Offenbarung des Johannes

...Apk 11. Die Stelle lautet:

Dann wurde mir ein Messstab gegeben, der aussah wie ein Stock, und mir wurde gesagt: Geh, miss den Tempel Gottes und den Altar und zähle alle, die dort anbeten! Den Hof, der außerhalb des Tempels liegt, lass aus und miss ihn nicht; denn er ist den Heiden überlassen. Sie werden die heilige Stadt zertreten, zweiundvierzig Monate lang.

Die Stelle liest sich so, als würde der Jerusalemer Tempel noch existieren. Der äußere Vorhof und der Rest der heiligen Stadt werden den Heiden überlassen und zertreten. Bezüge zu den Ereignissen des Jüdischen Krieges sind zu erkennen, ...

Eine Bezugnahme auf den historischen Zweiten Tempel ist hier unwahrscheinlich, da Johannes an keiner anderen Stelle ein Interesse an diesem Tempel oder am alten Jerusalem zu erkennen gibt. Die Passage dürfte anders zu deuten sein: Das Vermessen symbolisiert eine göttliche Garantie für das ewige Leben für "alle, die dort (= im Innern des Tempels) anbeten", d.h. für die - im Sinne von Johannes - wahrhaft Gläubigen. Das bedeutet nicht, dass sie vom physischen Tod verschont bleiben, den ihnen die Anhänger des Drachen und der beiden Tiere gewaltsam bereiten werden - dieser Tod ist ihnen vorherbestimmt (siehe folgendes Zitat) - , sondern es bedeutet, dass sie nach dem Endgericht mit Sicherheit in das Gottesreich eingehen werden.

Offb 6
11 Und ihnen wurde gegeben einem jeglichen ein weißes Kleid, und ward zu ihnen gesagt, daß sie ruhten noch eine kleine Zeit, bis dass vollends dazukämen ihre Mitknechte und Brüder, die auch sollten noch getötet werden gleich wie sie.

Offb 11,1-2 übernimmt das Motiv des Messens, das dort ähnlich zu deuten ist, aus jüdischen Quellen:

Ezechiel 40,3
Und da er mich hingebracht hatte, siehe, da war ein Mann, des Ansehen war wie Erz; der hatte eine lange leinene Schnur und eine Messrute in seiner Hand und stand unter dem Tor.

Sacharja 2
1Und ich hob meine Augen auf und sah, und siehe, ein Mann hatte eine Messschnur in der Hand. 2Und ich sprach: Wo gehst du hin? Er aber sprach zu mir: Daß ich Jerusalem messe und sehe, wie lang und weit es sein soll.

Der "Hof außerhalb des Tempels" steht unter der Herrschaft der "Heiden" (im Originaltext: ἔθνεσιν "Nationen"), d.h. der Anhänger Satans und der zwei Tiere. Das "ist überlassen" (ἐδόθη) ist ein Offb-typisches Passivum Divinum und zeigt an, dass diese Handlung, das Überlassen des äußeren Hofes an die Ungläubigen, von ´Gott´ so gewollt ist. Diese Deutung des Passivs in biblischen Texten ist in der Exegese allgemein anerkannt. Andere Beispiele für das passivum divinum als Ausdruck göttlichen Willens:

Der berühmte erste Reiter:

Offb 6
2 Und ich sah, und siehe, ein weißes Pferd. Und der daraufsaß, hatte einen Bogen; und ihm ward gegeben eine Krone, und er zog aus sieghaft, und dass er siegte.

Der zweite Reiter:

4 Und es ging heraus ein anderes Pferd, das war rot. Und dem, der daraufsaß, ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde und daß sie sich untereinander erwürgten; und ward ihm ein großes Schwert gegeben.

Das zweite Tier in Offb 13:

5 Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen, und ward ihm gegeben, dass es mit ihm währte zweiundvierzig Monate (= 1260 Tage, siehe unten) lang.

Der Drache (Satan) in Offb 12:

9 Und es ward ausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführt, und ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden auch dahin geworfen.

Die genannten "1260 Tage" (3,5 Jahre = die Hälfte der Idealzahl 7) sind symbolisch und entsprechen der Zeitspanne, in welcher Satan auf der Erde Macht hat, bevor ihm Gott und Christus das Handwerk legen. Mit der Zerstörung Jerusalems im Jahr 79 hat das nichts zu tun. Die 1260 Tage werden auch in Offb 12 erwähnt:

6 Und das Weib entfloh in die Wüste, wo sie einen Ort hat, bereitet von Gott, dass sie daselbst ernährt würde tausend zweihundertundsechzig Tage.

Auf die "zwei Zeugen" komme ich noch zurück.
 
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Ich weiß nicht, warum Scorpio nicht antwortet, aber er bezieht sich ausdrücklich auf Apk 11. Die Stelle lautet:

Dann wurde mir ein Messstab gegeben, der aussah wie ein Stock, und mir wurde gesagt: Geh, miss den Tempel Gottes und den Altar und zähle alle, die dort anbeten! Den Hof, der außerhalb des Tempels liegt, lass aus und miss ihn nicht; denn er ist den Heiden überlassen. Sie werden die heilige Stadt zertreten, zweiundvierzig Monate lang.

Die Stelle liest sich so, als würde der Jerusalemer Tempel noch existieren. Der äußere Vorhof und der Rest der heiligen Stadt werden den Heiden überlassen und zertreten. Bezüge zu den Ereignissen des Jüdischen Krieges sind zu erkennen, so hofften die Zeloten bis zuletzt, der Tempel würde durch Gottes Eingreifen verschont werden:

https://de.wikisource.org/wiki/Juedischer_Krieg/Buch_V_10-13

https://de.wikisource.org/wiki/Juedischer_Krieg/Buch_VI_4-10

Die Textstelle, so verstehe ich Scorpio, muss auf eine Zeit zurückgehen, als der Jerusalemer Tempel noch existierte.

Danke für die Hilfe!

