Warum ging die antike Demokratie unter?

romanus00I

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Der Titel sagt eigentlich alles. Natürlich, die einzelnen Ereignisse sind mir bekannt. Athens Seereich wurde von Sparta zerschlagen, die makedonische Monarchie unterwarf die griechischen Städte, die Römische Republik fürchtete sich vor den Demokratien und bevorzugte oligarchische Verfassungen in den Provinzen.

Aber welche strukturellen Probleme sorgten dafür, dass z. B. die attische Demokratie nicht mehr als 150 Jahre andauerte, dass allgemein die demokratischen Elemente in den einzelnen Städten schrittweise wieder zurückgebaut wurden?

Dabei frage ich mich besonders, warum die demokratischen Fraktionen an Kraft verloren, warum also die freien Bürger der Stadtstaaten die Demokratie als Staatsform aufgaben.

Danke im Voraus für eure Antworten:winke:
 
Eigentlich war doch die Demokratie in den griechischen poleís immer im Spannungsfeld verschiedener Interessen. Wenn man sich mal Syrakus anschaut, dann war es ein beständiger Kampf zwischen eher demokratischen Phasen (mit dem Scherbengericht als Olivenblattgericht) und der Tyrannis. Und auch mit der attischen Demokratie war es nicht allzuweit her. Mal abgesehen davon, dass für manche Bürger Attikas die Teilnahme an den politischen Veranstaltungen eine Tagesreise bedeutete und es damit immer schwierig war, die Volksversammlung angemessen vertreten zu haben - der Raum auf dem Pnyx, wo die Volksversammlung stattfand, war auch viel zu klein, um tatsächlich alle freie, männlichen Bürger aufzunehmen.
Hinzu kommt, dass Athen selbst seine Bundesgenossen alles andere als demokratisch behandelte, was letztlich zur Auflösung des Attisch-delischen Seebundes führte und zum Krieg innerhalb des Bündnisses.
 
Hinzu kommt, dass Athen selbst seine Bundesgenossen alles andere als demokratisch behandelte, was letztlich zur Auflösung des Attisch-delischen Seebundes führte und zum Krieg innerhalb des Bündnisses.

Dieser Widerspruch - Demokratie nach innen, Tyrannei nach außen - trug in der Tat zum Zerfall der attischen Demokratie bei. Das ´demokratische´ System konnte nämlich den Anforderungen nicht genügen, welche die Kriegsführung an sie stellte. Die strategischen Entscheidungen der Volksversammlung basierten eher auf emotionalem Aufruhr denn auf rationalem Kalkül.

Auch der Klassenkampf ´von unten´, d.h. der übermäßige Druck, den die armen Schichten via Volksversammung und Abstimmung gegen die reiche Schicht seit den Reformen Solons aufgebaut hatten, trug zur Schwächung des Systems bei. Nicht wenige fähigen Köpfe aus der reichen Schicht bevorzugten die innere Emigration (Privatleben) anstelle eines aufreibenden Engagements in politischen Fragen, wodurch dem System sicher einiges an geistiger Potenz verloren ging. Vor Solons Reform war es umgekehrt gewesen, die Oberschicht hatte die Armen in einem Maße unterdrückt, das die Funktionstüchtigkeit des Staats gefährdete. Nun war das Pendel in die Gegenrichtung ausgeschlagen.

Ebenso dilettanisch verfuhr das System mit dem Staatshaushalt - die Kassen waren notorisch leer, nicht zuletzt wegen der teuren Kriegsführung. Das ging so weit, dass der Schatz des Athene-Tempels in Anspruch genommen werden musste, und zwar als offizielles Darlehen.

Dass einflussreiche Denker wie Platon und Aristoteles sich gegen das demokratische System aussprachen, förderten dessen Stabilität auch nicht gerade.
 
Die strategischen Entscheidungen der Volksversammlung basierten eher auf emotionalem Aufruhr denn auf rationalem Kalkül.
Die Hinrichtung oder Verbannung fähiger Strategen, die das Pech gehabt hatten, eine Niederlage zu erleiden, mag dafür sprechen.

...wodurch dem System sicher einiges an geistiger Potenz verloren ging.
Wobei ja die Ämter nicht durch Wahl sondern nach Kleisthenes das Losverfahren vergeben wurden.

