Das Markusevangelium

Chan

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Ich möchte das Markusevangelium zur Diskussion stellen, insbesondere unter der Fragestellung der Historizität der geschilderten Ereignisse und Personen sowie der Glaubwürdigkeit der Verhaltensweise einer Person, die historisch gesichert ist (Pilatus). Im Fokus stehen natürlich die Wundererzählungen und die Passionsgeschichte. Mich würde interessieren, zu welchem Ergebnis die einzelnen User in der Frage kommen, welche historische Substanz dem Mk-Narrativ noch zugeschrieben werden kann, nachdem das objektiv Unglaubwürdige aus den ´Berichten´ entfernt ist.

Die Frage ist bekannt als die nach dem ´historischen Jesus´. Manche sagen, ein solcher Jesus kann aus den Evangelien herausdestilliert werden, kommen dabei aber zu unterschiedlichen Resultaten. Mit Bultmann kann man dieses Verfahren ´Demythologisierung´ nennen. Andere sagen, dass die Zwiebel ohne Kern ist: Entfernt man alle ´mythischen´ Schalen, bleibt ein Vakuum.

Natürlich hängt das Resultat solcher Überlegungen von der Definition eines ´historischen Jesus´ ab. Mengentheoretisch gefragt: Welche Elemente sind Teil der Menge J?

Beispiel:

J = {a, b, c, d, e, f}

a = jüdischer Wanderprediger mit Namen Yeshua zu Beginn des 1. Jh. CE, b = Sohn Gottes, c = Anspruch auf Messianität, d = jungfräulich geboren, e = gekreuzigt, f = wiederauferstanden, g = Erlöser der Menschheit

Das ist eine christlich-affirmative Position, die nicht den ´historischen´, sondern den kerygmatischen Jesus definiert.

Eine den historischen Jesus thematisierende Position ist z.B.:

J = {a, c, e}

d.h. Jesus war ein Messianität beanspruchender jüdischer Wanderprediger namens Yeshua zu Beginn der 1. Jh. CE, der wie viele andere Juden seiner Zeit am römischen Kreuz starb.

Eine dritte, sehr skeptische Position lautet:

J = {}

d.h. die Eigenschaftsmenge ist leer, weil J = nicht existent.

Ein Problem bei alldem ist das Element e und die Definition des Elements a. Definiert man a allgemeiner, z.B. a = jüdischer Wanderprediger (ohne Namens- und präzise Zeitspezifikation) und setzt h statt e:

(h = von jüdischer oder römischer Obrigkeit im 1. Jh. CE oder BCE hingerichtet)

dann erhält man:

J = {a, c, h}

woraus folgt , dass die Gestalt, die in den Evangelien nachträglich als ´Yeshua´ erscheint, ein Messianität beanspruchender jüdischer Wanderprediger war und im oder vor dem 1. Jh. CE hingerichtet wurde. Jener Proto-´Jesus´ könnte auch anders als durch Kreuzigung gestorben sein, z.B. durch Steinigung, was in den Evangelien auf Kreuzigung umgeschrieben wurde, weil das Kreuz eine symbolische Kraft (analog zum Schlangenstab in Numeri 21) hat, der dem Steinigen fehlt.

Auf dieser Grundlage hat sich eine Jesustheorie gebildet, der zufolge die Ursprungsgestalt des Christentums zwar historisch ist, mit dem Jesus der Evangelien aber kaum mehr gemein hat als die Eigenschaften ´jüdischer Wanderprediger´, ´Anspruch auf Messianität´ und ´von Obrigkeit hingerichtet´, also ohne die christlichen Kern-Elemente ´Sohn Gottes´, ´jungfräulich geboren´, ´wiederauferstanden´, ´gekreuzigt´ und ´Erlöser der Menschheit´. Dieser Theorie zufolge hätten seine Anhänger, frustriert vom Scheitern ihres vermeintlichen Messias, nachträglich eine Mythologie konstruiert, die über den Verlust hinwegtrösten sollte, indem sie das Scheitern rationalisiert: Der schmähliche Tod des Meisters sei Teil von ´Gottes´ Plan zum Wohl aller Menschen gewesen und der Meister sei wiederauferstanden und zu seinem ´Vater´ zurückgekehrt. Dementsprechend hat sich, so die Theorie, eine christliche Mythologie gebildet, wie sie sich in den vier kanonischen Evangelien niederschlug (sowie in den davon mehr oder weniger stark abweichenden anderen 76 Evangelien, die nicht ins NT aufgenommen wurden).

Im Licht dieser Theorie ist ´Jesus´ vergleichbar mit Schrödingers Katze: Er ist historisch und unhistorisch zugleich. Mit dem Jesus des NT hat er zu wenig zu tun, um mit ihm gleichgesetzt zu werden, ist aber dennoch sein historischer Ausgangspunkt.

Genug der Vorrede, jetzt zum Mk.

(in Mk fehlt dem Jesus das Attribut ´jungfräulich geboren´, da ein entsprechender Geburtsbericht nur bei Lk und Mt zu lesen ist)

Markus war ein Geschichtenerzähler, dem das Erfinden szenischer Details kein Problem bereitete, wie viele offensichtlich ausgeschmückte Stellen im Mk zeigen. Er stand damit in der Tradition sowohl der hellenistisch-romanischen Romanliteratur als auch der jüdischen Glaubensliteratur, die mit Büchern wie z.B. Moses 1-5, Ester und Judith Erzeugnisse einer eindrucksvollen literarischen Phantasie aufweist. In der Literaturwissenschaft werden die Evangelien unter ´Kleinliteratur´ eingeordnet, um sie von den Werken antiker ´Hochliteratur´ zu unterscheiden (seit K.L. Schmid, ´Die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte´, 1923). Begründet wird das mit der relativ einfachen Sprache, wie sie besonders bei Markus erkennbar ist, der schlichte Sätze meist mit ´und´ verbindet, wie dies auch heute im Alltag oft zu hören ist.

Ob Markus´ literarische Fähigkeiten so limitiert waren, dass er anders nicht schreiben konnte, oder ob er bewusst einen einfachen Stil wählte, um ein breites Publikum zu erreichen, ist in der Fachwelt umstritten. Ich neige zu letzterer Auffassung, da ich Markus im Ganzen für einen begabten Schriftsteller halte, der über ein beträchtliches formales Talent verfügte. Der Beginn des Lukas-Evangeliums veranschaulicht den Unterschied zwischen ´hohem´ und ´kleinem´ Stil: Der Anfang (Lk 1,1-4) ist hochliterarisch bzw. im gehobenen Korrespondenzstil formuliert, ab Lk 1,5, wenn die Erzählung einsetzt, wird´s kleinliterarisch volksnah.

Für eine Eröffnung des Threads soll das reichen.
 
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Ein paar Anmerkungen zu Pilatus, der jüdischen ´Volksmenge´ und der Barabbas-Figur.

Zunächst die Szene in Mk 15:

6 Aber anlässlich des Festes pflegte er (= Pilatus) ihnen einen Gefangenen freizugeben, welchen sie wollten. 7 Es lag aber ein gewisser Barabbas gefangen samt den Mitaufrührern, die im Aufruhr einen Mord begangen hatten. 8 Und die Menge erhob ein Geschrei und fing an, das zu verlangen, was er ihnen jedesmal gewährt hatte. 9 Pilatus aber antwortete ihnen und sprach: Wollt ihr, dass ich euch den König der Juden freigebe? 10 Denn er wusste, dass die obersten Priester ihn aus Neid ausgeliefert hatten. 11 Aber die obersten Priester wiegelten die Volksmenge auf, dass er ihnen lieber den Barabbas losgeben solle. 12 Und Pilatus antwortete und sprach wiederum zu ihnen: Was wollt ihr nun, dass ich mit dem tue, den ihr König der Juden nennt? 13 Sie aber schrieen wiederum: Kreuzige ihn! 14 Und Pilatus sprach zu ihnen: Was hat er denn Böses getan? Da schrieen sie noch viel mehr: Kreuzige ihn! 15 Weil nun Pilatus die Menge befriedigen wollte, gab er ihnen den Barabbas frei und übergab Jesus, nachdem er ihn hatte auspeitschen lassen, damit er gekreuzigt werde.
(1)

Die in V.6 erwähnte historisch nicht belegte Sitte der Freilassung eines Gefangenen ist nach Ansicht der meisten Historiker als Erfindung des Markus anzusehen, deren tieferer Sinn nachfolgend im Barabbas-Kontext diskutiert wird.