Die Kapitelangabe hatte ich überlesen und an die Vermessung durch den Engel am Ende des Buches gedacht. Wenn wir diese Stelle im Hinblick auf den realen Tempel deuten und gleichzeitig Chans Einwand aufnehmen, könnte das ein Hinweis auf eine längere Entstehungsgeschichte des Textes sein.

Der Redaktor hätte dann ein älteres Fragment (und wohl weitere an anderen Stellen), das vielleicht in der Gemeinde als prophetisches Zeugnis bekannt war, in sein Werk eingefügt. Dieses zeugt - so die Deutung zutrifft - von der allmählichen Ablösung der Gemeinde des Johannes vom Tempel und eventuell auch von der jüdischen Glaubensgemeinschaft.

Da das Fragment durchaus aus der Zeit des Jüdischen Krieges stammen könnte (aber dessen Ausgang noch nicht vollständig zu reflektieren scheint), wäre diese Ablösung wohl auf die Zeit um 70-100 zu datieren, gewiss im Rahmen eines längeren Prozesses.

Etwa um diesen Zeitraum herum wird ja auch der Wegzug der Christengemeinde(n) vom Heiligen Land angesetzt, das entspräche sich also ganz gut.
 
Eine Bezugnahme auf den historischen Zweiten Tempel ist hier unwahrscheinlich

Eine Bezugnahme ist offensichtlich.

Einem judenchristlichen Leser muss sich bei der Erwähnung der heiligen Stadt, die von den Heiden zertreten wird, die Erinnerung an die Zerstörung des Tempels aufgedrängt haben.

Vgl. außerdem "... denn er ist den Heiden überlassen. Sie werden die heilige Stadt zertreten..." mit Lukas 21:
Wenn ihr aber seht, dass Jerusalem von einem Heer eingeschlossen wird, dann könnt ihr daran erkennen, dass die Stadt bald verwüstet wird.

... Mit scharfem Schwert wird man sie erschlagen, als Gefangene wird man sie in alle Länder verschleppen und Jerusalem wird von den Heiden zertreten werden, bis die Zeiten der Heiden sich erfüllen.
 
Eine Bezugnahme ist offensichtlich.

Ich würde das etwas vorsichtiger sagen: das ist reichlich umstritten.

Völlig klar ist, dass Chans theologische Deutung (mal wieder) völlig einseitig ist, und lediglich seiner Intention folgt, Spätdatierung (irgendwie) zu begründen. Da stört natürlich diese Passage, und sie wird daher mit Wiedergabe von Mindermeinungen ausgeblendet.

Für 11:1 finden sich - neben Bezugnahme auf den historischen Zweiten Tempel - allerdings mindestens zwei weitere, ebenso vertretene Interpretationen:

- Tempel als Metapher für die Kirche, wohl mit Bezug auf andere Textstelllen
- Vorstellung eines himmlischen Tempels

Näheres müsste ich nachschlagen, aber der Aspekt ist ohnehin Gegenstand theologischer Debatten.
 
Ich würde das etwas vorsichtiger sagen: das ist reichlich umstritten.

Völlig klar ist, dass Chans theologische Deutung (mal wieder) völlig einseitig ist, und lediglich seiner Intention folgt, Spätdatierung (irgendwie) zu begründen. Da stört natürlich diese Passage, und sie wird daher mit Wiedergabe von Mindermeinungen ausgeblendet.

Da möchte ich zwei Ebenen auseinanderhalten:

- Das Bild von den Heiden, die "die heilige Stadt zertreten", muss bei einem judenchristlichen Leser bestimmte Erinnerungen wecken - auch Jahrzehnte nach der Zerstörung des Tempels. Und das musste auch einem judenchristlichen Autor bewusst sein.

- Ob die Textstelle aus der Zeit 70 stammt, ist mit Recht umstritten. Von den Verfechtern einer Frühdatierung wird die Stelle als Argument herangezogen.

Ich selber habe mich nicht für eine Frühdatierung ausgesprochen, sondern nur gesagt, dass ich Scorpios Beitrag so verstehe:
Die Textstelle, so verstehe ich Scorpio, muss auf eine Zeit zurückgehen, als der Jerusalemer Tempel noch existierte.

 
Das sehe ich ähnlich.

Die Interpretation und die Datierungsdiskussion sollte man auseinander halten, auch wenn die Interpretationen natürlich als Argumente der Datierungsdiskussion aufgegriffen/benutzt werden.

Das Bild von den Heiden, die "die heilige Stadt zertreten", muss bei einem judenchristlichen Leser bestimmte Erinnerungen wecken - auch Jahrzehnte nach der Zerstörung des Tempels. Und das musste auch einem judenchristlichen Autor bewusst sein.

Das wird so sein.
"This is clearly connected to the fact that both Babylon (in 587 BCE) and Rome (in 70 CE) were responsible for taking Jerusalem and destroying the temple. The latter fact (the destruction of the heart of the Jewish religion) is very likely the direct cause for this metaphor, 308 which also appears in other Jewish literature after the year 70. ... [citing: ... All roughly contemporary with Revelation: 4 Ezra 3.1-2, 28-31; 2 Bar. 10.1-3; 11.1; 67.7; Sib. Or. 5.143, 159]
Heemstra, How Rome’s Administration of the Fiscus Judaicus Accelerated the Parting of the Ways between Judaism and Christianity.

Eine andere Frage ist, ob mit Tempel hier tatsächlich der irdische 2. Tempel (oder ein neu zu errichtender 3.) angesprochen ist, oder man den beiden oben skizzierten Strömungen folgt, die das nur im übertragenen Sinn interpretieren. Wenn der Tempel und seine Zerstörung allerdings nicht interessierte, spricht das ebenfalls für eine Metapher. Die ähnlicbe Bedeutung von Gemeinschaft findet sich auch in den Qumran-Rollen.
"The community's full understanding of itself as a substitute for the temple, as expressed in 1 QS VIII, 1 -16a and IX,3-11, came at a second stage in the development of the yahad, after the stage represented in V, 1-13aand V, 13b-20a."
Hultgreen: From the Damascus Covenant to the Covenant of the Community.