Da Politik aber auch in der attischen Demokratie zumindest als Allatgsgeschäft ein Privileg derjenigen war, welche nicht selber arbeiten mussten und es sich leisten konnten, Politik zu betreiben, und selbst reiche Metoiken ohne Bürgerrecht ihre Möglichkeiten nutzten, die attische Politik zu beeinflussen, habe ich eher Zweifel daran, dass die attische Demokratie an den unzweifelhaft vorhandenen ochlokratischen Momenten, die ein elitistisch denkender Aristoteles ihr vorwarf, zugrundeging.
Ein freier Kleinbauer aus Thoricos oder aus Eleutherai wird für die Teilnahme an der Volksversammlung drei Tage benötigt haben: Je einen Tag für die An- und Abreise und einen Tag für die Ausübung seiner politischen Teilnahmerechte.
 
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Die Hinrichtung oder Verbannung fähiger Strategen, die das Pech gehabt hatten, eine Niederlage zu erleiden, mag dafür sprechen.

Strategen waren bei allen Entscheidungen grundsätzlich von der Zustimmung der Volksversammlung abhängig. Um diese zu erlangen, musste die Versammlung argumentativ überzeugt werden. Verschärfend kam hinzu, dass Demagogen, also Meinungsführer innerhalb der Volksversammlung, den Strategen das Leben schwer machen konnten. Dabei zählte nicht nur das sachliche Argument, sondern auch und zunehmend die rhetorische Brillanz des Redners.

Wobei ja die Ämter nicht durch Wahl sondern nach Kleisthenes das Losverfahren vergeben wurden.

Ich dachte eher an die nach Perikles´ Tod (429) eingetretene Änderung im Demagogenwesen: vorher hauptsächlich aus aristokratischen Schicht stammend, kamen die Demagogen nun vorwiegend aus den unteren Schichten und brachten einen eigenen, nämlich emotional aufgeladenen Argumentationsstil mit, der große Wirkung auf das Abstimmungsverhalten der Versammlung hatte. Das schreckte natürlich Adlige ab, sich einer politischen Laufbahn (zunächst als Demagoge) zu verschreiben, eine Laufbahn, die ja auch zu hohen Ämtern führen konnte, z.B. zum Heerführeramt (siehe Kleon, einer der ersten Unterschicht-Demagogen).
 
Schonmal vielen Dank für eure Antworten.:anbetung:

Meine Frage bezog sich aber auch auf die Zeit nach der Eingliederung Griechenlands ins römische Reich - man liest nämlich immer wieder, dass unter dem Kaiserreich die Volksversammlungen und die Wahl der Magistrate durch das Volk verschwanden. In welchem Zeitraum geschah dies genau?

Strategen waren bei allen Entscheidungen grundsätzlich von der Zustimmung der Volksversammlung abhängig. Um diese zu erlangen, musste die Versammlung argumentativ überzeugt werden. Verschärfend kam hinzu, dass Demagogen, also Meinungsführer innerhalb der Volksversammlung, den Strategen das Leben schwer machen konnten. Dabei zählte nicht nur das sachliche Argument, sondern auch und zunehmend die rhetorische Brillanz des Redners.

Ich dachte eher an die nach Perikles´ Tod (429) eingetretene Änderung im Demagogenwesen: vorher hauptsächlich aus aristokratischen Schicht stammend, kamen die Demagogen nun vorwiegend aus den unteren Schichten und brachten einen eigenen, nämlich emotional aufgeladenen Argumentationsstil mit, der große Wirkung auf das Abstimmungsverhalten der Versammlung hatte. Das schreckte natürlich Adlige ab, sich einer politischen Laufbahn (zunächst als Demagoge) zu verschreiben, eine Laufbahn, die ja auch zu hohen Ämtern führen konnte, z.B. zum Heerführeramt (siehe Kleon, einer der ersten Unterschicht-Demagogen).

Was ich bei deiner Demagogen-Argumentation interessant finde ist, dass du nur der Volksversammlung eine besondere Emotionalität unterstellst -dabei hatte sowohl der einfache Wähler als auch der Mitglieder eines Adelsrats eigene Interessen, politische und ökonomische, die seine Entscheidung bei der Wahl sicher mitbeeinflusst hat.

Außerdem gab es ja durchaus große Redner aus der Oberschicht, so Deosthenes, der sicher nicht aus einer "unteren" Schicht stammte.
 