(2)

Zu Pilatus´ konziliantem Verhalten gegenüber Jesus: Dass der Prokurator jemanden mit dem Anspruch auf den Titel ´König der Juden´ (Mk 15,2) nicht wegen aufständischer Gesinnung zum Tode verurteilt, ist unwahrscheinlich und als Versuch des Evangelisten zu werten, die römische Obrigkeit moralisch zu entlasten (wie ich in Übereinstimmung mit dem Expertenkonsens auch im Täuferthread schrieb). Nicht ganz so unglaubwürdig wirkt Pilatus´ weiches Verhalten gegenüber der jüdischen Menge. Recherchen haben mir gezeigt, dass Pilatus in seltenen Fällen dem Druck einer Volksmenge nachgab, auch wenn dies seiner gewalttätigen Natur widersprach (z.B. Josephus in Bellum 2,169f., Ant. 18,55f.). Allerdings reicht das bei weitem nicht, um die Authentizität der Jesus-Verhandlung vor Pilatus im ganzen zu stützen; zwei Gründe nannte ich schon: die unhistorische Sitte der Freilassung und Pilatus´ unglaubwürdige Konzilianz gegenüber Jesus.

(3)

Ein weiteres Indiz für die Fiktionalität von Mk 15,6-15 ist das Verhalten der jüdischen Menge. Laut 15,11 wiegeln die "obersten Priester" die Menge auf, welche daraufhin wiederholt die Kreuzigung des Jesus fordert.

In Mk 11 heißt es über den ersten Einzug des Jesus in Jerusalem:

8 Da breiteten viele ihre Kleider aus auf dem Weg, andere aber hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. 9 Und die vorausgingen und die nachfolgten, riefen und sprachen: Hosianna! Gesegnet sei der, welcher kommt im Namen des Herrn! (...)
Da stellt sich die Frage, wieso das Volk 180-Grad-mäßig von Jesus-Begeisterung auf Jesus-Hass umschaltet und zweimal von Pilatus schreiend verlangt, den Jesus kreuzigen zu lassen, und dafür trotz Frage des Pilatus keine Begründung liefert, siehe unten (4).

Man könnte nun einwenden, dass die Menge sich aus irgendeinem Grund davon hat überzeugen lassen, dass eine Freilassung des Barabbas der Freilassung des Jesus vorzuziehen wäre, und deswegen auf Jesus´ Tod drängt. Das erklärt aber zum einen nicht die Heftigkeit des neuen Todeswunsches.

(4)

Zum andern enthält der Einwand einen logischen Denkfehler:

Um die Freilassung des Barabbas zu erreichen, muss das Volk nicht die Hinrichtung des Jesus fordern. Letzteres ist keine Bedingung für ersteres. Die (unhistorische) Freilassungssitte besteht nicht in einer Entscheidung für die Freilassung eines Gefangenen auf Kosten eines anderen, sondern in der Freilassung eines Gefangenen unabhängig vom Schicksal eines anderen. Auch bei Matthäus (Mt 27,21) setzt die Freilassung des Barabbas nicht die Hinrichtung des Jesus voraus, dort fragt Pilatus lediglich, welchen von beiden er freilassen soll.

Dem Prokurator stände es im Rahmen dieser Konstellation - und das ist der springende Punkt - durchaus frei, der Menge den Barabbas auszuhändigen und dann aber auch Jesus freizulassen, den er laut Mk 15 nicht für ausreichend schuldig ansieht. Besagter (unhistorischer) Brauch gesteht der Menge ja nicht das Recht zu, die Hinrichtung eines (anderen) Gefangenen zu fordern. Dennoch fragt Pilatus, nachdem er Barabbas freigegeben hat, die Menge, was er mit Jesus machen solle. Seine Frage, was Jesus denn "Böses getan" habe (15,14), wird von der Menge nicht beantwortet, welche ohne jede Begründung auf der Kreuzigung beharrt.

Dieses Konstrukt ist unlogisch und dient unzweifelhaft nur dazu, die Schuld am Tod des Jesus den Juden anzulasten.

In Joh 19 wird diese Strategie noch gesteigert, indem der Autor (bekannt dafür, den Bruch mit dem Judentum noch weiter zu treiben als die Synoptiker) die Juden auf eine Weise schildert, die nun vollends unglaubwürdig ist:

12 Von da an trachtete Pilatus, wie er ihn losließe. Die Juden aber schrieen und sprachen: Lässt du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht; denn wer sich zum König macht, der ist wider den Kaiser.
(5)

Zum Namen des Barabbas:

In einigen Evangelienhandschriften wird er nicht einfach ´Barabbas´, sondern ´Jesus Barabbas´ genannt, und zwar in neun Manuskripten aus Griechenland, Syrien und Armenien. In seinem Matthäus-Kommentar, Abschnitt 121, lobt Origenes die in anderen Versionen praktizierte Tilgung des Vornamens, weil er nicht zu einem "Übeltäter" passe. In der lateinischen Übersetzung der ihm vorgelegenen griechischen Fassung des Mt heißt es:

(...) quem vultis dimittam vobis, Iesum Barabbam, aut Iesum qui dicitur Christus?
(= Wen soll ich nach eurem Willen freilassen: den Jesus Barabbas oder den Jesus, den man Christus nennt?)

Man kann also davon ausgehen, dass in den frühesten Versionen der Evangelien durchweg vom ´Jesus Barabbas´ die Rede war, da eine nachträgliche Einfügung des Vornamens unwahrscheinlicher ist als eine nachträgliche Tilgung. Auch in der heutigen Edition XXVIII des Matthäus-Evangeliums von Nestle-Aland liest man ´Jesus Barabbas´.

Übersetzt bedeutet Barabbas ´Sohn des Vaters´, was einem christologischen Attribut des Jesus entspricht.

(6)

Auf der Basis der Identität der Vornamen beider Gefangener und der Entsprechung des Nachnamens des Barabbas zum christologischen Attribut des Jesus haben sich Theorien gebildet, denen zufolge beide Figuren ursprünglich eine einzige Figur waren (der christliche Jesus), die aus bestimmten Gründen nachträglich verdoppelt wurde.

Eine dieser Theorien lautet:

In der frühesten christlichen Überlieferung kursierte die Legende, dass das den Jesus bewundernde jüdische Volk in Jerusalem vergeblich die Freilassung des Jesus forderte, der den Beinamen ´Sohn des Vaters´ (Barabbas) trug. Diese Forderung wurde nicht im Zusammenhang mit einer jährlichen Amnestie erhoben, wie im Mk beschrieben, sondern geschah spontan. Als das Christentum im Zuge seiner Ausbreitung ins Römische Reich vor der Notwendigkeit stand, seine Ursprungslegende an ein römisches Publikum anzupassen, musste der Römer Pilatus als Verantwortlicher für die Hinrichtung des Jesus entlastet und die Schuld auf eine dritte Partei, die Juden, verlagert werden. Dabei wurde die jüdische Forderung nach der Freilassung des Jesus Barabbas nicht gänzlich getilgt. Vielmehr wurde diese Figur aufgespalten in einen guten und einen bösen Jesus Barabbas (´Räuber´). Der böse Barabbas wird von den nunmehr ebenfalls ´bösen´ Juden aus der Gefangenschaft freigewünscht und der gute auf ihren Wunsch hin getötet. Pilatus steht, was der Zweck der Übung ist, als Unschuldiger da.

Das erklärt auch die Erfindung der Freilassungs-Sitte, ohne die das Konstrukt nicht funktioniert, und den für das Konstrukt ebenfalls erforderlichen Umschwung der Volksmenge von Jesus-Verehrung zu Jesus-Hass.
 