Datierung nach 70, trotzdem Interpretation im übertragenen Sinn können auch zusammenfallen.
"The vision of the holy city and temple in Rev 11 can best be understood as a symbolic portrayal of the Christian community’s struggle with its social environment. Although some think the scene originally dealt with the Roman siege of Jerusalem, they recognize that the temple imagery has been transferred to the church as a worshiping community (Notes and Comment on Rev 11:1). Depicting Rome as “Babylon” does not require a post- date. By way of anal- ogy, some Dead Sea texts written before  equate Rome with Asshur, since it was an oppressive power (1 QM XIX, 4Q492  ). Yet the equating of Rome with Babylon did become common after , making it more likely that Revelation reflects the usage of this general period (4 Ezra, 2 Bar, 1 Pet,...)
Koester, Revelation, auch zu den verschiedenen Interpretationen.

Ob der Autor das Bild der Zerstörung bewusst ansprechen wollte, und mit dem Bild diese Erinnerung benutzt hat, oder - zeitgenössisch wie andere Beispiele - dem Tempel nur symbolische Bedeutung als Synonym der community/Kirche beimaß, und das nachträglich herein interpretiert werden konnte, ist mE nicht zu belegen.

Siehe auch Green, MacDonald, World of the New Testament:
"The NT does not disparage the temple, and Jewish Christians continued to use it and brought offerings (Matt. 5:23–24; Acts 2:46; 3:1; 5:42; 21:26). When it was destroyed, there was little consternation among Christians, because the temple had been largely appropriated into their theology as a spiritual dwelling place of God. On earth, this spiritual temple consisted of the body of God’s people (1 Cor. 3:16; 6:19; 2 Cor. 6:16; Eph. 2:21), while in heaven it represented the presence of God, into which Jesus had entered, and where Christian worship reaches God’s attention (Heb. 6:19; 8:2; 9:11, 24; 10:20)." (S. 206)
 
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Zur Rezeptionsgeschichte der Johannesoffenbarung

Wie kein anderer Text des NT beansprucht die Offb von sich aus Kanonizität. Dafür sprechen zwei Stellen:

(1) Der sog. Makarismus in Offb 1,3:

Selig ist, der da lieset und die da hören die Worte der Weissagung,
und behalten, was darinnen geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe.
(2) und die Kanonisierungsformel in Offb 22,18f., angelehnt an die analogen deuteronomistischen Formeln Dtn 4,2 und 13,1, wodurch der Autor seinen Text auf die gleiche Ebene stellt wie das AT:

Offb 22:

18. Ich bezeuge allen, die da hören die Worte der Weissagung in
diesem Buch: So jemand dazu setzet, so wird Gott zusetzen auf ihn
die Plagen, die in diesem Buch geschrieben stehen.

19. Und so jemand davontut von den Worten des Buchs dieser
Weissagung, so wird Gott abtun sein Teil vom Holz des Lebens und
von der heiligen Stadt, von welchen in diesem Buch geschrieben ist.
Der Autor, der sich selbst vier Mal ´Johannes´ nennt, wurde nach unserem Kenntnisstand bis in das 3. Jahrhundert unumstritten mit dem Apostel Johannes identifiziert. Natürlich war noch Athanasius im 4. Jahrhundert davon nicht abgewichen, da zu seinen Kriterien für die Aufnahme in den Kanon u.a. und vor allem die Apostolität der Verfasser zählte. Bevor ich auf die Zweifler an der Identität von Apostel / Autor eingehe, kommen weiter unten einige Befürworter zu Wort (Justin, Irenäus, Kanon Muratori, Tertullian).

Papias (um 140) scheint die Offb gekannt zu haben, was diverse Stellen in den Fragmenten nahe legen, wenn auch nicht beweisen. Dass sie ihm zugesagt hätte, ist auf jeden Fall anzunehmen, da er - gesichert - zu einem Chiliasmus neigte, der nicht nur mit der Offb konform geht, sondern direkt oder indirekt von dieser herzuleiten ist.

Die Offb gilt nämlich als der textliche Initiator des kleinasiatischen Chiliasmus. Darunter ist die Überzeugung zu verstehen, dass mit der zweiten ´Ankunft Christi´ (Parusia) der Anbruch eines 1000jährigen Reichs verbunden sei, dessen Sinn darin besteht, Ungläubigen die Chance zur Hinwendung zum Christenglauben zu geben, bevor nach Ablauf der 1000 Jahre das Endgericht erfolgt. Der Chiliasmus scheint nach der Publikation der Offb in der Provinz Asia der dogmatische Mainstream gewesen zu sein - nicht nur Papias, auch Polycarp, Justin, Irenäus und natürlich Montanus wurden dort von ihm, insbesondere durch seine Gestalt in der Offb, geprägt. Den Chiliasmus hatten Judenchristen aus Palästina nach Kleinasien mitgebracht, die in der jüdischen Apokalyptik des 2. Jh. BCE verwurzelt waren. Die 1000-Zahl verdankt sich wahrscheinlich iranischen (zoroastrischen) Einflüssen.