Was ich bei deiner Demagogen-Argumentation interessant finde ist, dass du nur der Volksversammlung eine besondere Emotionalität unterstellst -dabei hatte sowohl der einfache Wähler als auch der Mitglieder eines Adelsrats eigene Interessen, politische und ökonomische, die seine Entscheidung bei der Wahl sicher mitbeeinflusst hat.

Das eigentlich Problem könnte (bei der direkten Demokratie a la Athen wie bei der repräsentativen Demokratie a la Gegenwart) sein, dass sich die Mehrheit der besitzlosen Stimmberechtigten ihrer Interessen sehr viel diffuser bewusst ist (wenn überhaupt) als die Minderheit der Besitzenden.

Außerdem gab es ja durchaus große Redner aus der Oberschicht, so Demosthenes, der sicher nicht aus einer "unteren" Schicht stammte.

Aus den "unteren Schichten" stammte keiner der bekannten Politiker Athens. Perikles gehörte zur Obeschicht, Kleon (das Urbild des "Demagogen") war ein zu Wohlstand gekommenes Mitglied der Mittelschicht, ein "Neureicher", könnte man sagen.
 
Ich sag's ja: Selbst wenn man freier Bürger Attikas war, musste man erst mal den finanziellen Spielraum haben, um seine Arbeit ruhen zu lassen und sich stundenlang auf den Pnyx zu stellen. Bei den nicht in der Hauptstadt (wir reden hier natürlich nicht von heute und Griechenland sondern nur von Attika) lebenden Bürgern kam die An- und Abreise hinzu. Der Pnyx hatte auch gar nicht den Platz, um alle Vollbürger aufzunehmen.
 
Was ich bei deiner Demagogen-Argumentation interessant finde ist, dass du nur der Volksversammlung eine besondere Emotionalität unterstellst -dabei hatte sowohl der einfache Wähler als auch der Mitglieder eines Adelsrats eigene Interessen, politische und ökonomische, die seine Entscheidung bei der Wahl sicher mitbeeinflusst hat.

Emotionalität ist nicht das gleiche wie Interessenegoismus. Die Frage ist doch, wie Interessen begründet und argumentativ durchgesetzt werden und in welchem Maße sie beim Umsetzungsversuch kompatibel mit strategischer Vernunft sind.

Wie ich schon erwähnte, hatten Demagogen nach der Zäsur von 429 (Tod des Perikles) einen neuen Stil eingeführt. Bei Plutarch (Nikias 8,6) liest man:

Er (= Kleon) verbannte das schickliche Benehmen von der Rednerbühne: Er war der erste, der bei einer Rede zum Volk brüllte und sich den Mantel von der Schulter riss, sich auf die Schenkel schlug und während der Rede hin- und her rannte und so unter den Politikern die Würdelosigkeit und die Missachtung des Schicklichen aufbrachte, die wenig später zur Auflösung des Ganzen führte.

Frühere Quellen aus dem 4. Jh. BCE bestätigen, dass Kleon vor der Versammlung geschrien und geschimpft hatte.

Formal soll er ein ausgezeichneter Rhetoriker gewesen sein und programmatisch ein reaktionärer Nationalist und Kriegstreiber. In seiner Rede (ab 3,37) fordert er eine brutale Bestrafung der Bevölkerung der zurückeroberten Stadt Mytilene (auch jener Bevölkerungsanteile, die sich nicht gegen Athen aufgelehnt hatten) und verfälschte ein Perikles-Zitat dahingehend, dass Athen als Seemacht "tyrannisch" (und nicht nur, wie bei Perikles, "wie" ein Tyrann) herrschen solle. Perikles hatte laut Thukydides gesagt:

Ihr Athener habt eure (See-) Herrschaft bereits wie eine Tyrannis, welche erworben zu haben vielleicht unrecht ist.

Die quasi-tyrannischen Verhältnisse sind für Perikles also kein Idealzustand, aber aufgrund ihrer Faktizität nicht zu ändern. Sie mögen ungerecht sein, werden von ihm aber, nach eigener Einschätzung, mit Besonnenheit genutzt.

Anders Kleon in seiner Rede:

I have remarked again and again that a democracy cannot manage an empire, but never more than now, when I see you regretting your condemnation of the Mytilenaeans.

