Die Demokratie - es folgt eine These - ist ein Betriebsunfall der Aristokratie gewesen. Die Phylenreform des Kleisthenes, wenn wir diese mal als Auslöser ansetzen, ging ja eben nicht von einer Gerechtigkeitsdebatte aus, sondern diente dem Konkurrenzkampf von Adelsfamilien...
Ich füge zum Thema ´Entstehung der attischen Demokratie´ einige Passagen aus einem schon älteren eigenen Text an.
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Ein Umstand wird nur selten zu den Rahmenbedingungen der griechischen Demokratieentwicklung gezählt: der schwache Stand der Institution des Königtums und deren, gemessen an der Entwicklung bei anderen mächtigen Völkern, sehr frühe Abschaffung um die Wende zum 7. Jahrhundert. Unschwer lässt sich hier schon die, man möchte sagen, anti-autoritäre Tendenz im politischen Denken der Griechen erkennen, die sich später über Jahrhunderte hinweg deutlich abzeichnen wird, wenngleich nie ohne Anfechtung seitens tyrannischer oder aristokratischer Gegenkräfte. Erst durch Alexander, den König der griechischstämmigen Makedonen, hält die monarchische Herrschaftsform fast vierhundert Jahre später zwangsläufig wieder Einzug in Griechenland.
Da ist, zum zweiten, im 7. Jahrhundert die höchst verzwickte politische Situation Attikas infolge der Verschuldung und Versklavung der Bauern beim politisch dominierenden Adel, der im Jahrhundert zuvor das Königtum verdrängt hat und seitdem das Personal für das regierende Gremium der Archonten stellt. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts kommt es zur bekannten historischen Großtat Solons, der damit beauftragt wird, das drängende Problem einer Lösung zuzuführen.
Die Person des Solon ist eine weitere, höchst zufällige Bedingung des athenischen Demokratisierungsprozesses. Dass er bestimmte Maßnahmen ergreift und keine anderen, liegt nicht zwingend in den Umständen begründet, denen er sich gegenübersieht. Allerdings ist er kein systematischer Theoretiker, der abstrakte politische Programme verficht, er ist intuitiver Pragmatiker. Solon denkt nicht in den Kategorien von Begriffen wie Demokratie, Monarchie, Oligarchie usf., einfach deswegen, weil diese Begriffe erst viel später geprägt werden; allerdings trägt er entscheidend dazu bei, dass es zu diesen Prägungen überhaupt kommt. Seine Terminologie ist simpler, sie differenziert, mit durchaus gängigen zeitgenössischen Ausdrücken, zwischen Eunomie, der Wohlordnung, und Dysnomie, der Unordnung.
Solons Aufgabe ist, die Eunomie wiederherzustellen, die durch die Verfeindung von Adel und Bauerntum zerstört worden ist. Das Prinzip der Privilegien der Reichsten tastet er dabei nicht an, gibt ihm aber eine neue Form, die sich im nachhinein weit über Athen hinaus als revolutionär erweisen wird. Denn innerhalb dieser von Solon neudefinierten, stark erweiterten privilegierten Schicht - die sich jetzt aus jenen rekrutiert, die vermögend genug sind, um eine eigene Kriegsrüstung stellen zu können - haben alle Individuen die gleichen politischen Rechte, sie können diese auch in einem erweiterten verfassungsrechtlichen Rahmen nutzen, da Solon die Kompetenzen der Volksversammlung ausdehnt und einen ‘Rat der 400’ neu institutionalisiert.
Als Timokratie wird die neue Verfassung – nachträglich - unter dem Aspekt bezeichnet, dass ein gewisser Vermögensstand mit politischen Privilegien einhergeht. Solons politische Innovation besteht also darin, den einzelnen, sofern er das Privileg politischer Partizipation genießt, in die Verantwortung für das Ganze einzubinden und so die Grenzen zwischen Teil und Ganzem, Individuum und Staat, zu öffnen; das Individuum wird ‘Bürger’, voll partizipierendes Element eines staatlichen Gemeinwesens, das nicht per se, substantiell, höher steht als seine Elemente - denn diese erst konstituieren das Ganze, den Staat. Das (privilegierte) Individuum, über den Adel hinaus nun auch der grundbesitzende Bauer, ist selbstbewusstes und mitverantwortliches Element einer Polis geworden, es ist ‘politisiert’.
Auch dem mythischen Denken der Bürger versucht Solon im politischen Bereich das Wasser abzugraben, indem er ihnen klarmacht, dass nicht die Götter, sondern sie selbst, die Bürger, die volle Verantwortung für das politische Schicksal ihrer Stadt zu übernehmen haben. Natürlich geht es ihm nicht darum, den im Volk festverwurzelten altgriechischen Götterglauben, von dem er sich selbst ja noch nicht gelöst hat, zu beseitigen, aber doch um dessen weitgehende Ausgrenzung aus der politischen Sphäre.
Was sich bei Solon nicht findet, ist z.B. der Gedanke der Gleichheit politischer Rechte unabhängig vom materiellen Stand oder die Auffassung, dass die Interessen einflußreicher Minderheiten im politischen Leben keinen Vorrang genießen dürfen. Bis zur sogenannten radikalen Demokratie des späten 5. Jahrhunderts unter Perikles ist von Solon aus noch ein weiter Weg.
Nach seinem Tod kommen neue Unruhen auf, da trotz seiner Maßnahmen die Krise nicht vollständig gemeistert ist. Die einzelnen politischen Institutionen, die Solon nebeneinanderstellte, laufen stets Gefahr, sich wechselseitig zu neutralisieren, so dass letztlich der Mangel an einer gleichwohl demokratisch kontrollierten Zentralgewalt spürbar wird, ein Mangel, der die attische Demokratie bis an ihr Ende begleiten wird.
