftreten in Form von Reden vor dem Senat und dem Volk) für die Republik zu kämpfen. Paulus setzte seine Briefe ein, um (neben persönlichen Reisen) für seinen Glauben zu kämpfen. Cicero war um den Fortbestand der Republik besorgt und sah sie von "Schlechtgesinnten" bedroht. Paulus war um das Christentum und die Reinheit der Lehre besorgt und sah sie von Irrlehrern bedroht. Beide betätigten sich als Mahner. Cicero ermahnte und beriet brieflich wichtige Politiker, Paulus Gemeinden und ihre führenden Köpfe.
Von Wundern berichtete Cassius Dio sehr wohl. Natürlich nicht, dass Cicero Wunder vollbracht hätte, aber er war absolut abergläubisch und berichtete häufig von Vorzeichen.


Zur Verwendung von "municipatus" bei Tertullian siehe hier.
Aus dem Handwörterbuch von Karl Ernst Georges (Bd 2, 1053):

mūnicipātus, ūs, m. (municeps), das Bürgerrecht, Corp. inscr. Lat. 3, 268: übtr., noster m. in caelis, Tert. de coron. mil. 13: municipatum in caelis esse pronuntians, Tert. adv. Marc. 3, 24: ita municipatum caeli cum Paulo consequaris, Hieron. epist. 16, 2.
Das kenne ich auch. Wie Du dieser Stelle aber entnehmen kannst, ist das Wort "municipatus" fast nur bei Tertullian bzw. in Zusammenhang mit der Paulus-Stelle belegt. Anders ausgedrückt: Die Bedeutung von "municipatus" muss primär - wenn man die Verwandtschaft des Wortes mit municipium und municeps vernachlässigt - überhaupt erst aus diesen Stellen erschlossen werden. Das aus diesen Stellen Erschlossene kann dann nicht gut als Beleg dafür dienen, wie "municipatus" in diesen Stellen zu verstehen ist.
Dass Tertullian municipatus für politeuma gesetzt hat, ist auch durchaus naheliegend, da politeuma natürlich polis enthält und man eine polis als selbstverwalteten Stadtstaat durchaus mit einem municipium als selbstverwalteter autonomer Stadt vergleichen kann.

Dennoch ergibt aber diese Wortwahl, dass auch bei einer Wiedergabe als "Bürgerrecht" nicht an ein Bürgerrecht im Sinne des römischen Bürgerrechts zu denken ist. Das römische Bürgerrecht wurde nicht als municipatus bezeichnet, und der römische Bürger war nicht der municeps Romanus, sondern der civis Romanus. Das römische Bürgerrecht wurde je nach Kontext meist als "civitas" bezeichnet. Das wird auch Tertullian bewusst gewesen sein, trotzdem hat er nicht von der civitas in caelis geschrieben.

Hinsichtlich des römischen Bürgerrechts von Paulus lässt sich aus dieser Stelle also nichts gewinnen.
 
Allerdings ist diese "Bedrohung" in erster Linie eine moderne Interpretation. Den Quellen selbst lässt sich eine "gnostische Bedrohung" bereits Mitte des 1. Jhdts. nicht so dezidiert entnehmen.
Wenn Paulus an mehreren Stellen in seinen Briefen sich intensiv mit einer Gruppe auseinandersetzt, die offensichtlich in Jesus' Namen die Erlösung über die Vernunft sucht und die Auferstehung leugnet, dann muss ich daraus auf eine Bedrohung seiner eigenen Lehre schließen. Und die wenigen erwähnten Inhalte passen zur Gnosis. Wenn dann noch in der Apostelgeschichte Simon magus als Gegenspieler der rechtgläubigen Kirche auftritt, der später zum Urvater der Gnosis ernannt wird, dann empfinde ich das als schlüssig.
Worauf beruhen die Zweifel daran? Dass man nie so ganz sicher sein kann?
 