Er macht den Athenern ihr Mitgefühl für die unterworfenen Mytilener zum Vorwurf, denn damit und mit Demokratie überhaupt sei kein Reich zu regieren. Dann zieht er eine Analogie zwischen dem Umgang der Athener miteinander und dem Umgang mit den Unterworfenen:

Having no fear or suspicion of one another in daily life, you deal with your allies upon the same principle, and you do not consider that whenever you yield to them out of pity or are misled by their specious tales, you are guilty of a weakness dangerous to yourselves, and receive no thanks from them. You should remember that your empire is a despotism exercised over unwilling subjects, who are always conspiring against you...


Mit dieser Argumentation fordert Kleon also die Hinrichtung aller Männer der Stadt und die Versklavung ihrer Frauen und Kinder. Sein Gegenspieler in der Versammlung, Diodotus, gehörte zur gemäßigten Fraktion und forderte lediglich den Tod der führenden Köpfe der am Widerstand gegen Athen beteiligten Männer. Am ersten Tag erließ die Versammlung einen Beschluss im Sinne Kleons, der aber am zweiten Tag widerrufen wurde. In die Tat umgesetzt wurde die Bestrafung der führenden Rebellen, übrigens ohne Gerichtsverfahren.

Aus den "unteren Schichten" stammte keiner der bekannten Politiker Athens. Perikles gehörte zur Obeschicht, Kleon (das Urbild des "Demagogen") war ein zu Wohlstand gekommenes Mitglied der Mittelschicht, ein "Neureicher", könnte man sagen.

Man kann sowohl von drei Schichten sprechen als auch, um den Gegensatz zur Aristokratie herauszustellen, von zwei Schichten: der aristokratischen Oberschicht und dem Rest der Bevölkerung, der in der Regel von der Oberschicht beherrschten Unterschicht. Das Drei-Schichten-Modell verwischt diesen Herrschaftaspekt ein bisschen, macht analytisch aber natürlich Sinn. In der Fachliteratur sind beide Modelle in Gebrauch.
 
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Ich denke, man sollte vielleicht noch einige andere Aspekte mit in diese Diskussion einfließen lassen.
Es mag eine Divergenz geben zwischen unserer Auffassung der Demokratie und der antiken Sichtweise. Nach heutiger Sichtweise ist die Demokratie eine Folge der Erfahrung mit den negativen Auswirkungen einer Alleinherrschaft, bei der nicht kontrollierbare Entscheidungen zu Lasten der Mehrheit gehen - der König will Krieg, das Volk muß bluten. Die Demokratie verspricht ein Mehr an Gerechtigkeit, weil die Mehrheit der Bevölkerung an Entscheidungen beteiligt ist, Lasten gleichmäßiger verteilt werden und Rechte nicht nur wenigen vorbehalten sind. Einer der Kerngedanken - verkürzt gesagt - ist demnach die Gerechtigkeit.

Nun ist aber die Entwicklung der attischen Demokratie - wenn wir uns zunächst auf diesen Bereich beschränken - meines Erachtens keineswegs vom Kerngedanken der Gerechtigkeit inspiriert - diese als Auswirkung der Isonomia ist eher eine Folge. Die Demokratie - es folgt eine These - ist ein Betriebsunfall der Aristokratie gewesen. Die Phylenreform des Kleisthenes, wenn wir diese mal als Auslöser ansetzen, ging ja eben nicht von einer Gerechtigkeitsdebatte aus, sondern diente dem Konkurrenzkampf von Adelsfamilien - der Alkmeonide wollte das Stimmverhalten der Anhängerschaft der Peisistratiden in der Volksversammlung durchbrechen. Was weder Kleisthenes noch später Themistokles geplant oder gewollt hatten, war die Zunahme der Bedeutung der unteren Schichten, nachdem in der Folge der Perserkriege und der nunmehr als Hauptwaffe bedeutend gewordenen Flotte die Ruderer in der Volksversammlung Gewicht bekamen. Die Bedeutung der militärischen Fähigkeiten des Einzelnen für die Gesellschaft zeigt sich ja deutlich in der Gliederung der vier attischen Steuerklassen.

Auch die Aktivitäten des Perikles scheinen mir davon inspiriert zu sein, daß er die Stärkung der Volksversammlung als Stärkung seiner eigenen Macht anstrebte - er wußte, daß er sich dort durchsetzen konnte, vertrauend auf seine rhetorischen Fähigkeiten, die von Thukydides eindrucksvoll geschildert werden. Er war daran interessiert, daß möglichst viele Bürger an der Volksversammlung teilnehmen, um dort soviel Zustimmung wie möglich zu bekommen.