Justin, der vor seiner Niederlassung in Rom in Ephesus lebte, wo der Chiliasmus zu jener Zeit florierte, schreibt in seinem ´Dialog mit dem Juden Trypho´ 81,4:

Ferner hat einer, der bei uns war, Johannes hieß und zu den Aposteln Christi gehörte, in einer Offenbarung prophezeit, die, welche an unseren Christus glauben, werden in Jerusalem tausend Jahre verbringen, und dann werde für alle ohne Ausnahme die allgemeine und sogenannte ewige Auferstehung und das allgemeine und sogenannte ewige Gericht folgen.
Irenäus schreibt in ´Contra Haereses´, 26,1:
Noch deutlicher wies Johannes, der Schüler des Herrn, in der Apokalypse auf das Ende der Zeiten mit seinen zehn Königen hin, an die das jetzt herrschende Imperium verteilt werden soll.
Im Kanon Muratori heißt es über die Offb:

An Offenbarungen anerkennen wir nur die des Johannes und des Petrus; die letztere wollen einige von uns freilich nicht in der Kirche lesen lassen.
Der chiliastische Montanist Tertullian anerkennt die Autorität der Offb, die Autorschaft des Apostel Johannes voraussetzend, ebenfalls ohne Einschränkung:

(Über die Auferstehung des Fleisches)

5. Auch in der Apokalypse des Johannes wird der Verlauf der Zeiten entrollt, den auch "die Seelen der Martyrer unter dem Altare", welche um Rache und Gericht rufen, abwarten gelernt haben, damit erst der Erdkreis "aus den Schalen der Engel" seine Plagen austrinke, die Stadt der Unzucht durch die zehn Könige ihr verdientes Ende finde und das Tier, der Antichrist und sein Pseudoprophet, mit der Kirche Gottes den Kampf beginne, damit so, nachdem der Teufel inzwischen in den Abgrund verwiesen ist, die Auszeichnung der ersten Auferstehung von den Thronen aus geordnet und sodann den ins Feuer Geworfenen das Urteil der allgemeinen Auferstehung aus den Büchern gesprochen werde.
Im weiteren Verlauf argumentiert er für die Auferstehung des Fleisches (im Unterschied zur paulinischen Aufstehung der Seele), deren Vorphase er sich so vorgestellt, dass die an eine Körperform gewöhnte Seele nach dem Tod ihres Körpers sehnsüchtig darauf wartet, am Tage der allgemeinen Auferstehung wieder mit ihrem Körper zusammenzugehen, der von ´Gott´ aus den zerfallenen Einzelteilen zusammengesetzt würde, und zwar inklusive Geschlechtsteile, die im Neuen Reich aber keine sexuelle Funktion mehr hätten.

Im frühen 3. Jh. setzten - wie eingangs angedeutet - erste Zweifel an der Autorschaft des Apostels Johannes ein, die ein Presbyter namens Gaius in seinem ´Dialog mit Proclus´ zum Ausdruck brachte, von dem nur drei von Eusebius in der HE wiedergegebene Fragmente erhalten sind. Gaius zufolge war der Gnostiker Cerinth der wahre Autor der Offb. Diesem Gaius wird von nicht wenigen Fachleuten auch die Autorenschaft des Kanon Muratori zugeschrieben, siehe englisches Wiki ´Caius (presbyter)´:

(...) the Muratorian fragment, an early attempt to establish the canon of the New Testament, is often attributed to Caius (...)
Bei dieser Zuschreibung sehe ich allerdings das Problem, dass Gaius sicher nicht den Text eines - in seinen Augen - häretischen Gnostikers in eine Kanonliste aufgenommen hätte. Bekanntlich enthält der Kanon Muratori aber die Offb. Ist der laut Eusebius von Gaius dem Cerinth zugeschriebene Text also vielleicht gar nicht identisch mit der Offb? Der Entdecker des Kanons, F.A. Muratori, hatte als erster diese Verfasserzuschreibung vorgenommen, die aber wegen vorgenanntem Widerspruch extrem unwahrscheinlich ist.

Eine weitere Unstimmigkeit zeigt sich in Gaius´ Beschreibung des 1000jährigen Reiches:

HE III 28:

Gaius (...) schreibt über ihn in seiner Untersuchung: „Und Cerinth gibt uns in Offenbarungen die den Anschein erwecken, als wären sie von einem großen Apostel geschrieben, falsche, wunderliche Berichte, von welchen er behauptet, dass sie ihm von Engeln gegeben worden seien. Er erzählt nämlich, dass nach der Auferstehung das Reich Christi auf Erden sein werde und dass die Leiber in Jerusalem leben und sich wiederum Leidenschaften und Vergnügungen hingeben werden. Und im Widerspruch mit den Schriften Gottes und in verführerischer Absicht erklärt er, dass ein Zeitraum von tausend Jahren in freudiger Hochzeitsfeier verfließen werde.
Darüber, dass sich diese Darstellung auf die uns bekannte Offb bezieht, besteht weitgehender Konsens, obwohl von einer Schilderung von "Leidenschaften und Vergnügungen" im Rahmen einer "freudigen Hochzeitsfeier" während des 1000jährigen Reiches im Offb-Text überhaupt keine Rede sein kann. Dort heißt es lapidar:

Offb 20:
6. Selig ist der und heilig, der teilhat an der ersten Auferstehung; über
solche hat der Tod keine Macht, sondern sie werden Priester Gottes
und Christi sein und mit ihm regieren tausend Jahre.

7. Und wenn tausend Jahre vollendet sind, wird der Satanas loswerden
aus seinem Gefängnis (...)
Gaius scheint bei seiner Darstellung die in der Offb beklagten ´babylonischen´ Sitten (vor dem 1000jährigen Reich) und die ´Hochzeit´ des Lammes mit der himmlischen ´Braut´ Jerusalem (nach dem 1000jährigen Reich) miteinander zu vermengen und auf die Verhältnisse im 1000jährigen Reich zu projizieren, was eine chaotische Fehllesung wäre. Vielleicht hat Gaius die Ankündigung der Hochzeit in

Offb 19:

7. Lasset uns freuen und fröhlich sein, und ihm Ehre geben! Denn die
Hochzeit des Lamms ist kommen, und sein Weib hat sich bereitet.
als Vollzug der Hochzeit vor dem anschließenden 1000jährigen Reich missinterpretiert. Sie wird in Kap. 21 aber erst nach Ablauf der 1000 Jahre und dem endgültigen Sieg über den ´Satan´ vollzogen:

Offb 21:

2. Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von
Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Mann.
Ein kleiner Restzweifel an der Identität der Offb mit dem von Gaius angesprochenen Text ist also, meine ich, nicht auszuschließen.