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Übersetzt bedeutet Barabbas ´Sohn des Vaters´, was einem christologischen Attribut des Jesus entspricht.
Der Name ist aramäisch. Alle Evangelisten schreib in griechischer Sprache.
Die Adressaten des Markusevangeliums waren wahrscheinlich "Heidenchristen", d.h. Griechen. Sie konnten kein Aramäisch.


Chan schrieb:
Auf dieser Grundlage hat sich eine Jesustheorie gebildet, der zufolge die Ursprungsgestalt des Christentums zwar historisch ist, mit dem Jesus der Evangelien aber kaum mehr gemein hat als die Eigenschaften ´jüdischer Wanderprediger´, ´Anspruch auf Messianität´ und ´von Obrigkeit hingerichtet´, also ohne die christlichen Kern-Elemente ´Sohn Gottes´, ´jungfräulich geboren´, ´wiederauferstanden´, ´gekreuzigt´ und ´Erlöser der Menschheit´.
Vorsicht, gerade im Markus-Evangelium fehlen einige dieser "christlichen Kernelemente"
- keine Jungfrauengeburt (stattdessen gibt es einige Angaben zu leiblichen Geschwistern Jesu)
- was Markus mit "Sohn Gottes" meint ist, unklar und unter Theologen umstritten. Der Terminius taucht hier erstmals bei der Taufe im Jordan auf.
 
Die Menge wußte schon genau, warum sie die Freilassung von Barabbas verlangte. Er lag dem unterdrückten Volk als Revoluzzer näher als der „liebe Jesus“ den wir kennenlernen sollen. Und war ihm bekannter. Robert Eisenman stellt fest, daß der Beiname Barsabas, Barnabas, und Barabbas in den frühen christlichen Texten oft in Verbindung steht mit der Familie des Jesus. Die Brüder des Jesus und die Apostel mit Beinamen Zelot, wie Simon der Zelot, Judas der Zelot, wie auch Judas der Sikarier sind wahrhafte Sikarier und Zeloten und Jesus der die Ideen dieser Gruppen teilte wird in den Evangelien auch als Jesus Barabbas zur Sprache gebracht. Brüder des Jesus heißen Joseph Barsabas und ein Judas ist Judas Barsabas genannt. Im Codex Bezae hat er den Namen Judas Barabbas. (In einer der Bischofslisten von Jerusalem wird der Sohn des Bruders des Jesus, genannt Jakobus der Gerechte, auch genannt Justus, dritter Bischof in der Liste mit dem Beinamen Barsabas).

Ein römischer Gouverneur von Judäa wird aber keinesfalls einen solchen Aufrührer freigegeben haben. Diese Stelle in den Evangelien ist Wunschdenken der Schreiber. Josephus, der Hunderte von Kreuzigungen beschreibt, hat an keiner einzigen Stelle in seinen Werken von einer derartigen „Gnade“ berichtet. Auch in keinem anderen historischen Dokument wird so etwas berichtet. Das haben explizit nur die Evangelien.
 
Der Name ist aramäisch. Alle Evangelisten schreib in griechischer Sprache.
Die Adressaten des Markusevangeliums waren wahrscheinlich "Heidenchristen", d.h. Griechen. Sie konnten kein Aramäisch.

In der Fachwelt ist man überwiegend der Meinung, dass das Mk für ein hauptsächlich römisches Publikum geschrieben war. Das Mt zielte auf jüdisches Publikum, erkennbar u.a. an der überdurchschnittlichen Häufung von Verweisen auf das AT. Das Lk zielte auf griechisches Publikum und darüber hinaus auf den gesamten hellenistischen Bereich. Das Joh zeigt keine besondere Zielgruppenorientierung.

Ob eine der Zielgruppen Aramäisch beherrschte, spielt für den Ursprungskontext des Namen ´Jesus Barabbas´ überhaupt keine Rolle. Es geht vielmehr darum, dass dieser Name - der skizzierten Theorie zufolge - ursprünglich den (historischen oder historisierten) Jesus benannte.

Vorsicht, gerade im Markus-Evangelium fehlen einige dieser "christlichen Kernelemente"
- keine Jungfrauengeburt (stattdessen gibt es einige Angaben zu leiblichen Geschwistern Jesu)
- was Markus mit "Sohn Gottes" meint ist, unklar und unter Theologen umstritten. Der Terminius taucht hier erstmals bei der Taufe im Jordan auf.
Du hast in meinem Eröffnungsthread den Satz überlesen:

(in Mk fehlt dem Jesus das Attribut ´jungfräulich geboren´, da ein entsprechender Geburtsbericht nur bei Lk und Mt zu lesen ist)

Markus´ Verständnis der ´Sohn Gottes´-Formel, die sich im Judentum in Anlehnung an die mesopotamische Tradition auf den israelitischen König bezieht (z.B. Ps 2,7), wird auch noch Thema des Threads.

Die Menge wußte schon genau, warum sie die Freilassung von Barabbas verlangte. Er lag dem unterdrückten Volk als Revoluzzer näher als der „liebe Jesus“ den wir kennenlernen sollen.)

Damit ignorierst du aber von mir vorgebrachte Argument der Unglaubwürdigkeit einer 180-Grad-Wendung von Jesus-Begeisterung (erster Einzug in Jerusalem) zu Jesus-Hass in der Pilatus-Szene. Ich schrieb:

Da stellt sich die Frage, wieso das Volk 180-Grad-mäßig von Jesus-Begeisterung auf Jesus-Hass umschaltet und zweimal von Pilatus schreiend verlangt, den Jesus kreuzigen zu lassen, und dafür trotz Frage des Pilatus keine Begründung liefert, (...)

Man könnte nun einwenden, dass die Menge sich aus irgendeinem Grund davon hat überzeugen lassen, dass eine Freilassung des Barabbas der Freilassung des Jesus vorzuziehen wäre, und deswegen auf Jesus´ Tod drängt. Das erklärt aber zum einen nicht die Heftigkeit des neuen Todeswunsches.

Außerdem übersiehst du das vorgebrachte Argument, dass das ´Volk´ überhaupt keinen Anspruch darauf hat, die Kreuzigung des Jesus zu fordern (im Rahmen der Fiktion des von Markus erfundenen Freilassungs-Brauchs, wohlgemerkt - es geht hier nur um die innere Logik bzw. Unlogik des offensichtlich fiktiven Berichts). Es hat lediglich Anspruch auf die Freilassung eines von ihm gewünschten Gefangenen.

Brüder des Jesus heißen Joseph Barsabas und ein Judas ist Judas Barsabas genannt. Im Codex Bezae hat er den Namen Judas Barabbas. (In einer der Bischofslisten von Jerusalem wird der Sohn des Bruders des Jesus, genannt Jakobus der Gerechte, auch genannt Justus, dritter Bischof in der Liste mit dem Beinamen Barsabas).)

Der Name ´Judas Barabbas´ erscheint nur in einer Quelle (Apostelgeschichte 15,22 im Codex Bezae). In allen anderen Quellen heißt er ´Judas Barsabbas´. Es handelt sich bei der Codex-Bezae-Variante vermutlich also um einen Schreibfehler.

´Barnabas´ heißt ´Sohn des Trostes´ und ´Barsabas´ heißt ´Sohn der Ruhe/des Eides/der Wiederkehr´ (nicht eindeutig bestimmbar).

Mit ´Barabbas´ hat das alles nichts zu tun.
 
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Markus war ein Geschichtenerzähler, dem das Erfinden szenischer Details kein Problem bereitete, wie viele offensichtlich ausgeschmückte Stellen im Mk zeigen.
Seine Frage, was Jesus denn "Böses getan" habe (15,14), wird von der Menge nicht beantwortet, welche ohne jede Begründung auf der Kreuzigung beharrt.