Die attische Demokratie könnte man in der Folge dieser Argumentation also eher als Mittel denn als Zweck bezeichnen. Nach dem Tode des Perikles, der eher zufällig mit dem Beginn des Peloponnesischen Krieges und dem Beginn des Endes der attischen Vorherrschaft zusammenfällt, scheint dieser Druck innerhalb der attischen Aristokratie sich zu verändern und andere Mittel zu wählen (selbstverständlich spielen auch andere Faktoren wie die personelle und ökonomische Schwächung eine Rolle), wodurch dann Leute wie Kleon der Gerber in ihre Rolle kommen konnten. Ich behaupte, daß man zur Rolle der Demokratie im Verständnis der Antike mehr aus den Komödien des Aristophanes lernen kann als aus den Vorstellungen von Platon und Aristoteles. Die attische Demokratie im 5. Jh. v. Chr. funktionierte also, solange sie ein Werkzeug der Aristokratie war, als diese es zu benutzen wußte, als der Zweck des Werkzeugs weg war, gab es zwar weiterhin die demokratischen Strukturen, man konnte sie ja nicht einfach vergessen machen, aber sie beinhalteten nicht mehr dieselbe gesellschaftliche Kraft.
 
Die Demokratie - es folgt eine These - ist ein Betriebsunfall der Aristokratie gewesen. Die Phylenreform des Kleisthenes, wenn wir diese mal als Auslöser ansetzen, ging ja eben nicht von einer Gerechtigkeitsdebatte aus, sondern diente dem Konkurrenzkampf von Adelsfamilien...

Ich füge zum Thema ´Entstehung der attischen Demokratie´ einige Passagen aus einem schon älteren eigenen Text an.

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Ein Umstand wird nur selten zu den Rahmenbedingungen der griechischen Demokratieentwicklung gezählt: der schwache Stand der Institution des Königtums und deren, gemessen an der Entwicklung bei anderen mächtigen Völkern, sehr frühe Abschaffung um die Wende zum 7. Jahrhundert. Unschwer lässt sich hier schon die, man möchte sagen, anti-autoritäre Tendenz im politischen Denken der Griechen erkennen, die sich später über Jahrhunderte hinweg deutlich abzeichnen wird, wenngleich nie ohne Anfechtung seitens tyrannischer oder aristokratischer Gegenkräfte. Erst durch Alexander, den König der griechischstämmigen Makedonen, hält die monarchische Herrschaftsform fast vierhundert Jahre später zwangsläufig wieder Einzug in Griechenland.

Da ist, zum zweiten, im 7. Jahrhundert die höchst verzwickte politische Situation Attikas infolge der Verschuldung und Versklavung der Bauern beim politisch dominierenden Adel, der im Jahrhundert zuvor das Königtum verdrängt hat und seitdem das Personal für das regierende Gremium der Archonten stellt. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts kommt es zur bekannten historischen Großtat Solons, der damit beauftragt wird, das drängende Problem einer Lösung zuzuführen.

Die Person des Solon ist eine weitere, höchst zufällige Bedingung des athenischen Demokratisierungsprozesses. Dass er bestimmte Maßnahmen ergreift und keine anderen, liegt nicht zwingend in den Umständen begründet, denen er sich gegenübersieht. Allerdings ist er kein systematischer Theoretiker, der abstrakte politische Programme verficht, er ist intuitiver Pragmatiker. Solon denkt nicht in den Kategorien von Begriffen wie Demokratie, Monarchie, Oligarchie usf., einfach deswegen, weil diese Begriffe erst viel später geprägt werden; allerdings trägt er entscheidend dazu bei, dass es zu diesen Prägungen überhaupt kommt. Seine Terminologie ist simpler, sie differenziert, mit durchaus gängigen zeitgenössischen Ausdrücken, zwischen Eunomie, der Wohlordnung, und Dysnomie, der Unordnung.