In der Mitte des 3. Jh. nimmt dessen ungeachtet der Patriarch von Alexandria, Dionysius, auf die Meinung von Gaius Bezug, zwar ohne ihr in der konkreten Zuschreibung, aber doch in der Grundannahme zuzustimmen, dass der Offb-Autor nicht mit Johannes dem Zebedaiden identisch ist. Er schreibt zunächst:

HE VII, 25:

Einige unserer Vorfahren haben das Buch verworfen und ganz und gar abgelehnt. Sie beanstandeten Kapitel für Kapitel und erklärten, daß der Schrift Sinn und Zusammenhang fehle und dass der Titel falsch sei. Sie behaupten nämlich, dieselbe stamme nicht von Johannes und sei überhaupt keine Offenbarung, da sie in den so dichten Schleier der Unverständlichkeit gehüllt sei. Der Verfasser dieser Schrift sei kein Apostel, ja überhaupt kein Heiliger und kein Glied der Kirche, sondern Cerinth, der auch die nach ihm benannte cerinthische Sekte gestiftet und der seiner Fälschung einen glaubwürdigen Namen geben wollte.
Dionysius´ Begründung für seine Ablehnung der Identität von Apostel und Autor möchte ich hier ausführlich zitieren.

Nachdem Dionysius auf Gaius´ Cerinth-Hypothese eingeht und bestätigt, dass für Cerinth - laut Gaius - das "Reich Christi"

(...) in der Befriedigung des Magens und der noch tiefer gelegenen Organe, also in Speise und Trank und ehelichen Genüssen (...) und in Festen, Opfern und Schlachtungen von Opfertieren (...)
bestand, führt der Patriarch aus:

Ich aber möchte nicht wagen, das Buch zu verwerfen; denn viele Brüder halten große Stücke auf dasselbe. Ich möchte vielmehr glauben, dass es über meine Fassungskraft hinausgehe. Ich vermute nämlich, dass die einzelnen Sätze einen verborgenen und ganz wunderbaren Sinn in sich schließen. Wenn ich die Worte auch nicht verstehe, so ahne ich doch, dass ein tieferer Sinn in denselben liege. Ich messe und beurteile sie nicht nach meiner eigenen Klugheit, lege vielmehr dem Glauben ein höheres Gewicht bei und halte die Worte für zu erhaben, als dass sie von mir begriffen werden könnten. Und ich verwerfe nicht, was ich nicht erfasst, bewundere es im Gegenteil um so mehr, eben weil ich es nicht begriffen.
Die hier demonstrierte und offensichtlich weitverbreitete Faszination (trotz oder gerade wegen Unverständnis) dürfte neben zwei anderen Faktoren (traditionelle Zuschreibung zum Apostel Johannes und selbstbehauptete Kanonizität) ganz entscheidend zur Akzeptanz des Buches beigetragen haben. Bei Dionysos fällt der Faktor ´apostolische Autorschaft´ allerdings weg, da er die traditionelle Identifizierung des Autors von JohEv und 1 Joh mit dem Autor der Offb bestreitet, womit er Eusebius in diesem Punkt stark beeinflusst.

Dionysius schreibt:
Dass es ein Johannes war, der diese Worte schrieb, muß man ihm glauben, nachdem er es sagt. Welcher Johannes es aber war, ist nicht bekannt. Denn er bezeichnete sich nicht, wie es oft im Evangelium heißt, als den Jünger, den der Herr liebte, oder als den, der an seiner Brust geruht, oder als den Bruder des Jakobus, oder als den, der den Herrn mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört. Eine dieser Bezeichnungen hätte er sich wohl beigelegt, wenn er sich deutlich hätte zu erkennen geben wollen. Doch gebraucht er keine davon (...)
Nachdem Dionysios detailliert auf das JohEv und 1 Joh eingeht, die er - ganz konventionell - dem Apostel Johannes zuordnet, weist er auf die von jenen abweichenden Eigenarten der Offb hin:

Völlig anderer und fremder Art ist gegenüber diesen Schriften die Apokalypse. Es fehlt jede Verbindung und Verwandtschaft. Ja sie hat sozusagen kaum eine Silbe damit gemein. Auch enthält weder der Brief — vom Evangelium nicht zu reden — irgendeine Erwähnung oder einen Gedanken der Apokalypse noch die Apokalypse vom Briefe (...) Weiterhin lässt sich auch aus dem Stile die Verschiedenheit des Evangeliums und des Briefes gegenüber der Apokalypse feststellen. Jene nämlich sind nicht nur in fehlerlosem Griechisch geschrieben, sondern mit höchster Gewandtheit im Ausdruck, in der Gedankenentwicklung, in der Satzverbindung; man wird kaum einen barbarischen Laut oder Solöcismus oder überhaupt einen Vulgarismus darin finden. Denn ihr Verfasser besaß, wie es scheint, beide Gaben — beide ein Geschenk des Herrn —, die Gabe der Erkenntnis und des Stiles. Zwar bestreite ich nicht, dass jener andere Offenbarungen geschaut, Erkenntnis und Prophetengabe empfangen hat Doch ich sehe, dass seine Rede und Sprache nicht rein griechisch sind und dass er barbarische Wendungen und gelegentlich auch Solöcismen gebraucht. Das hier auszuheben, erachte ich nicht für notwendig. Niemand möge indes glauben, dass ich dies spottweise sagte. Ich wollte nur die Ungleichheit dieser Schriften dartun.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ausführliche Beschreibungen zur Interpretationgeschichte und Wirkmacht findet sich in der üblichen Kommentarliteratur, und zwar nicht nur in Auszügen und - wenn solche vorhanden - mit kritischen Anmerkungen zu diversen Hypothesen oder unbelegten Vermutungen.