Daß Pilatus der Gewohnheit entsprach der Menge einen Gefangenen loszugeben ist ein erfundenes Detail des Markus. Diese Geschichte sollte die Römer in einem besseren Licht erscheinen lassen. Markus hätte also irgendeinen Bar Sowieso bringen können und es hätte seinen Zweck erfüllt. In ersten Abschriften soll ja sogar der Name Jesus Barabbas gestanden haben. Dafür muß es eine zusätzliche Erklärung geben. Jesus wird gekreuzigt und gleichzeitig überlebt er aber. Jesus will nicht freikommen, sondern seiner Berufung folgen. Er antwortet Pilatus äußerst knapp.
Schon Judas hindert er nicht am Verrat. Leider beziehen wir uns heute hauptsächlich auf den Kanon, der einmal als die "Wahrheit" zusammengestellt wurde und den Gläubigen vermittelt wird. Könnte sein, daß der verrat des Judas früher auch anders gesehen wurde. Evtl. positiver. Ein wichtiger Teil auf dem Weg zur Erlösung.

Es gibt z.B. ein Evangelium des Judas, es ist nur in Fragmenten erhalten, das die größere Bandbreite zeigt, in der das Glaubensgut in seinen Anfängen den Gläubigen zur Verfügung stand.

Im Judas Evangelium lacht Jesus sogar. Das erstaunt uns und zeigt vielleicht eine gezielte Redaktion, die für den Kanon vorgenommen wurde.

Hier Beispiele:

Als er auf sie zuging, wie sie bei Tische versammelt waren und im Gebet für das Brot dankten, lachte er. ...

Als Jesus dies hörte, lachte er und sprach zu ihnen: ...

Als Jesus dies hörte, lachte er und sprach zu ihm: ...

Daraufhin [lachte] Jesus. [Judas sprach]: "Meister, [warum lachst du uns aus]?" [Jesus antwortete und ] sprach: "Ich lache nicht [euch aus], ...
 
Nach den Hinweisen zur namentlichen Parallele zwischen Jesus, dem christlichen ´Sohn des Vaters´, und seinem höchstwahrscheinlich fiktionalen Mitgefangenen Jesus Barabbas (´Sohn des Vaters´), die als Zufall zu bewerten guten Gewissens kaum möglich ist, folgt die Betrachtung einer anderen, gleichfalls kaum zufälligen Namensidentität, nämlich die Gleichheit der Namen des Jesus und des legendären Moses-Nachfolgers und Führers der Israeliten nach Kanaan, Joshua. Beide Namen lauten im Griechischen ´Iessous´ und wurden in der Septuaginta (griechische Übersetzung der hebräischen Bibel) beide so geschrieben. In modernen Bibelübersetzungen wird die Schreibweise der Namen unterschieden (Joshua vs. Jesus), um die ´Einmaligkeit´ des Jesus nicht zu beeinträchtigen.

These:

Die urchristliche Bewegung (welcher Art auch immer) legte ihrem Heros den Namen ´Iessous´ bei, um ihn als Vervollkommner der mosaischen Mission zu kennzeichnen.

Man kann nun einwenden, dass ´Joshua´ ein häufiger jüdische Vorname war und die Namensgleichheit bei Jesus und Joshua nur zufällig ist. Der Einwand setzt allerdings die Historizität des Jesus voraus, die an einem Faden hängt, den ´seiden´ zu nennen noch wohlwollend ist. Für eine künstliche Namensgebung spricht, dass die Evangelisten, besonders Matthäus (60 AT-Verweise), sehr bemüht waren, das Schicksal ihres Helden sowie wichtige Begleitumstände als ´Erfüllungen´ von Weissagungen im AT darzustellen, um Jesus für die Juden als Messias glaubhaft zu machen. Entsprechend kann man vermuten, dass auch der Name mit der Absicht gewählt wurde, die Mission des Helden zu veranschaulichen - wofür es keinen geeigneteren gab als ´Joshua´.

Zu Joshua:

Nach biblischer Chronologie hat Joshua im 13. Jh. BCE gelebt. Laut dem Buch Exodus gehörte er zum engsten militärischen Stab des Moses und begleitete ihn zum Berg Sinai. Später war er einer der 12 Spione, die Moses aussandte, um die Lage in Kanaan zu erkunden (Numeri 13). Im Buch Joshua 1,1-9 wird er von Jahwe als Nachfolger des Moses bestimmt und mit der Unbesiegbarkeit auf Lebenszeit gesegnet. Seine Historizität wird - wie die des Moses - in Historikerkreisen bezweifelt, da es keine archäologischen Hinweise auf kriegerische Landnahmen im Kanaan jener Zeit gibt.

Die im Täuferthread schon erwähnte Verklärungsperikope in Mk 9 wird von manchen Exegeten als Parallelisierung des Jesus mit Moses gedeutet. Die Passage gilt als eine von Markus überarbeitete Legende. Zur Überarbeitung soll die Zeitangabe ("sechs Tage") und der Dialog mit Petrus (ab 9,5) gehören, letzterer mit dem Zweck, beim Leser das Verständnis für die Episode zu fördern. Ebenso soll sich die Stimme aus der Wolke in Vs.7 (aus der Taufperikope bekannt) der markinischen Redaktion verdanken.

Mk 9:

2 Und nach sechs Tagen nimmt Jesus den Petrus und den Jakobus und den Johannes zu sich und führt sie allein beiseite auf einen hohen Berg. Und er wurde vor ihnen verklärt, 3 und seine Kleider wurden glänzend, sehr weiß wie Schnee, wie kein Bleicher auf Erden sie weiß machen kann. 4 Und es erschien ihnen Elia mit Mose, die redeten mit Jesus.
Moses erscheint hier als Geber des ´Gesetzes´ und Elia als Wegbereiter des Messias. Gesetz und Prophetie werden durch Jesus komplettiert, der, so Justin in seinem ´Dialog´ § 113, wie der mosaische Joshua "das zerstreute Volk zurückführt und jedem das gute Land zurückgibt" (d.h. ein Leben im Gottesreich).

Wie Justin haben viele christliche Autoren den Namen des Joshua als prophetische Vorwegnahme des Namens des Jesus gedeutet. Faktisch ist es eher umgekehrt: Der Name wurde ´Jesus´ gegeben, um diese Figur an die hebräische Tradition anzuschließen und den ihr zugeschriebenen messianischen Anspruch für Juden glaubwürdiger zu machen.

Beispiele (kleine Auswahl):

Eusebius, ´Kirchengeschichte´, Buch 1,3,37 f.:

Vom göttlichen Geiste erleuchtet, kannte Moses auch bereits genau den Namen Jesus und benützte auch ihn zur Auszeichnung. Ehe derselbe dem Moses mitgeteilt wurde, war er unter den Menschen nicht gebräuchlich. Moses aber gab den Namen Jesus (Josue) zuerst und allein demjenigen, von dem er wußte, daß er nach seinem Tode als Vorbild und Hinweis (auf Jesus) die Führung über alle übernehmen werde. Seinem Nachfolger, der früher noch nicht den Namen Jesus hatte, sondern Osee hieß, wie ihn seine Eltern genannt hatten, gab er den Namen Jesus als kostbares Ehrengeschenk, welches viel wertvoller ist als alle königlichen Diademe. Er tat es, weil eben Jesus, der Sohn des Nave, unseren Erlöser vorbildete, welcher allein nach Moses und nach dem Aufhören des von diesem angeordneten symbolischen Gottesdienstes in die Herrschaft der wahren und reinsten Gottesverehrung eintrat. Moses legte also den beiden Männern, welche sich unter ihm durch Tugend und Ruhm vor dem ganzen Volke hervortaten, nämlich dem Hohenpriester und seinem eigenen Nachfolger, den Namen unseres Erlösers Jesus Christus zur höchsten Ehrung bei.
Johannesevangelium 5,46:

(Jesus spricht)

Denn wenn ihr Mose glaubtet, so würdet ihr mir glauben, denn er hat von mir (=Joshua) geschrieben.
Barnabas-Brief 12,8:

Was sagt wiederum Mose zu Iessous, dem Sohne des Nave, da er ihm diesen Namen beilegte, als einem Propheten, nur damit das ganze Volk höre, dass der Vater alles offenbare über Iessous, seinen Sohn?
Justin im ´Dialog´, § 75:

Wer hat nun eure Väter in das Land geführt? Sehet es doch endlich einmal ein, dass es der war, welcher diesen Beinamen Iessous erhalten hatte und zuerst Auses genannt worden war! Wenn ihr nämlich dieses einsehen werdet, dann werdet ihr auch erkennen, dass derjenige, der zu Moses gesprochen hatte: ‚mein Name ist in ihm’, Iessous selbst war.
Tertullian, ´Gegen Markion´, 3,16:

Als Auses, der Sohn des Nave, zum Nachfolger des Mose bestimmt war, wurde sein früherer Name beseitigt und er fängt an Jesus zu heißen; und wir behaupten vorab, dass das ein Vorbild des Zukünftigen gewesen sei.
 