In den Jahrzehnten nach Solon versuchen die adligen Großgrundbesitzer, ihre lokale Macht wieder zu verstärken. Um dem vorzubeugen, sichert sich 561 Peisistratos, das Haupt der bäuerlich-radikalen Gruppe, die Führung im Staat und etabliert eine fünfzig Jahre währende Alleinherrschaft seiner Dynastie, unter welcher der Sonderweg Athens in eine kulturelle Hochblüte sich fortsetzt.
Die Historiker gelangen angesichts der peisistratidischen Politik zu der paradox anmutenden Feststellung, dass die Demokratie (oder das, was Solon in Ansätzen davon schuf) durch die Tyrannis der Peisistratiden stabilisiert und gefördert wird: der durch Solon bereits politisch gestutzte Adel bleibt durch alle fünf Jahrzehnte ohne Chance auf Regeneration seiner Macht, im Gegenteil, infolge der auf Athen als attisches Zentrum ausgerichteten Politik der Peisistratiden verliert der an ländliche Zentren gebundene Adel, unter Solon immerhin noch relativ gut im Futter stehend, weitgehend an Einfluß. Wirtschaftliche Not und politischer Ehrgeiz können unter den nachsolonischen und vorpeisistratidischen Krisenbedingungen eine korrumpierende Allianz eingehen, indem der unter das Subsistenzminimum sinkende Bauer (soweit rüstungsfähig, ein wahlberechtigter Bürger) der ‘Klient’ eines aristokratischen Reichen, eines ‘Patrons’, wird, was bedeutet, dass er gegen finanzielle Unterstützung bzw. Kreditgewähr sich verpflichtet, diesem bei Wahlen die Stimme zu geben; eine politische (Un-)Sitte, die noch im republikanischen Rom sich großer Beliebtheit erfreuen wird.
Um diesem Übel zu wehren, institutionalisiert Peisistratos staatliche Anleihefonds für verarmte Bauern sowie herumreisende staatliche Richter, welche die lokale Rechtsprechung durch Adlige und damit einen weiteren Faktor ihrer Macht immer mehr in den Hintergrund drängen. „Dass Peisistratos ein ‘Tyrann’ war, ist unserem Zusammenhang ohne Bedeutung“, meint Moses I. Finley. „Jeder, ob ein einzelner oder eine Gruppe, der die polis entwickeln und stärken wollte, wäre in diesem frühen Stadium gezwungen gewesen, gegen die lokalen Herrschaftspositionen der Aristokraten vorzugehen.“ Mit der Peisistratidenherrschaft ist also die dritte, wenn auch indirekte Bedingung des attischen Demokratisierungsprozesses gegeben.
Nach dem Sturz dieser Dynastie kann Kleisthenes die sich wieder in den Vordergrund drängenden Aristokraten in Schach halten und in den Jahren 508/7 die Verfassung neu ordnen, er kann aus Athen den Typ des politisch einheitlichen und dennoch vielheitlich regierten Staates schmieden, als der es für die Städte seiner Zeit und die Staaten späterer Zeiten zum freiheitsverheißenden Modell, ja Symbol wird. Historisch überaus relevant ist Kleisthenes’ Schaffung der Phylenstruktur Attikas: er fasst die 139 Dorfgemeinden (die Demen) in zehn abstrakte Einheiten, die Phylen, zusammen, deren Charakteristikum es ist, Demen aus den drei Regionen Attikas, dem Stadtgebiet, dem Binnenland und dem Küstenland, zu beinhalten; die Elemente jeder der Phylen sind also geographisch über ganz Attika verteilt.
Dass Kleisthenes die Zusammenstellung der Demen per Losentscheid bestimmt hat, dürfte aber Legende sein. Auf jede Phyle fallen fünfzig Ratsmitglieder, wobei jedes Demen mindestens einen Vertreter zu stellen hat. „Niemand wird bezweifeln könnnen,“ bilanziert Finley, „dass Kleisthenes mit den Demen und Phylen eine ingeniöse, künstliche Ordnung geschaffen hatte (die zu den zahlreichen schöpferischen politischen Innovationen Athens zählt …); ferner, dass sein System vom demos akzeptiert wurde und nicht nur bis zum Ende der Demokratie in Athen Bestand hatte, sondern noch Jahrhunderte danach, selbst unter römischer Herrschaft, fortbestand; und dass schließlich Kleisthenes und der demos in dieser Ordnung ein notwendiges Instrument für eine Veränderung der politischen Verhältnisse sahen, indem der demos (wie Aristoteles es ausgedrückt hat) stärker an der Politik beteiligt wurde.“
Durch Kleisthenes’ geschickte Neuorganisation ist Athen das politische Zentrum einer Landschaft geworden, deren abgelegenste Ecke sich gleichwohl in der politischen Struktur des Zentrums repräsentiert findet. Sofern man die bis dahin gefährlich dominanten lokalen Machtzentren der Aristokratie in Betracht zieht, kann die Phylenreform als hochbedeutsamer und erfolgreicher Schritt der De-Zentrierung der politischen Macht gewertet werden: die vierte Bedingung für die Etablierung dessen, was die antike Vorform der modernen Demokratie darstellt. So kann Herodot überspitzt sagen, dass die Strukturreform des Kleisthenes erst eigentlich die Demokratie hervorbrachte.