Solons Aufgabe ist, die Eunomie wiederherzustellen, die durch die Verfeindung von Adel und Bauerntum zerstört worden ist. Das Prinzip der Privilegien der Reichsten tastet er dabei nicht an, gibt ihm aber eine neue Form, die sich im nachhinein weit über Athen hinaus als revolutionär erweisen wird. Denn innerhalb dieser von Solon neudefinierten, stark erweiterten privilegierten Schicht - die sich jetzt aus jenen rekrutiert, die vermögend genug sind, um eine eigene Kriegsrüstung stellen zu können - haben alle Individuen die gleichen politischen Rechte, sie können diese auch in einem erweiterten verfassungsrechtlichen Rahmen nutzen, da Solon die Kompetenzen der Volksversammlung ausdehnt und einen ‘Rat der 400’ neu institutionalisiert.

Als Timokratie wird die neue Verfassung – nachträglich - unter dem Aspekt bezeichnet, dass ein gewisser Vermögensstand mit politischen Privilegien einhergeht. Solons politische Innovation besteht also darin, den einzelnen, sofern er das Privileg politischer Partizipation genießt, in die Verantwortung für das Ganze einzubinden und so die Grenzen zwischen Teil und Ganzem, Individuum und Staat, zu öffnen; das Individuum wird ‘Bürger’, voll partizipierendes Element eines staatlichen Gemeinwesens, das nicht per se, substantiell, höher steht als seine Elemente - denn diese erst konstituieren das Ganze, den Staat. Das (privilegierte) Individuum, über den Adel hinaus nun auch der grundbesitzende Bauer, ist selbstbewusstes und mitverantwortliches Element einer Polis geworden, es ist ‘politisiert’.

Auch dem mythischen Denken der Bürger versucht Solon im politischen Bereich das Wasser abzugraben, indem er ihnen klarmacht, dass nicht die Götter, sondern sie selbst, die Bürger, die volle Verantwortung für das politische Schicksal ihrer Stadt zu übernehmen haben. Natürlich geht es ihm nicht darum, den im Volk festverwurzelten altgriechischen Götterglauben, von dem er sich selbst ja noch nicht gelöst hat, zu beseitigen, aber doch um dessen weitgehende Ausgrenzung aus der politischen Sphäre.

Was sich bei Solon nicht findet, ist z.B. der Gedanke der Gleichheit politischer Rechte unabhängig vom materiellen Stand oder die Auffassung, dass die Interessen einflußreicher Minderheiten im politischen Leben keinen Vorrang genießen dürfen. Bis zur sogenannten radikalen Demokratie des späten 5. Jahrhunderts unter Perikles ist von Solon aus noch ein weiter Weg.

Nach seinem Tod kommen neue Unruhen auf, da trotz seiner Maßnahmen die Krise nicht vollständig gemeistert ist. Die einzelnen politischen Institutionen, die Solon nebeneinanderstellte, laufen stets Gefahr, sich wechselseitig zu neutralisieren, so dass letztlich der Mangel an einer gleichwohl demokratisch kontrollierten Zentralgewalt spürbar wird, ein Mangel, der die attische Demokratie bis an ihr Ende begleiten wird.

In den Jahrzehnten nach Solon versuchen die adligen Großgrundbesitzer, ihre lokale Macht wieder zu verstärken. Um dem vorzubeugen, sichert sich 561 Peisistratos, das Haupt der bäuerlich-radikalen Gruppe, die Führung im Staat und etabliert eine fünfzig Jahre währende Alleinherrschaft seiner Dynastie, unter welcher der Sonderweg Athens in eine kulturelle Hochblüte sich fortsetzt.

Die Historiker gelangen angesichts der peisistratidischen Politik zu der paradox anmutenden Feststellung, dass die Demokratie (oder das, was Solon in Ansätzen davon schuf) durch die Tyrannis der Peisistratiden stabilisiert und gefördert wird: der durch Solon bereits politisch gestutzte Adel bleibt durch alle fünf Jahrzehnte ohne Chance auf Regeneration seiner Macht, im Gegenteil, infolge der auf Athen als attisches Zentrum ausgerichteten Politik der Peisistratiden verliert der an ländliche Zentren gebundene Adel, unter Solon immerhin noch relativ gut im Futter stehend, weitgehend an Einfluß. Wirtschaftliche Not und politischer Ehrgeiz können unter den nachsolonischen und vorpeisistratidischen Krisenbedingungen eine korrumpierende Allianz eingehen, indem der unter das Subsistenzminimum sinkende Bauer (soweit rüstungsfähig, ein wahlberechtigter Bürger) der ‘Klient’ eines aristokratischen Reichen, eines ‘Patrons’, wird, was bedeutet, dass er gegen finanzielle Unterstützung bzw. Kreditgewähr sich verpflichtet, diesem bei Wahlen die Stimme zu geben; eine politische (Un-)Sitte, die noch im republikanischen Rom sich großer Beliebtheit erfreuen wird.