ZB seitenweise:
Koester, Revelation, S. 29ff.

Was sollen diese Kurzdarstellungen und Wiki-Verweise hier für Diskussionen bringen?
 
Zuletzt bearbeitet:
Was sollen diese Kurzdarstellungen und Wiki-Verweise hier für Diskussionen bringen?

(1)
Ich habe nur auf einen Wiki-Artikel verwiesen und diesen kritisch kommentiert.

(2)
Mein Beitrag verdeutlicht die Bedeutung des Chiliasmus im Kleinasien des 2. und 3. Jahrhunderts und die Rolle, die die Offb dabei spielt. Das sind wichtige Themen, die in diesen Thread gehören.

Widerlegt wird auch das pauschale Klischee der "Umstrittenheit" der Offb, wie es prinzipiell auch im Thread über den biblischen Kanon zum Ausdruck kommt, wo nirgends auch nur im Ansatz von der sehr positiven Rezeption der Offb bis ins 3. Jh. die Rede ist.

Das ist schon mal ´ne Menge, finde ich.

Auf diverse Einzelprobleme weise ich auch hin:

a)
auf unterschiedliche Zuschreibungen der Offb-Autorschaft, die auf die weitere Rezeptionsgeschichte Einfluss nahmen

b)
auf diverse Motive hinter der positiven Rezeption der Offb (im Teil über Dionysius von Alexandria)

c)
die Frage der Zuschreibung des Kanon Muratori zu Gaius dem Presbyter

d)
die Frage, ob der von Gaius kritisierte Cerinth-Text tatsächlich identisch mit der Offb ist, so wie wir sie kennen
 
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Widerlegt wird hier gar nichts, höchstens behauptet.

Um Dir den Unterschied zu Wikipedia und einigen Internet-Fetzen einerseits und Forschungsbeiträge andererseits plastisch zu verdeutlichen, hier ein Beispiel für die Komplexität der Quellenlage der Caius-Diskussion und der Johannes-Kontroverse.

Der nachfolgende Teil wird wg. der Zitatlänge und der damit verbundenen Problematik in Kürze wieder gelöscht:
 
Um Dir den Unterschied zu Wikipedia und einigen Internet-Fetzen einerseits und Forschungsbeiträge andererseits plastisch zu verdeutlichen, hier ein Beispiel für die Komplexität der Quellenlage der Caius-Diskussion und der Johannes-Kontroverse.

Ich habe ein Sätzchen aus dem englischen Wiki zitiert und kritisch kommentiert. Na und?

Und was heißt ´Internet-Fetzen´? Die Kirchenväter- und Patriarchen-Zitate habe ich aus vollständigen Dateien mit Werken dieser Autoren, gespeichert auf meiner Festplatte. Ich habe auch viele professionelle Forschungsbeiträge zu all diesen Themen auf der Festplatte, die ich gründlich lese und gelesen habe (PDFs, gecopypastete Texte und Hunderte von Screenshots von Googlebooks). Auch der von dir zitierte Text von T.S. Manor war gestern hinzugekommen, allerdings nachdem ich meinen Beitrag gepostet hatte.

Wir sollten hier soweit auf dem "Boden der Tatsachen" verbleiben, als ein Forum nicht der Platz für Attitüden ist, die Forschung aus den Angeln heben zu wollen. Wenn man der Meinung ist, dass zu können: Dafür gibt es geeignete Publikationsplattformen, die einer wissenschaftlichen Rezensierung unterliegen.

Das bezieht sich gerade mal auf Punkt d) in meiner Liste. Was ist mit den anderen noch viel wichtigeren Punkten, insbesondere der Hinweis auf die Bedeutung des Chiliasmus im Asia des 2. Jh. und auf die zunächst sehr positive Rezeption der Offb, wovon im Kanonthread null Rede war? Das sind doch keine Tabuthemen.

Und wenn jemand in meiner Darstellung Mängel zu entdecken glaubt, kann er/sie das ja mitteilen. Anscheinend ist aber noch keiner fündig geworden.

Meine Darstellung zu Cerinth steht übrigens nicht im Widerspruch zum zitierten Artikel von T.S. Manor.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Autor, der sich selbst vier Mal ´Johannes´ nennt, wurde nach unserem Kenntnisstand bis in das 3. Jahrhundert unumstritten mit dem Apostel Johannes identifiziert.

Der "Kenntnisstand" ist, wie Deine eigenen Ausführungen zeigen, ziemlich dünn. Aus den wenigen Autoren, die für eine Identifikation sprechen (und die z. T. voneinander abhängen bzw. dieselbe Traditionslinie vertreten), kann wohl kaum geschlossen werden, dass deren Meinung "unumstritten" gewesen sei.

Im frühen 3. Jh. setzten - wie eingangs angedeutet - erste Zweifel an der Autorschaft des Apostels Johannes ein, die ein Presbyter namens Gaius in seinem ´Dialog mit Proclus´ zum Ausdruck brachte, von dem nur drei von Eusebius in der HE wiedergegebene Fragmente erhalten sind.
Da blendest Du aus, dass Gaius bzw. die (später in polemischer Absicht so genannten) "Aloger" nicht nur die Offenbarung, sondern auch das Johannes-Evangelium ablehnten.
Ich nehme an, Du vertrittst die These, dass die Aloger "Gaius und niemand sonst" waren? Einer ihrer Verteidiger ist Jan Dochhorn: Die Aloger und Gaius von Rom. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Apokalypse und des Corpus Johanneum | Jan Dochhorn - Academia.edu
Mich überzeugt die These nicht. Den Erklärungsversuchen, warum Epiphanius (und Philastrius) Gaius nicht erwähnen, fehlt es an Substanz. Und trotz aller (berechtigter) Detailkritik an Stuart G. Hall wird sein Fazit nicht wirklich widerlegt:
"Im großen und ganzen wird dem Beweismaterial am wenigsten Gewalt angetan, wenn wir annehmen, daß die Anschauungen der Aloger zunächst in Kleinasien aufkamen und später von Gaius von Rom übernommen wurden und daß auf jeder Stufe dieselben beiden Bücher, das Johannesevangelium und die Apokalypse, gleichermaßen verworfen wurden."