Wenn Paulus an mehreren Stellen in seinen Briefen sich intensiv mit einer Gruppe auseinandersetzt, die offensichtlich in Jesus' Namen die Erlösung über die Vernunft sucht und die Auferstehung leugnet, dann muss ich daraus auf eine Bedrohung seiner eigenen Lehre schließen. Und die wenigen erwähnten Inhalte passen zur Gnosis.
Die Betonung liegt auf "wenig", und auch sonst bleibt Paulus recht vage.
Einen deutlichen Hinweis auf die Gnosis enthält 1 Tim 6,20-21, allerdings gilt dieser Brief überwiegend nicht als echt paulinisch.

Wenn dann noch in der Apostelgeschichte Simon magus als Gegenspieler der rechtgläubigen Kirche auftritt, der später zum Urvater der Gnosis ernannt wird
Hier liegt die Betonung auf "später". In der Apostelgeschichte wird Simon nur als Zauberkünstler geschildert, der am Ende obendrein bereut. Alles andere stammt aus späteren Quellen, bei denen man sich fragen kann, woher sie etwas wussten, was der Verfasser der Apostelgeschichte anscheinend noch nicht wusste. In der Apostelgeschichte tritt er auch nicht als "Gegenspieler der rechtgläubigen Kirche" auf, sondern zuerst hat er mit dem Christentum überhaupt nichts zu tun, dann lässt er sich taufen. Auch danach wird er nicht zum "Gegenspieler", sondern möchte innerhalb der "rechtgläubigen Kirche" (was übrigens für diese Zeit ein recht anachronistischer Begriff ist) etwas werden, nämlich auch den Heiligen Geist spenden können. Er bekämpft die "rechtgläubige Kirche" aber nicht.

dann empfinde ich das als schlüssig
Schlüssig ist das nur, wenn man verschiedene Annahmen als Fakten wertet.
 
Schlüssig ist das nur, wenn man verschiedene Annahmen als Fakten wertet.
Schlüssig ist es, wenn die Dokumente zusammenpassen. Wenn es Gegenargumente gibt, sieht das anders aus, aber welche wären das?
Zusätzlich passen weitere kanonische Briefe, die vermutlich noch aus dem ersten Jahrhundert stammen dazu: 2 Petrus, 1 Johannes (fängt mit dem umgedrehten Spruch 17 des Thomasevangeliums an!), 2 Johannes, Judas, 1+2 Timotheus, Kolosser, Philipper, Epheser, Galater. Alle enthalten meist kurze Passagen, die weniger deutlich sind, aber ebenso zu dieser These passen.
 
Schlüssig ist es, wenn die Dokumente zusammenpassen. [...] Alle enthalten meist kurze Passagen, die weniger deutlich sind, aber ebenso zu dieser These passen.
Vor allem, wenn man sie passend interpretiert ...

In 2 Joh z. B. wird vor Irrlehrern gewarnt, die die Menschwerdung Jesu abstreiten. So spezifisch gnostisch ist das nicht. Es muss nicht einmal unmittelbar doketistisch gemeint sein.
Im Judasbrief wird überhaupt nur recht allgemein vor Irrlehrern gewarnt, und sie werden verunglimpft. Sehr ähnlich auch der 2. Petrusbrief.
 
Vor allem, wenn man sie passend interpretiert ...

In 2 Joh z. B. wird vor Irrlehrern gewarnt, die die Menschwerdung Jesu abstreiten. So spezifisch gnostisch ist das nicht. Es muss nicht einmal unmittelbar doketistisch gemeint sein.
Im Judasbrief wird überhaupt nur recht allgemein vor Irrlehrern gewarnt, und sie werden verunglimpft. Sehr ähnlich auch der 2. Petrusbrief.
Wie ich sagte, die Stellen sind weniger eindeutig, passen aber alle zusammen. Es braucht ein Argument dagegen oder eine bessere Erklärung und mehr als ein "sicher ist das aber nicht", um die These zu widerlegen.
Ich möchte aber 1 Joh 1 zitieren, bevor ich zum Thema zurückkehre:

"Das da von Anfang war, das wir gehört haben, das wir gesehen haben mit unsern Augen, das wir beschaut haben und unsre Hände betastet haben..."

