Im Galaterbrief heißt es, dass Mann und Frau vor Gott gleich sind.
Beziehst du dich dabei auf Gal 3,28? Dort ist aber nicht von
Gleichheit die Rede, sondern davon, dass es "Mann und Frau" in Christus nicht mehr gibt und stattdessen "alle einer" in "Christus Jesus" sind. Damit kann nur gemeint sein, dass (durch die christliche Taufe) nicht nur alle Unterschiede zwischen Mann und Frau aufgelöst werden, sondern die Geschlechter selbst. Mit "Gleichheit von Mann und Frau", worauf du anspielst, hat das nichts zu tun, denn beide bestehen "in Christus" ja nicht mehr als separate Geschlechter.
Selbst wenn man einen Gleichheitsgedanken darin erkennen würde, wäre er leicht zu relativieren: Die Menschen sind zwar "in Christus" über alle Differenzen erhoben, "Christus" selbst aber nicht - er wird im Christentum definitiv als männlich beschrieben, nicht anders als sein "Vater". Was nützt also die schönste Emanzipationsidee, wenn sie auf dem entscheidenden göttlichen Level nicht realisiert ist, sondern dieser ihr vielmehr klar widerspricht?
Dass Paulus bzw. die mit ihm assoziierten Briefe keine explizite Frauen- und Sexualfeindschaft ausdrücken, darin stimme ich dir zu.
Erst mit Origenes (Anfang 3. Jh.) und unter seinem Einfluss Augustinus setzt die eigentliche Entwicklung zu dem ein, was viele heute als christliche Sexualfeindschaft ansehen. Bei Paulus finden sich zwar vereinzelt auch schon sexualfeindliche Ansätze, er schrieb an mehreren Stellen aber auch nicht-ablehnend über Sexualität.
Im folgenden versuche ich die Ursprünge der Abwertung bis hin zur Verdammung der Sexualität ein wenig zu erhellen.
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Die Vorbehalte in der vorchristlichen Antike gegen Sexualität gehen höchstwahrscheinlich auf brahmanistische Wanderasketen (= Gymnosophisten) zurück, die während des 6. Jh. BCE über Indien und Persien nach Kleinasien und Griechenland gelangten und Einfluss auf das religiöse Denken nahmen, dessen ´progressivste´ Variante damals der gegen die offiziellen Kulte protestierende Orphismus war. Lucius Apuleius bezeichnet im 2. Jh. CE die Brahmanen als Lehrer nicht nur des (dem Orphismus nahe stehenden) Pythagoras, sondern auch des Demokrit und des Platon. Pythagoras habe zunächst ägyptische Weisheit studiert, sei damit aber nicht zufrieden gewesen und habe sich brahmanistischen Lehrern, den Gymnosophisten, zugewandt. Seine Seelen- und Wiedergeburtslehre verdanke er diesen Weisen.
Daraus, dass Pythagoras brahmanistische Lehren rezipierte und dass brahmanistische Gymnosophisten in Griechenland lehrten, kann man zuverlässig auf eine Rezeption auch durch den Orphismus schließen. Aus dieser Strömung mit ihrem legendären Begründer Orpheus gingen die dionysischen und eleusinischen Mysterienkulte hervor. Ein wesentliches orphistisches Prinzip ist der Geist-Körper-Dualismus und die Auffassung, dass das Leibliche ein Gefängnis ist, aus dem die Seele befreit werden muss, um zu ihrem angestammten Ort im göttlichen Jenseits zu gelangen. Charakteristisch für den Orphismus ist auch die Vielzahl der Wiedergeburten, welche die Seele durchläuft, um zur Reife für die letzte Verwandlung zu finden. Unschwer ist in diesen Vorstellungen brahmanistisches Ideengut zu erkennen.
In der orphischen Mythologie setzt sich der Mensch aus einer göttlichen und götterfeindlichen Komponente zusammen: Dionysos wird von den Titanen zerstückelt und gefressen. Zeus verbrennt die Frevler zu Asche und erschafft daraus das Menschengeschlecht. Aufgabe des Menschen ist es, sich von seinen titanischen Anteilen loszusagen und das Dionysische, das Göttliche, im doppelten Wortsinn zu realisieren. Ähnlich wie im sumerischen Mythos von der Erschaffung des Menschen aus Lehm und dem Blut des bösen Gottes Kingu finden sich hier Ansätze zu einer Erbsündenlehre.
Eine Distanzierung zur Sexualität, aber längst noch keine fanatische Feindschaft wie bei vielen späteren Christen, ergibt sich für die Orphiker also zum einen aus der Leiblichkeit des Sexuellen, die als ein Hindernis oder erschwerender Faktor für die Befreiung der Seele angesehen wird. Zum andern gilt Sexualität - sicher nicht zu Unrecht - auch als Quelle egoistischer und destruktiver Verhaltensweisen und bedarf der Kontrolle und Disziplinierung. Hier zeigt sich die orphische Gegenposition zur exoterischen Mythologie, die Sexualität positiv mit Gewalt konnotiert: Kein Gott vergewaltigt so häufig wie der Herrscher des Olymp. Die Zeus´schen Vergewaltigungsmytheme sind aber nichts anderes als Reflexe der gewaltsamen Unterwerfung der indigenen Population (mit ihren Muttergottheiten) durch kriegerische PIE-Invasoren (mit ihrem Kriegergott Zeus).
Dem orphischen Reinheitsideal entsprechend soll sich ein Adept vor Beginn einer Mysterienfeier mehrere Tage lang sexueller Aktivität enthalten - was ein traditionelles Element auch der späteren Mysterienkulte ist - , natürlich nebst anderen asketischen Maßnahmen, darunter der wichtigsten, dem Verzicht auf Fleischkonsum (begründet mit der Annahme, dass aus Tieren Menschen wiedergeboren werden können). Den orphischen Gruppen gehörten - ebenso wie den Pythagoräern - zahlreiche Frauen an, von Misogynie kann also keine Rede sein, wie sie später beim Christentum mit seinen Phantasien über die Frauen als Dienerinnen des Teufels unauflöslich mit Sexualfeindschaft verbunden war.
Was die Priester-Kastration im Kybele-Attis-Kults betrifft, scheint dabei kein sexualfeindlicher Intention zugrunde zu liegen, eher schon eine archaische Idee vom Blutopfer des männlichen Genitals für die göttliche Mutter Kybele, womit sich vermutlich Vorstellungen vom Blut als Träger der Lebensenergie und vom Phallus als ein die Frau befruchtendes Organ verbinden. Zugleich bedeutet die Kastration - und das ist als hauptsächliches Motiv anzusehen - eine symbolische Angleichung der Priester an das Geschlecht der Göttin. Aus dem Verzicht auf Sexualität folgt also nicht unbedingt eine Feindschaft gegen Sexualität.
Auf die Verbindung von Orphismus und Kybelekult zum Christentum - das sich von beiden eine Menge abgeschaut hat - und auf die genaueren Umstände der Entstehung christlicher Sexualfeindschaft gehe ich in Bälde ein, ebenso wie auf die Rolle der Gnosis in diesem Zusammenhang.