Chan schrieb:
Nachdem Dionysius auf Gaius´ Cerinth-Hypothese eingeht und bestätigt, dass für Cerinth - laut Gaius - das "Reich Christi"
(...) in der Befriedigung des Magens und der noch tiefer gelegenen Organe, also in Speise und Trank und ehelichen Genüssen (...) und in Festen, Opfern und Schlachtungen von Opfertieren (...)
bestand, führt der Patriarch aus:
Du vermittelst hier den Eindruck, als ob Dionysius hier auf Gaius eingeht. Tatsächlich aber erwähnt Dionysius im zitierten Text den Namen Gaius ebensowenig wie später Epiphanius und Philastrius. Stattdessen spricht er von "einigen unserer Vorfahren".

Von daher halte ich es schon für wahrscheinlich, dass es im späten 2. Jahrhundert einige Christen gab, die weder die Offenbarung noch das Johannesevangelium akzeptierten.

Zur Zeit des Gaius (Wirkungszeit laut Eusebius: unter dem römischen Bischof Zephyrinus, also zwischen 198/199 und 217) scheinen ihre Ansichten noch nicht als ketzerisch gegolten haben. Im 4. Jahrhundert dann allerdings schon.
 
Der "Kenntnisstand" ist, wie Deine eigenen Ausführungen zeigen, ziemlich dünn. Aus den wenigen Autoren, die für eine Identifikation sprechen (und die z. T. voneinander abhängen bzw. dieselbe Traditionslinie vertreten), kann wohl kaum geschlossen werden, dass deren Meinung "unumstritten" gewesen sei.

Da blendest Du aus, dass Gaius bzw. die (später in polemischer Absicht so genannten) "Aloger" nicht nur die Offenbarung, sondern auch das Johannes-Evangelium ablehnten.
Ich nehme an, Du vertrittst die These, dass die Aloger "Gaius und niemand sonst" waren? Einer ihrer Verteidiger ist Jan Dochhorn: Die Aloger und Gaius von Rom. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Apokalypse und des Corpus Johanneum | Jan Dochhorn - Academia.edu
Mich überzeugt die These nicht. Den Erklärungsversuchen, warum Epiphanius (und Philastrius) Gaius nicht erwähnen, fehlt es an Substanz. Und trotz aller (berechtigter) Detailkritik an Stuart G. Hall wird sein Fazit nicht wirklich widerlegt:
"Im großen und ganzen wird dem Beweismaterial am wenigsten Gewalt angetan, wenn wir annehmen, daß die Anschauungen der Aloger zunächst in Kleinasien aufkamen und später von Gaius von Rom übernommen wurden und daß auf jeder Stufe dieselben beiden Bücher, das Johannesevangelium und die Apokalypse, gleichermaßen verworfen wurden."


Du vermittelst hier den Eindruck, als ob Dionysius hier auf Gaius eingeht. Tatsächlich aber erwähnt Dionysius im zitierten Text den Namen Gaius ebensowenig wie später Epiphanius und Philastrius. Stattdessen spricht er von "einigen unserer Vorfahren".

Von daher halte ich es schon für wahrscheinlich, dass es im späten 2. Jahrhundert einige Christen gab, die weder die Offenbarung noch das Johannesevangelium akzeptierten.

Zur Zeit des Gaius (Wirkungszeit laut Eusebius: unter dem römischen Bischof Zephyrinus, also zwischen 198/199 und 217) scheinen ihre Ansichten noch nicht als ketzerisch gegolten haben. Im 4. Jahrhundert dann allerdings schon.

Wenn denn Gaius das JohEv tatsächlich ablehnte.

Chan hat Manor 2016 nach den obigen Ausführungen in kürzester Frist zur Kenntnis genommen.

Dessen Konklusion lautet (Manor 2016):

"The common assumption that Gaius’ strategy was to reject the Fourth Gospel is not evidenced anywhere prior to the twelfth century writings of Dionysius bar Salibi, and it is interesting that even bar Salibi does not make a connection between a rejection of John and efforts to abolish Montanism. In fact there is no explicit evidence anywhere to suggest that the church chose to cede the Johannine corpus to the Montanists. On the contrary, later heresiologists used John’s Gospel as a weapon against the Montanists. Epiphanius pits John’s Gospel (5:43) against the words of Montanus to show that his teachings are in total disagreement with the sacred Scriptures, as is evident to anyone paying attention (Haer. 48.11.4; cf. Jn. 7:37 at 48.13.5). The ‘spirit’ behind the Montanist prophecy was not the Johannine Paraclete, but an evil spirit (Haer. 48.1.4–7, 48.2.23, 48.4.4).87 Furthermore, in combating the Montanist appeal to the Gospel of John, Jerome, in a letter to Marcella, does not criticize John’s Gospel, nor is he aware of any historical precedent for such a position."

Gleiches schließt er für die OffJoh:

"In HE 3.28.1–2 Gaius never rejected John’s Apocalypse and attributed it to Cerinthus. In light of the bar Salibi commentaries, it is natural to presume he meant John’s Apocalypse; on its own merit, however, Gaius’ testimony does not indicate this. To impugn Gaius of rejecting the Johannine Apocalypse requires sautering together pieces of evidence that are otherwise totally unconnected.

In fact, there was broad and positive attestation to John’s Apocalypse at this time. Thus it is safe to presume Gaius was at least aware of this work, and if he had knowledge of Cerinthus claiming John’s Apocalypse as his own, one could expect Gaius to have stated as much...