Dazu der Spruch 17 des Thomasevangeliums:

"[FONT=&quot]Ich werde euch geben, was kein Auge gesehen und was kein Ohr gehört und was keine Hand berührt hat [/FONT]und was nie in das Herz der Menschen gekommen ist."

und 1 Kor 2,9:

"Sondern wie geschrieben steht: "Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist,..."

Die Erwähnung der berührenden Hand schließt die Paulusstelle als Quelle aus. Ich behaupte nicht nur, dass es Gnostiker gewesen sind, gegen die sich alle diese Briefe wenden, sondern dass deren Referenz das war, was wir als Thomasevangelium kennen.
 
Wie ich sagte, die Stellen sind weniger eindeutig, passen aber alle zusammen. Es braucht ein Argument dagegen oder eine bessere Erklärung und mehr als ein "sicher ist das aber nicht", um die These zu widerlegen.
Schon wieder so eine Art Beweislastumkehr. So läuft das aber nicht. Wir haben in einer Reihe von Briefen großteils ganz allgemein gehaltene Warnungen vor "Irrlehrern". Erstmal braucht es stichhaltige Argumente DAFÜR, dass trotz der meist recht allgemein gehaltenen Formulierungen immer ganz speziell die Gnosis gemeint sei. Erst dann liegt es an den Skeptikern, Argumente DAGEGEN zu bringen.
Wie schon ein paar Blicke in Eusebius' Kirchengeschichte zeigen, traten allerhand Häresien auf. Aber auch unter den frühen Missionaren (z. B. Apollos) gab es durchaus Meinungsunterschiede und unterschiedliche Auslegungen, wenngleich sie nicht so weit gingen, sich gegenseitig als "Irrlehrer" zu betrachten. Die Grenze verlief allerdings wohl fließend bzw. subjektiv. Es gibt keinen Grund, eine große Konfrontation "rechtgläubige Kirche" vs. Gnosis, also mit der Gnosis als dem einen einzigen großen Gegner, gegen den sich sämtliche Briefe richteten, konstruieren zu wollen.

Was die Sache mit dem Thomasevangelium betrifft: Wenn sich der 1. Johannesbrief, wie Du behauptest, explizit gegen die Gnostiker richtet und wenn, wie Du anscheinend meinst, das Thomasevangelium eine gnostische Schrift ist und wenn, wie Du behauptest, das Thomasevangelium bereits zur Zeit der Abfassung des Briefes existierte und wenn der Beginn des 1. Johannesbriefes, wie Du anscheinend annimmst, dem Thomasevangelium entnommen ist: Warum bitte sollte der Briefschreiber gleich am Beginn seines Briefes aus einer von ihm bekämpften Schrift einer von ihm bekämpften Häresie abschreiben?

Wenn Du übrigens aus dem Umstand, dass im Korintherbrief die "berührende Hand" fehlt, schließt, dass sie nicht die Quelle für den Johannesbrief gewesen sein könne, dann sollte man konsequenterweise aber auch aus dem Umstand, dass im Thomasevangelium der Hinweis auf den "Anfang" fehlt, schließen, dass es nicht die Quelle für den Johannesbrief sein könne.
 
Das kenne ich auch. Wie Du dieser Stelle aber entnehmen kannst, ist das Wort "municipatus" fast nur bei Tertullian bzw. in Zusammenhang mit der Paulus-Stelle belegt. Anders ausgedrückt: Die Bedeutung von "municipatus" muss primär - wenn man die Verwandtschaft des Wortes mit municipium und municeps vernachlässigt - überhaupt erst aus diesen Stellen erschlossen werden.
Ja. Dazu sind noch Anmerkungen von Hieronymus bekannt, der den Ausdruck "municipatus" ebenfalls einige Male verwendet.

Erwähnt von Ulrich Schmid in seiner Diss. "Marcion und sein Apostolos", veröffentlicht 1995 bei De Gruyter, S. 57:

Hieronymus, der immer wieder gerne mit der Entstehung der Vulgata in Zusammenhang gebracht wird, bietet immerhin elfmal die Vokabel municipatus, allerdings nur in kurzen Anspielungen. Wenn er hingegen den ganzen Vers zitiert, bietet er dreimal conversatio.