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Nach den Hinweisen zur namentlichen Parallele zwischen Jesus, dem christlichen ´Sohn des Vaters´, und seinem höchstwahrscheinlich fiktionalen Mitgefangenen Jesus Barabbas (´Sohn des Vaters´), die als Zufall zu bewerten guten Gewissens kaum möglich ist,

Ich hatte mich nie weiter mit der Barabbas-These beschäftigt und habe immer als gegeben angenommen, dass Barabbas eine fiktive Figur sei, gerade weil Barabbas mit Sohn des Vaters zu übersetzen ist.

Gerade jetzt aber, wo du einen Textzeugen präsentiert hast, dass Markus Jesus Barabbas und Jesus den Christos unterscheidet, wachsen eher meine Zweifel an der Fiktionalität des Barabbas. Das Jesus/Jeshu'a kein seltener Name war, wissen wir. Als ich in die fünfte Klasse kam, waren in der Klasse vier Jungs mit dem Namen Michael (und um noch einen oben drauf zu setzen kamen drei der vier Michaels aus Jugoslawien, zwei stellten sich später als Kroaten heraus, mit dem dritten hatte ich da keinen Kontakt mehr). Why not?
[QUOTE=Chan;781963]Man kann nun einwenden, dass ´Joshua´ ein häufigber jüdische Vorname war und die Namensgleichheit bei Jesus und Joshua nur zufällig ist. Der Einwand setzt allerdings die Historizität des Jesus voraus, die an einem Faden hängt, den ´seiden´ zu nennen noch wohlwollend ist.[/QUOTE]

Das muss man weder mit Zufall erklären, noch die Historizität Jesu deswegen in Frage stellen. Joshua/Jehoshua war bzw ist bis heute ein beliebter Name, so wie Moshe ein beliebter ist. Oder wollen wir jetzt die Historizoität einen Maimonides oder einen Moshe Dayan in Abrede stellen, weil sie Moses hießen? Oder etwa eines Shmuel ha-Gabirol, weil er Samuel hieß? Das sind alles völlig normale jüdische Namen, die vergeben werden, das ist ein mehr als alltäglicher Vorgang.
 
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Gerade jetzt aber, wo du einen Textzeugen präsentiert hast, dass Markus Jesus Barabbas und Jesus den Christos unterscheidet, wachsen eher meine Zweifel an der Fiktionalität des Barabbas. Das Jesus/Jeshu'a kein seltener Name war, wissen wir. (...) Why not?

Weil der Name ´Barabbas´ kein zweites Mal in antiken Quellen erscheint (außer wohl irrtümlich im Codex Bezae) und ´Jesus Barabbas´ schon gar nicht. Dass also gleich zwei ´Jesus Barabbasse´ in den Evangelien erscheinen (Jesus, der ´Sohn-des- Vaters´=Bar-abbas und Jesus Barabbas, der andere Gefangene), kann nicht einfach als Zufall abgetan werden, zumal der zweite Barabbas in einer der wichtigsten Szenen der gesamten christlichen Literatur genannt wird. In dieser Szene wird die Schuld am Tod des Jesus den Juden zugeschoben und der Römer Pilatus entlastet. Dieses Konstrukt ist historisch ganz unglaubwürdig, wie ich mehrfach schon schrieb. Gegen die Glaubwürdigkeit spricht vor allem die Unhistorizität der Freilassungs-Sitte, die Markus erfunden hat, dagegen spricht auch der überlieferte brutale und autoritäre Charakter des Pilatus, der sich durch das Geschrei einer Volksmenge sicher nicht gegen seine Überzeugung zu einem Todesurteil hätte nötigen lassen.

Der bei Josephus in Bellum und Antiquitates beschriebene Vorfall, bei dem sich Pilatus von einer aufständischen jüdischen Menge umstimmen ließ, die seinen Soldaten ihre Hälse zur Hinrichtung anboten, um den Bau einer Wasserleitung zu verhindern, lässt sich mit der Judenszene bei Markus überhaupt nicht vergleichen: Dort stand Pilatus vor der Wahl, Tausende Juden zu töten oder ihrem Wunsch nach Einstellung des Baus nachzugeben, hier aber ist er nur einer schreienden Menge konfrontiert, die ihn außer durch Lautstärke in keinster Weise unter Druck setzt.

Im übrigen hängt deine These einer zufälligen Namensübereinstimmung von der Glaubwürdigkeit der von Markus geschilderten Rahmenbedingungen ab, d.h. sie steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit der Freilassungs-Sitte. Da diese offenkundig erfunden ist, muss die ganze Szene als unglaubwürdig, also fiktional, gelten. Ist sie aber fiktional - wofür vieles und wogegen nichts spricht - , dann kann die Namensgleichheit ohnehin kein Zufall sein, da sich der Autor der Szene jedes Detail bewusst zurecht gelegt hat (wenn auch logisch widersprüchlich, was aber auch Hollywood-Autoren passiert).

Das muss man weder mit Zufall erklären, noch die Historizität Jesu deswegen in Frage stellen. Joshua/Jehoshua war bzw ist bis heute ein beliebter Name, so wie Moshe ein beliebter ist. Oder wollen wir jetzt die Historizoität einen Maimonides oder einen Moshe Dayan in Abrede stellen, weil sie Moses hießen? Oder etwa eines Shmuel ha-Gabirol, weil er Samuel hieß? Das sind alles völlig normale jüdische Namen, die vergeben werden, das ist ein mehr als alltäglicher Vorgang.

Nein, ich meinte, dass jemand, der die Namensgleichheit vom mosaischen und vom christlichen Jesus (Joshua) als Zufall ansieht, natürlich davon ausgeht, dass der letztere historisch ist, da ein Zufall nur in diesem Fall anzunehmen ist. Wenn Jesus aber unhistorisch ist, muss man annehmen, dass die Namensgleichheit intendiert ist, d.h. der Name ´Joshua´ wurde dem erfundenen Jesus (d.h. einem historisierten und mit der jüdischen Messiasidee verschmolzenen Mysteriengott) beigelegt, um ihn als pseudo-historischen Messias an die jüdische Tradition anzuschließen.

Ich habe genügend Beispiele aus der christlichen Literatur zitiert, die beweisen, wie sehr die Namensgleichheit der beiden Joshua die Christologie beflügelt hat. Nimm nur die Stelle im Johannesevangelium:

Johannesevangelium 5,46:

(Jesus spricht)

Denn wenn ihr Mose glaubtet, so würdet ihr mir glauben, denn er hat von mir (=Joshua) geschrieben.
Der johanneische Jesus behauptet hier seine Identität mit dem Joshua des AT, d.h. Moses hat damals bereits mit Jesus als dem göttlichen Logos kommuniziert. Diese Argumentation ist ein klassischer Fall von Hysteron-Proteron: Das zu Beweisende ist in den Voraussetzungen enthalten. Nur wer im Joshua des AT dem Christus-Logos erkennt, kann den gegenwärtigen Jesus mit Joshua gleichsetzen. Natürlich entspringt der Dialog der Phantasie des Autors des Johannesevangeliums.

Abgesehen davon ist es ohnehin undenkbar, dass ein jüdischer Wanderprediger sich öffentlich mit dem Joshua des AT gleichgesetzt hätte, wie es auch nicht denkbar ist (um ein Beispiel aus dem Mt zu nehmen), dass sich ein Wanderprediger wie auf der Bühne eines antiken Götter-Dramas öffentlich so geäußert hätte:
Mt 10,32f.