Um diesem Übel zu wehren, institutionalisiert Peisistratos staatliche Anleihefonds für verarmte Bauern sowie herumreisende staatliche Richter, welche die lokale Rechtsprechung durch Adlige und damit einen weiteren Faktor ihrer Macht immer mehr in den Hintergrund drängen. „Dass Peisistratos ein ‘Tyrann’ war, ist unserem Zusammenhang ohne Bedeutung“, meint Moses I. Finley. „Jeder, ob ein einzelner oder eine Gruppe, der die polis entwickeln und stärken wollte, wäre in diesem frühen Stadium gezwungen gewesen, gegen die lokalen Herrschaftspositionen der Aristokraten vorzugehen.“ Mit der Peisistratidenherrschaft ist also die dritte, wenn auch indirekte Bedingung des attischen Demokratisierungsprozesses gegeben.

Nach dem Sturz dieser Dynastie kann Kleisthenes die sich wieder in den Vordergrund drängenden Aristokraten in Schach halten und in den Jahren 508/7 die Verfassung neu ordnen, er kann aus Athen den Typ des politisch einheitlichen und dennoch vielheitlich regierten Staates schmieden, als der es für die Städte seiner Zeit und die Staaten späterer Zeiten zum freiheitsverheißenden Modell, ja Symbol wird. Historisch überaus relevant ist Kleisthenes’ Schaffung der Phylenstruktur Attikas: er fasst die 139 Dorfgemeinden (die Demen) in zehn abstrakte Einheiten, die Phylen, zusammen, deren Charakteristikum es ist, Demen aus den drei Regionen Attikas, dem Stadtgebiet, dem Binnenland und dem Küstenland, zu beinhalten; die Elemente jeder der Phylen sind also geographisch über ganz Attika verteilt.

Dass Kleisthenes die Zusammenstellung der Demen per Losentscheid bestimmt hat, dürfte aber Legende sein. Auf jede Phyle fallen fünfzig Ratsmitglieder, wobei jedes Demen mindestens einen Vertreter zu stellen hat. „Niemand wird bezweifeln könnnen,“ bilanziert Finley, „dass Kleisthenes mit den Demen und Phylen eine ingeniöse, künstliche Ordnung geschaffen hatte (die zu den zahlreichen schöpferischen politischen Innovationen Athens zählt …); ferner, dass sein System vom demos akzeptiert wurde und nicht nur bis zum Ende der Demokratie in Athen Bestand hatte, sondern noch Jahrhunderte danach, selbst unter römischer Herrschaft, fortbestand; und dass schließlich Kleisthenes und der demos in dieser Ordnung ein notwendiges Instrument für eine Veränderung der politischen Verhältnisse sahen, indem der demos (wie Aristoteles es ausgedrückt hat) stärker an der Politik beteiligt wurde.“

Durch Kleisthenes’ geschickte Neuorganisation ist Athen das politische Zentrum einer Landschaft geworden, deren abgelegenste Ecke sich gleichwohl in der politischen Struktur des Zentrums repräsentiert findet. Sofern man die bis dahin gefährlich dominanten lokalen Machtzentren der Aristokratie in Betracht zieht, kann die Phylenreform als hochbedeutsamer und erfolgreicher Schritt der De-Zentrierung der politischen Macht gewertet werden: die vierte Bedingung für die Etablierung dessen, was die antike Vorform der modernen Demokratie darstellt. So kann Herodot überspitzt sagen, dass die Strukturreform des Kleisthenes erst eigentlich die Demokratie hervorbrachte.
 