Darüber hinaus ist der Ausdruck "municipatus" in der lateinischen Literatur, soviel ich weiß, nicht nachweisbar.

Dennoch ergibt aber diese Wortwahl, dass auch bei einer Wiedergabe als "Bürgerrecht" nicht an ein Bürgerrecht im Sinne des römischen Bürgerrechts zu denken ist.

Es ist auch nicht nötig, den Ausdruck im Sinne des römischen Bürgerrechts zu verstehen. Dass er hingegen mit "Bürgerrecht" übersetzt werden kann, dafür bietet K. E. Georges die Grundlage, zumal es hinreichend genug Belege gibt, dass auch πολίτευμα in Phil 3,20, wofür bei Tertullian "municipatus" steht, im Sinne von "Bürgerrecht" verstanden werden darf.

Das römische Bürgerrecht wurde nicht als municipatus bezeichnet, und der römische Bürger war nicht der municeps Romanus, sondern der civis Romanus.
Was als allgemein bekannt vorausgesetzt werden darf.

Er wäre auch abwegig, die Ausdrücke "πολίτευμα" und "municipatus" in der Bedeutung von "römisches Bürgerrecht" verstehen zu wollen, zumal Paulus "ein Bürgerrecht in den Himmeln" schmackhaft zu machen versucht.

Hinsichtlich des römischen Bürgerrechts von Paulus lässt sich aus dieser Stelle also nichts gewinnen.

Diese Meinung teile ich nicht.

Das Argument von P. Pilhofer zu Phil 3,20 stelle ich gerne nochmals vor:

Paulus schweigt über ein reales Bürgerrecht, kommt aber in seinem Brief nach Philippi, den er aus dem Gefängnis heraus schreibt, auf ein "himmlisches Bürgerrecht" zu sprechen. In dieser Situation als Gefangener hätte ihm ein reales römisches Bürgerrecht durchaus hilfreich sein können. Das scheint erklärungsbedürftig. Auch wäre es befremdlich, wenn er der Gemeinde gegenüber, in der sich zumindest einige Gemeindemitglieder in einer ähnlich bedrohlichen Situation befanden wie Paulus selbst (Phil 1,30), zwar auf ein "himmlisches Bürgerrecht" verwiesen hätte, selbst aber die Sicherheit eines römischen Bürgerrechts besessen hätte.

Das ist nur eines von mehreren Argumenten, die man in der Summe als plausibel entgegennehmen kann – oder eben nicht.
 
Schon wieder so eine Art Beweislastumkehr. So läuft das aber nicht. Wir haben in einer Reihe von Briefen großteils ganz allgemein gehaltene Warnungen vor "Irrlehrern". Erstmal braucht es stichhaltige Argumente DAFÜR, dass trotz der meist recht allgemein gehaltenen Formulierungen immer ganz speziell die Gnosis gemeint sei.
Noch einmal meine Definition der Gnosis:
1. Es gibt keinen willkürlich handelnden Gott.
2. Logik und Vernunft führen zur Erkenntnis (Gnosis)
Das vollständige "gnostische System" bezeichnet man besser nach der Konferenz von Messina mit "Gnostizismus". Dafür finde ich nur Andeutungen.