32 Wer sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem werde auch ich mich bekennen am Gerichtstag vor meinem Vater im Himmel.
33 Wer mich aber vor den Menschen nicht kennen will, den werde auch ich am Gerichtstag vor meinem Vater im Himmel nicht kennen.
Das ist, wie viele andere Stellen in den Evangelien, antike Mysteriendichtung ohne historischen Wert.
 
Weil der Name ´Barabbas´ kein zweites Mal in antiken Quellen erscheint
Das ist kein Argument. Es gibt viele Figuren, die allenfalls ein oder zwei mal in antiken Quellen auftauchen.

Dass also gleich zwei ´Jesus Barabbasse´ in den Evangelien erscheinen (Jesus, der ´Sohn-des- Vaters´=Bar-abbas und Jesus Barabbas, der andere Gefangene), kann nicht einfach als Zufall abgetan werden,
Es erscheinen ja keine zwei Jesus Barabbas in den Evangelien. Ein Jesus der Christos und ein (Jesus) Barabbas.

zumal der zweite Barabbas in einer der wichtigsten Szenen der gesamten christlichen Literatur genannt wird.
Was immer noch kein Argument ist, siehe oben.

In dieser Szene wird die Schuld am Tod des Jesus den Juden zugeschoben und der Römer Pilatus entlastet.
Das ist richtig.


Ist sie aber fiktional - wofür vieles und wogegen nichts spricht - , dann kann die Namensgleichheit ohnehin kein Zufall sein, da sich der Autor der Szene jedes Detail bewusst zurecht gelegt hat (wenn auch logisch widersprüchlich, was aber auch Hollywood-Autoren passiert).
Ich bin mit dir in völliger Übereinstimmung, dass die Szene an sich fiktional ist. Zumal auch Jerusalem nicht Pilatus' Amtssitz war, das war Caesarea, und Pilatus' Anwesenheit zum Pesachfest womöglich sogar als Provokation angesehen worden wäre.

Abgesehen davon ist es ohnehin undenkbar, dass ein jüdischer Wanderprediger sich öffentlich mit dem Joshua des AT gleichgesetzt hätte, wie es auch nicht denkbar ist (um ein Beispiel aus dem Mt zu nehmen), dass sich ein Wanderprediger wie auf der Bühne eines antiken Götter-Dramas öffentlich so geäußert hätte:
Das ist, wie viele andere Stellen in den Evangelien, antike Mysteriendichtung ohne historischen Wert.
Das mag keinen ereignishistorischen Wwert haben, aber du vermischt hier die ereignishistorische Ebene mit der historiographischen Metaebene, also dem, was der Historiograph (in diesem Falle der Evangelist) ex post erzählt.

Nehmen wir mal als Vergleichsbsp. Flavius Josephus und seine Prophezeiung, dass Vespasian Kaiser würde: Es ist fraglich, das Flavius Josephus Vespasian das noch zu Lebzeiten Neros prophezeite, ex post berichtet er aber genau das.
 
Zuletzt bearbeitet:
Warum sollten nicht mehrere Jesuse in der Bibel erscheinen, Marien gibt es immerhin auch wie Sand am Meer und Jakob, Josef und Johannes sind auch nicht selten.

Da muss man nicht gleich eine Teilung annehmen, wobei ich durchaus es für möglich halte wie einige jüdische Autoren meinen, dass Jesus bei weitem nicht so friedliebend gegenüber den Römern war wie in den Evangelien dargestellt.
 
Warum sollten nicht mehrere Jesuse in der Bibel erscheinen, Marien gibt es immerhin auch wie Sand am Meer und Jakob, Josef und Johannes sind auch nicht selten.

Es erscheinen ja auch mehrere Jesuse in der Bibel. Auch im Neuen Testament. Im Kolosserbrief wird ein "Jesus genannt Justus" erwähnt.
Josua/Jesus war zu der Zeit ebenso ein jüdischer Allerweltsname wie Jochanan/Johannes, Jakob, Joseph oder Simon.

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_j%C3%BCdischen_Hohenpriester_in_herodianischer_Zeit
 
Die in V.6 erwähnte historisch nicht belegte Sitte der Freilassung eines Gefangenen

Korrekt formuliert: Die in außerchristlichen Quellen nicht belegte Sitte...

Wenn eine Sitte nur in einer christlichen Quelle erwähnt wird, heißt das nicht automatisch, dass sie dann unhistorisch sein muss. Du begehst hier einen methodischen Grundfehler. Anstatt zu argumentieren, warum die Sitte unhistorisch sein soll, wiederholst Du das Wort "unhistorisch" so oft wie möglich:
zwei Gründe nannte ich schon: die unhistorische Sitte der Freilassung...
Die (unhistorische) Freilassungssitte besteht...
Besagter (unhistorischer) Brauch
Gegen die Glaubwürdigkeit spricht vor allem die Unhistorizität der Freilassungs-Sitte, die Markus erfunden hat...
Auch die noch so häufige Wiederholung macht aus einer Behauptung kein Argument. Du produzierst hier lediglich einen Zirkelschluss.

Das erklärt auch die Erfindung der Freilassungs-Sitte, ohne die das Konstrukt nicht funktioniert

Das Konstrukt funktioniert doch gerade mit der Freilassungs-Sitte nicht.

Den springenden unlogischen Punkt hast Du doch ausführlich und präzise herausgearbeitet: Auch wenn das Volk die Freilassung eines Gefangenen verlangen kann, kann es noch lange nicht einen anderen Gefangenen zur Kreuzigung verurteilen.

Deine Behauptung, die Freilassungs-Sitte sei erfunden worden, erklärt also gar nichts.


Barabbas selbst ist bei Markus übrigens noch nicht eindeutig "böse". Nach den meisten Textzeugen heißt es, dass Barabass gefesselt war "zusammen mit den Auführern, die beim Aufruhr einen Mord begangen hatten". Das muss nicht bedeuten, dass Barabbas selber einer der Aufrührer war.
 
Korrekt formuliert: Die in außerchristlichen Quellen nicht belegte Sitte...
(...)
Wenn eine Sitte nur in einer christlichen Quelle erwähnt wird, heißt das nicht automatisch, dass sie dann unhistorisch sein muss. Du begehst hier einen methodischen Grundfehler. Anstatt zu argumentieren, warum die Sitte unhistorisch sein soll, wiederholst Du das Wort "unhistorisch" so oft wie möglich:

Ich habe das nicht wiederholt, um den Begriff einzuhämmern, sondern weil ´Freilassungs-Sitte´, wenn ohne Adjektiv dastehend, dem Leser suggeriert, dass es um eine historische Sitte geht. Du wirst vielleicht sagen, es reicht, wenn ich die Sitte eingangs einmal ´unhistorisch´ nenne, der Präzision wegen zog ich aber die Wiederholung vor.

Diese Sitte findet weder in jüdischen noch in römischen Quellen eine Bestätigung. Ergo ist sie als wesentliches Element einer von Unglaubwürdigkeiten ohnehin strotzenden narrativen Sequenz (unrealistische Verhöre vor Hohepriester und Pilatus, unerklärlicher Hass der Juden auf Jesus) bis zum Beweis des Gegenteils als erfunden zu betrachten. Laut Theologe Georg Strecker hat Markus die Barabbas-Szene nachträglich in den von ihm als Legende übernommenen Passionsbericht eingefügt. Die evidente Unlogik der Szene erklärt sich also aus dem gelegentlichen Unvermögen des Markus, einen Zusammenhang rundum logisch darzustellen.