Finally, it may reasonably be deduced from Gaius’ statement that he means Cerinthus composed his own ‘revelations’ under the guise of a pseudo-apostolic confection. It is noteworthy that Theodoret certainly maintained the view that Cerinthus wrote his own Apocalypse. This is how he interprets the state- ments of Gaius and Dionysius: ‘Cerinthus also invented certain revelations pretending to have seen them himself. Against him not only have the above-named persons written, but with them also Gaius and Dionysius the Bishop of Alexandria’ (Haer. fab. comp. 2.3).
...

The evidence considered in the question regarding Gaius’ rejection of the Fourth Gospel and Apocalypse of John has pointed away from the standard view. As to the former, there is nothing in the testimony of Gaius himself or Eusebius’ knowledge of his anti-Montanist work against Proclus to indicate that Gaius harbored any negative feelings towards this work. Furthermore, no other early writer up to the time of Epiphanius mentions anything about a formal rejection of John’s Gospel. Indeed, there are a number of scholars have agreed and expressed doubts that Gaius of Rome rejected John’s Gospel. Even if scholars remain convinced that he did in spite of the evidence, this does not necessarily imply a full-blown ‘Johannine Controversy’.

Regarding Gaius’ antagonism towards the Apocalypse, the solution that Gaius must be behind these criticisms and Hippolytus behind the responses requires the erroneous assumption that both of these figures held views that are not mentioned in any of their writings. To find an alternative solution, it is necessary to survey those writers that mention the Apocalypse prior to Epiphanius in order to determine if any of these earlier sources approximate the views Epiphanius associates with the Alogi.

The early evidence does not support the view of Gaius as the ecclesiastical leader who fought to eradicate the Johannine literature because of its ties to heresy."

So weit, so unklar, oder:
sepiola schrieb:
Der "Kenntnisstand" ist, wie Deine eigenen Ausführungen zeigen, ziemlich dünn.
 
Den Manor kannte ich noch nicht, ich will ihn mir alsbald besorgen.


Dessen Konklusion lautet (Manor 2016):

"The common assumption that Gaius’ strategy was to reject the Fourth Gospel is not evidenced anywhere prior to the twelfth century writings of Dionysius bar Salibi,

Wie Manor auf diese Konklusion kommt, weiß ich natürlich (noch) nicht, aber Dionysius bar Salibi hat sich das nicht aus den Fingern gesogen, sonddern er zitiert Hippolyt von Rom, und der war bekanntlich noch ein Zeitgenosse:

Hippolytus romanus dixit: Apparuit vir nomine Gaius, qui asserebat Evangelium non esse Johannis, nec Apocalypsin, sed Cerinthi haeretici ea esse.
 
Das Zitat des Hippolytus bzw. den Dialog hält Manor mit umfangreicher Begründung für konstruiert, durch bar Salibi, sozusagen einen "manufactored dialogue", S. 114-116.

Das Argument oben ist dann natürlich in erster Linie auf den zeitlichen Abstand gemünzt, wenn Dein richtiger Hinweis auf Hippolytus sozusagen entwertet würde.

Wie auch immer, bereits diese Diskussionen in der Literatur zeigen die dünne Decke, so etwas historisch zu greifen.

Dazu kommen mE recht komplexe Dispute und Argumentationsstränge, die man eben nicht mit Chans Internetarchäologie und Screenshotsammlungen simplifizieren kann.
 
Das Zitat des Hippolytus bzw. den Dialog hält Manor mit umfangreicher Begründung für konstruiert, durch bar Salibi, sozusagen einen "manufactored dialogue", S. 114-116.

Das Zitat findet sich in der Einleitung*, im Anschluss an die Ansichten anderer Autoren wie Dionysius von Alexandria und Eusebius von Caesarea. Die werden im großen und ganzen zutreffend referiert, auch wenn man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen darf. Mir scheint nicht, dass hier etwas aus den Fingern gesogen oder "konstruiert" ist. Aber jetzt bin ich erst einmal auf Manors Argumente gespannt...




* hier in lateinischer und englischer Übersetzung: Dionysius Syrus (=Dionysius Bar Salibi, =Jacob Bar Salibi), Commentary on Revelation (extracts). Hermathena vol. 6 (1888) pp.397-418, vol.7 (1890) pp.137-150; The Expositor 7th series vol. 1 (1906), pp.481-495.http://www.tertullian.org/fathers/dionysius_syrus_revelation_01.htm
 
Ich habe eben mal die Publikation mit seiner Diss 2012 abgeglichen. Scheint insoweit identisch, die Diss ist online verfügbar.:winke:
 
(Manor 2016):

"The common assumption that Gaius’ strategy was to reject the Fourth Gospel is not evidenced anywhere prior to the twelfth century writings of Dionysius bar Salibi, and it is interesting that even bar Salibi does not make a connection between a rejection of John and efforts to abolish Montanism. In fact there is no explicit evidence anywhere to suggest that the church chose to cede the Johannine corpus to the Montanists. On the contrary, later heresiologists used John’s Gospel as a weapon against the Montanists."

Hab jetzt doch ein wenig nach dem Satz suchen müssen, in der Online-Fassung beginnt der erste Satz ein wenig anders:
"The one strategy attributed to Gaius that is reiterated time and again is not evidenced anywhere prior..."

Zur Aussage, dass das Johannesevangelium gegen die Montanisten benutzt wurde, ließe sich noch hinzufügen, dass - nach Eusebius - Apollonius von Ephesus die Offenbarung in seiner Streitschrift gegen die Montanisten verwendet haben soll:
https://www.unifr.ch/bkv/kapitel51-18.htm
 
Im weiteren Verlauf argumentiert er für die Auferstehung des Fleisches (im Unterschied zur paulinischen Aufstehung der Seele)

Das kann man nicht so stehenlassen.

Eine "Auferstehung der Seele" gibt es bei Paulus so nicht, das scheint mir doch eine sehr extreme Auslegung zu sein. Wo hast Du die denn her?
Oder verwechselst Du "paulinisch" mit "markionitisch"?

(Eine theologische Diskussion möchte ich hier nicht führen.)
 
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