Stellen, die auf gnostische Gegner deuten:
1 Kor 2,9 (-> EvTh 17, s. mein letztes post)
1 Kor 4,8 (-> EvTh 2)
1 Kor 4,10 "Verständige in Christus"
1 Kor 15,12 Leugnung der Auferstehung
2 Kor 11,4 "anderer Jesus"
2 Kor 12,11 "superfeine Apostel"
2 Kor 12,16 Vorwurf gegen Paulus, er würde die Gläubigen mit List fangen
Gal 4,9 (-> EvTh 3)
Eph 2,14 2 zu 1 machen
Eph 5,6 Warnung vor leeren Worten
Eph 5,12 Warnung vor Leuten, die Schändliches im Verborgenen tun
Phil 1,15 Jesus aus Neid und Rivalität predigen
Kol 2,8 "euch durch die Philosophie wegführe"
1 Thess 5,2 (-> EvTh 103)
2 Thess 2,2 Leute, die behaupten, Jahwes Tag sei schon gekommen
2 Thess 2,15 nur Paulus' mündliche oder schriftliche Aussagen annehmen
1 Tim 1,20 Leute, die mit ihrem Glauben Schiffbruch erlitten haben
1 Tim 4,1 Lehren von Dämonen
1 Tim 6,20 Warnung vor der Gnosis
2 Tim 1,15 Alle in Asia sind abgefallen
2 Tim 2,18 sie sagen, die Auferstehung sei bereits geschehen
2 Tim 4,3 andere Lehrer
Titus 3,9 Sekten
Hebr 1,12 (-> EvTh 111)
Hebr 4,1 (-> EvTh 2 [gr.])
Hebr 4,2 ein anderes Evangelium, bzw anders aufgefasst ohne Glauben
Hebr 6,4-6 unmöglich, die "Erleuchteten" zurückzuholen
2 Petr 2,1 falsche Propheten, die den Gebieter verleugnen
2 Petr 3,16 Leute, die auch Paulus' Briefe verdrehen
1 Joh 1,1 (-> EvTh 17)
1 Joh 1,5 Gott ist Licht (-> EvJoh wohl vom selben Autor)
1 Joh 2,9 Licht
1 Joh 2,26 Leute, die euch irreführen
1 Joh 4,1 nicht inspirierter Äußerung glauben
1 Joh 4,3 Äußerung, die Jesus nicht bekennt
2 Joh 1,7 Betrüger
Jud 1,3 Jesus' Lehre als Anlass zur Zügellosigkeit nehmen

Natürlich gibt es besonders im Galaterbrief aber auch in anderen Hinweise auf jüdisch-konservative Gegner. Die meisten Stellen deuten aber auf gnostische Konkurrenten. Ich glaube, dass die Beweislast damit bei den Gegnern meiner These liegt. Ich möchte noch auf (Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei..., 1934) hinweisen.
Die Tatsache, dass sich die Gnosis rasch in viele verschiedene Strömungen aufgespalten hat, liegt in der Natur der Sache: Sie besaß keine Dogmen. Sie hat immer wieder versucht, rechtgläubige Dokumente in ihre Lehre einzubauen und niemanden "verteufelt".

Was die Sache mit dem Thomasevangelium betrifft: Wenn sich der 1. Johannesbrief, wie Du behauptest, explizit gegen die Gnostiker richtet und wenn, wie Du anscheinend meinst, das Thomasevangelium eine gnostische Schrift ist und wenn, wie Du behauptest, das Thomasevangelium bereits zur Zeit der Abfassung des Briefes existierte und wenn der Beginn des 1. Johannesbriefes, wie Du anscheinend annimmst, dem Thomasevangelium entnommen ist: Warum bitte sollte der Briefschreiber gleich am Beginn seines Briefes aus einer von ihm bekämpften Schrift einer von ihm bekämpften Häresie abschreiben?
Er hat nicht abgeschrieben, sondern die Bedeutung von Spruch 17 ironisch umgedreht. Es ist eine Reaktion auf das Konkurrenzevangelium um 100 n.Chr. Wenn der Autor von 1 Joh auch der Autor des EvJoh ist, passt das wunderbar zusammen: Auch das Johannesevangelium geht auf die Aspekte des Thomasevangeliums ein, die die Synoptiker ausgelassen haben (Riley, Resurrection Reconsidered..., 1995).

Wenn Du übrigens aus dem Umstand, dass im Korintherbrief die "berührende Hand" fehlt, schließt, dass sie nicht die Quelle für den Johannesbrief gewesen sein könne, dann sollte man konsequenterweise aber auch aus dem Umstand, dass im Thomasevangelium der Hinweis auf den "Anfang" fehlt, schließen, dass es nicht die Quelle für den Johannesbrief sein könne.
Das finde ich ein bisschen schwach. Jedes Zitat hat Teile, die in den anderen nicht vorkommen, zumal 1 Joh 1 kein wirkliches Zitat, sondern eine ironische Reaktion ist.
 
Zurück
Oben