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Ich stimme der Grundidee des vorhergehenden Textes weitgehend zu. Allerdings muß ich sie aufspalten in die Beschreibung und Interpretation einer strukturellen Entwicklung auf der einen Seite und der Einbindung in die Ereignisgeschichte auf der anderen Seite. Beim letzten Punkt bleiben leider viele Fragen offen - der Charakter der für uns eigentlich nicht mehr faßbaren attischen Monarchie beispielsweise.
Die Person des Solon ist auch so ein Rätsel, ich frage mich, ob nicht unter seinem namen einiges subsumiert wurde, was vielleicht Ergebnis eines Prozesses war. Und letztlich bleibt auch bei Kleisthenes offen, inwieweit er eine durchstrukturierte und zielorientierte Theorie hatte oder ob er nur punktuell handelte - zumal ja auch so eine weitreichende Strukturänderung nicht ohne eine Unterstützung durch weiterer Kreise möglich gewesen sein kann.
 
Ein Umstand wird nur selten zu den Rahmenbedingungen der griechischen Demokratieentwicklung gezählt: der schwache Stand der Institution des Königtums und deren, gemessen an der Entwicklung bei anderen mächtigen Völkern, sehr frühe Abschaffung um die Wende zum 7. Jahrhundert. Unschwer lässt sich hier schon die, man möchte sagen, anti-autoritäre Tendenz im politischen Denken der Griechen erkennen, die sich später über Jahrhunderte hinweg deutlich abzeichnen wird, wenngleich nie ohne Anfechtung seitens tyrannischer oder aristokratischer Gegenkräfte. Erst durch Alexander, den König der griechischstämmigen Makedonen, hält die monarchische Herrschaftsform fast vierhundert Jahre später zwangsläufig wieder Einzug in Griechenland.
Mir tut der Textabschnitt zu sehr so, als sei Athen/Attika pars pro toto für Griechenland. Aber Athen und seine Landschaft Attika war eben nur eine polis und bei weitem nicht alle griechischen poléis waren demokratisch verfasst.
 
Ich sag's ja: Selbst wenn man freier Bürger Attikas war, musste man erst mal den finanziellen Spielraum haben, um seine Arbeit ruhen zu lassen und sich stundenlang auf den Pnyx zu stellen. Bei den nicht in der Hauptstadt (wir reden hier natürlich nicht von heute und Griechenland sondern nur von Attika) lebenden Bürgern kam die An- und Abreise hinzu. Der Pnyx hatte auch gar nicht den Platz, um alle Vollbürger aufzunehmen.

Richtig. Wobei ich spekuliere, dass es eine "städtische Unterschicht" gab, für die die räumliche Entfernung kein Problem war, und die keinen eigenen Hof bzw kein eigenes Gewerbe führten; Tagelöhner, die besonders bei zeitweiliger Arbeitslosigkeit über freie Zeit (und tendenziell schlechte Laune) verfügten. Gerade solche Leute hatten ein Interesse an imperialen Auftreten Athens, da Flotte und Bauprojekte Arbeit und Einkommen versprachen, und an der Bezahlung für "städtische Dienste" (sei es als Geschworener oder Theaterbesucher).
 
Wobei ich spekuliere, dass es eine "städtische Unterschicht" gab, für die die räumliche Entfernung kein Problem war, und die keinen eigenen Hof bzw kein eigenes Gewerbe führten; Tagelöhner, die besonders bei zeitweiliger Arbeitslosigkeit über freie Zeit (und tendenziell schlechte Laune) verfügten. Gerade solche Leute hatten ein Interesse an imperialen Auftreten Athens, da Flotte und Bauprojekte Arbeit und Einkommen versprachen, und an der Bezahlung für "städtische Dienste" (sei es als Geschworener oder Theaterbesucher).

Jein. Ein imperiales Auftreten Athens hieß natürlich auch, im Zweifelsfall die Ruderbank auf einem Kriegsschiff drücken.
 
Diese Einsetze wurden bezahlt. Kann mir vorstellen, dass genug Schlange standen, solange nicht zu viele Schiffe gleichzeitig im Einsatz waren.
 
@Chan: Es ist ein schlechter Stil, aus einem Buch wörtlich zu zitieren, ohne den Autoren etc. zu nennen.

Das zum einen dem Autor gegenüber und zum anderen gegenüber den anderen Usern.

vgl.
https://books.google.de/books?id=4G...gründet, denen er sich gegenübersieht&f=false

Das Buch "Shunyata und Logos" ist von mir selbst unter dem Pseudonym "Tammuz Doron" verfasst. Ich wollte das hier nicht an die große Glocke hängen.

Für die zitierte Darstellung habe ich mehrere Fachbücher aus der Bayerischen Staatsbibliothek verwendet.
 
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