Anderes Beispiel für markinische Unlogik:

In Mk 5 erweckt Jesus, nachdem er die blutflüssige Frau geheilt hat, die Tochter des jüdischen Priesters Jairus zum Leben (5,42). Anwesend sind dabei einige Jünger und die Eltern des Kindes. Beim Abschied trägt Jesus den Eltern auf, niemandem von der Heilung zu berichten. Logisches Problem: Laut 5,35 hat Jairus, in Gegenwart von Jesus, von anderen Leuten vom Tod seiner Tochter erfahren. Welchen Sinn soll das Geheimhalten der Erweckung also haben, wenn der Tod des Mädchens schon allgemein bekannt war und die Erweckung nur verheimlicht werden könnte, wenn das Mädchen für alle Zeiten im Haus eingesperrt und vor allen Menschen außer den Eltern streng isoliert würde? Daraus folgt, dass Markus gelegentlich nicht fähig ist, einen Zusammenhang ohne logischen Widerspruch zu konstruieren. Das gleiche ist ihm auch in der Barabbas-Szene unterlaufen (Freilassungs-Sitte begründet keine Forderung nach Hinrichtung eines anderen).

Nochmals zum "Unhistorischen":

Die Evangelien sind keine historischen Quellentexte. Sie dienen nicht der Geschichtsschreibung, sondern der Verbreitung christlichen Glaubensgutes. Das hat schon William Wrede in Bezug auf das Mk sehr scharfsinning erkannt. Rudolf Bultmann hat sich Wrede in diesem Punkt angeschlossen und die Suche nach einem historischen Jesus für vergeblich und obsolet erklärt. Grund: Die Evangelien beschreiben keine Ereignisse zur (angeblichen) Jesus-Zeit, sondern projizieren die Anschauungen der ersten Christengemeinden in die Vergangenheit, um Argumente für ihre Auseinandersetzung mit rivalisierenden Christengemeinden oder mit den Juden zu konstruieren.

Beispiele Mk 2,18, 2,23 und 7,2: Dort muss Jesus den Pharisäern gegenüber begründen, warum seine Jünger nicht fasten, am Sabbat Ähren ausreißen und sich vor dem Essen die Hände nicht waschen. Für Bultmann ist klar, dass es hier nicht um Konflikte der Jesus-Jünger geht, sondern um Konflikte der urchristlichen Gemeinden mit dem jüdischen Umfeld, die in die Zeit des ´Jesus´ zurückprojiziert werden, so dass Jesus als Begründer besagter nicht-jüdischer Verhaltensweisen gelten kann. Bultmann bestreitet also, dass diese Regelverstöße auf Jesus zurückgehen, den er, wie gesagt, für historisch nicht fassbar hält. Seine Schüler haben diesen Pessismus übrigens kritisiert und sich von Hypothesen über den historischen Christus nicht abhalten lassen, allen voran der Theologe Ernst Käsemann (dessen Tochter Elisabeth 1977 in Argentinien unter stillschweigender Duldung der Schmidt/Genscher-Regierung gefoltert, vergewaltigt und ermordet wurde).

Vergleichbare Konstruktionen lassen sich quer durch das Mk nachweisen oder zumindest plausibel machen, vor allem hinsichtlich des sog. Messiasgeheimnisses, das Wrede zufolge in dem von Markus übernommenen, angeordneten und überarbeiteten Gesamtmaterial (88 Perikopen, wenn ich recht gezählt habe) an mehreren Stellen eingewoben wurde, um die höchstwahrscheinlich erst von den Urgemeinden entwickelte Idee der Messianität des Jesus durch Rückprojektion zu legitimieren. Dazu demnächst noch mehr.

Das Konstrukt funktioniert doch gerade mit der Freilassungs-Sitte nicht.

Zum Konstrukt:

Um die Schuld am Tod des Jesus von Pilatus (der im auf Markus gekommenen Material vermutlich als Schuldiger dasteht) auf die Juden zu verlagern, muss diesen eine Möglichkeit gegeben werden, den Tod des Jesus zu fordern. Fragt sich nur, bei welcher Gelegenheit? Markus konnte schlecht eine Sitte erfinden, die den Juden an Passah das Recht gibt, die Hinrichtung eines Gefangenen (der Römer) zu fordern, auch wenn das natürlich der einfachste Weg gewesen wäre, den Juden die Schuld anzulasten. Also erfand er - ganz im Gegenteil - eine Sitte, die den Juden das Recht gibt, einen Gefangenen freizufordern. Dieser Gefangene wird in den frühesten Evangelientexten ´Jesus Barabbas´ genannt, was aus schon genannten Gründen höchst merkwürdig ist. Pilatus´ Angebot, den Jesus freizugeben, lehnen die Juden ab und fordern Barabbas sowie - ohne logischen Zusammenhang mit der Freilassungs-Sitte - die Hinrichtung des Jesus.

Aus der Sicht des Markus, dem man keinen überragenden logischen Scharfsinn nachsagen kann, erfüllt dieses Konstrukt seinen Zweck - der Römer Pilatus ist entlastet und der Text für das römische Publikum konfliktfrei zu lesen.

Falls es zutrifft, dass Markus die Barabbas-Passage selbsttätig entwickelt hat, wäre es eine naheliegende Vermutung, dass die Legende, in welche er die Passage einfügte, ursprünglich den christlichen Jesus als ´Jesus Barabbas´ bezeichnete. Das Szenario hätte ursprünglich also so ausgesehen: Jesus wird vor Pilatus geführt und von diesem des Aufstandes gegen das Römische Reich für schuldig befunden. Daraufhin fordert eine jüdische Menge spontan und unlegitimiert die Freilassung des Jesus (Barabbas), nämlich die Art von ´jüdischer Menge´, die in Mk 11,8-9 Jesus so begeistert in Jerusalem empfängt. Die hypothetische Urfassung der Perikope könnte also sein: Ein von Juden verehrter Jesus wird als Aufständischer vom Römer Pilatus hingerichtet.

Später, als das Christentum in Rom Fuß zu fassen beginnt, wird Markus von der dortigen Gemeinde beauftragt, eine werbewirksame Schrift für römisches Publikum zu verfassen, indem er tradiertes Material aus den frühesten Gemeinden zu einer halbwegs zusammenhängenden Geschichte verknüpft. Teil des Materials ist die ursprüngliche Pilatus-Szene, an der ein römisches Publikum aber Anstoß nehmen könnte, da der Römer als Unhold dasteht. Also wird Markus veranlasst - oder kommt selbst auf den Gedanken -, die Szene umzuschreiben und mit dem Konstrukt der Freilassung und Hinrichtungsforderung zu ergänzen. Die Forderung nach Freilassung des Barabbas wird beibehalten, der Name aber einem anderen Gefangenen zugeordnet.

Es gibt natürlich x andere Theorien zu diesem Thema, das ist vorläufig meine.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich habe das nicht wiederholt, um den Begriff einzuhämmern, sondern weil ´Freilassungs-Sitte´, wenn ohne Adjektiv dastehend, dem Leser suggeriert, dass es um eine historische Sitte geht. Du wirst vielleicht sagen, es reicht, wenn ich die Sitte eingangs einmal ´unhistorisch´ nenne, der Präzision wegen zog ich aber die Wiederholung vor.

Ich werde vielleicht sagen, wer eine Behauptung aufstellt, hat die Beweislast. Du hast nichts bewiesen, sondern wiederholst nur Deine Behauptung.

Diese Sitte findet weder in jüdischen noch in römischen Quellen eine Bestätigung.
Das muss nichts heißen.
Die jüdischen und römischen Quellen sind äußerst dürftig, von Flavius Josephus einmal abgesehen, der aber auch an Ausführlichkeit sehr viel zu wünschen übrig lässt. "Wenn etwas nicht bei Flavius Josephus steht, hat es auch nicht existiert" ist kein Argument. (Ich weiß, so wörtlich hast Du es nicht formuliert, aber es läuft oft auf diese Schiene hinaus.)

Widersprüche, logische Brüche, Unglaubwürdiges, propagandistische Verdrehungen finden wir bei allen antiken Autoren. Wenn sich solche häufen, ist die Quelle* natürlich mit besonderer Vorsicht zu behandeln. "Der Autor schreibt an der Stelle X Unglaubwürdiges, also ist die Stelle Y erfunden" ist allerdings auch kein Argument.


Ergo ist sie als wesentliches Element einer von Unglaubwürdigkeiten ohnehin strotzenden narrativen Sequenz (unrealistische Verhöre vor Hohepriester und Pilatus, unerklärlicher Hass der Juden auf Jesus) bis zum Beweis des Gegenteils als erfunden zu betrachten.
Von einem "Hass der Juden" schreibt Markus nichts. Du konstruierst hier "die Frage, wieso das Volk 180-Grad-mäßig von Jesus-Begeisterung auf Jesus-Hass umschaltet" - diese Frage stellt sich bei Markus nicht. Beim "Einzug in Jerusalem" sind es "viele", die Jesus begeistert empfangen, später fordert eine von den Hohenpriestern aufgewiegelte Menschenmenge die Freilassung des Barnabas. Wo steht, dass das dieselben Leute gewesen sein sollen?

Wie auch immer, für die Frage, ob es den Brauch gegeben hat, helfen tatsächliche oder konstruierte Unwahrscheinlichkeiten an anderen Stellen nicht weiter.

Um die Schuld am Tod des Jesus von Pilatus (der im auf Markus gekommenen Material vermutlich als Schuldiger dasteht) auf die Juden zu verlagern, muss diesen eine Möglichkeit gegeben werden, den Tod des Jesus zu fordern. Fragt sich nur, bei welcher Gelegenheit? Markus konnte schlecht eine Sitte erfinden, die den Juden an Passah das Recht gibt, die Hinrichtung eines Gefangenen (der Römer) zu fordern, auch wenn das natürlich der einfachste Weg gewesen wäre, den Juden die Schuld anzulasten. Also erfand er - ganz im Gegenteil - eine Sitte, die den Juden das Recht gibt, einen Gefangenen freizufordern.
Wozu das Ganze? Er hätte ganz einfach die von den Hohenpriestern aufgewiegelte Volksmenge vors Prätorium ziehen lassen können. Wenn er sowieso vorhatte, den Pilatus vor der schreienden Menge klein beigeben zu lassen, war die Erfindung eines Begnadigungsbrauchs höchst überflüssig. (Und, wie Du ja so schön herausgearbeitet hast, eigentlich sogar kontraproduktiv.)

Wäre nicht die Annahme näherliegend, dass es den Brauch tatsächlich gab und dass Markus versuchte, diesen in seine Darstellung einzubauen?



* Die frühen christlischen Schriften sind selbstverständlich historische Quellen - woraus nicht folgt, dass sie als historiographische Quellen zu betrachten sind.
 
Der Name wurde ´Jesus´ gegeben, um diese Figur an die hebräische Tradition anzuschließen und den ihr zugeschriebenen messianischen Anspruch für Juden glaubwürdiger zu machen.

Mit dem Namen Josua/Jesus ist kein messianischer Anspruch verbunden. Für einen bewusst gewählten Namen hätte es zweifellos bessere Kandidaten gegeben...



Ich habe genügend Beispiele aus der christlichen Literatur zitiert, die beweisen, wie sehr die Namensgleichheit der beiden Joshua die Christologie beflügelt hat. Nimm nur die Stelle im Johannesevangelium:

Johannesevangelium 5,46:

(Jesus spricht)

Denn wenn ihr Mose glaubtet, so würdet ihr mir glauben, denn er hat von mir (=Joshua) geschrieben.

Der johanneische Jesus behauptet hier seine Identität mit dem Joshua des AT, d.h. Moses hat damals bereits mit Jesus als dem göttlichen Logos kommuniziert.

Gerade an dieser Stelle ist nun überhaupt nicht vom Josua des AT die Rede. Von Versuchen, hier eine Josua-Anspielung hineinzuinterpretieren, halte ich nicht viel.
Schlüssiger wäre jedenfalls ein Bezug auf 5. Mose 18,15: "Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, erwecken aus dir und aus deinen Brüdern; dem sollt ihr gehorchen." Am Ende des Buchs heißt es dann (5. Mose 34,10): "Und es stand hinfort kein Prophet in Israel auf wie Mose, den der Herr erkannt hätte von Angesicht zu Angesicht".

Der johanneische Jesus wäre also der "Prophet wie Mose" - und dazu passt dann auch der abschließende Kommentar gleich in der nächsten Szene: "Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll."

Dass Johannes Jesus hier eine Nummer kleiner machen will als Mose und eine "Identität mit Josua" behaupten will, halte ich für eine ziemlich konstruierte These.

Die Stellen im Barnabas-Brief, bei Justin, Tertullian etc. erklären sich viel zwangloser aus dem Bestreben, eine zufällige Namensgleichheit im Nachhinein doch noch mit einer Bedeutung auszustatten.
 
In Mk 5 erweckt Jesus, nachdem er die blutflüssige Frau geheilt hat, die Tochter des jüdischen Priesters Jairus zum Leben (5,42). Anwesend sind dabei einige Jünger und die Eltern des Kindes. Beim Abschied trägt Jesus den Eltern auf, niemandem von der Heilung zu berichten. Logisches Problem: Laut 5,35 hat Jairus, in Gegenwart von Jesus, von anderen Leuten vom Tod seiner Tochter erfahren. Welchen Sinn soll das Geheimhalten der Erweckung also haben, wenn der Tod des Mädchens schon allgemein bekannt war und die Erweckung nur verheimlicht werden könnte, wenn das Mädchen für alle Zeiten im Haus eingesperrt und vor allen Menschen außer den Eltern streng isoliert würde?

Die Eltern sollen einfach den Tod des Mädchens dementieren. Wo ist das Problem?

"Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur."

Steht doch da.



unrealistische Verhöre vor Hohepriester und Pilatus
Ich suche in Deinen Beiträgen vergeblich eine Begründung für die Bewertung "unrealistisch".

Es wäre natürlich unrealistisch, anzunehmen, dass Markus über Verhörprotokolle verfügte. Falls Du darauf hinauswillst, müssten wir nahezu alle antiken Quellen ad acta legen. Die antiken Autoren haben sich grundsätzlich die Freiheit genommen, Reden und Dialoge ihrer Akteure nach eigenem Ermessen zu formulieren.

Aber vielleicht wolltest Du auf etwas anderes hinaus.
 
Jener Proto-´Jesus´ könnte auch anders als durch Kreuzigung gestorben sein, z.B. durch Steinigung, was in den Evangelien auf Kreuzigung umgeschrieben wurde, weil das Kreuz eine symbolische Kraft (analog zum Schlangenstab in Numeri 21) hat, der dem Steinigen fehlt.


Nur ist die "symbolische Kraft analog zum Schlangenstab" den meisten frühchristlichen Autoren offensichtlich völlig entgangen.

Von den neutestamentlichen Schriften wird einzig und allein im Johannesevangelium ein Bezug zwischen Kreuz und Schlangenstab hergestellt. Von den anderen Autoren ist kein einziger auf die Idee gekommen, diese "symbolische Kraft" zu nutzen. Im Gegenteil – das Kreuz steht hier für Erniedrigung, Schande, Fluch. Ein gekreuzigter Messias stellte die frühchristlichen Theologen offensichtlich vor gewaltige Probleme, das geht aus vielen Stellen hervor, insbesondere den paulinischen (1. Kor 1,23 "... wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit"). Ein Hingerichteter, der an einem Holz aufgehängt ist, gilt nach dem mosaischen Gesetz als "ein von Gott Verfluchter" (vgl. Gal 3,13).
Die Bezüge zum Schlangenstab finden sich außer im Johannesevangelium in einigen Stellen bei Justin und im Barnabasbrief. Also bei Schriften aus einer Zeit, in der die Trennung zwischen Judentum und Christentum schon de facto vollzogen war.


Auch wenn wir vom Schlangenstab mal absehen, ist Johannes der einzige Evangelist, der die Kreuzigung als "Erhöhung" interpretiert. Auch diese Interpretation wird man bei den anderen neutestamentlichen Autoren vergebens suchen, dieser Gedankengang scheint ihnen völlig fremd gewesen zu sein. Vielmehr werden hier Kreuzigung und "Erhöhung" als Gegensätze gezeichnet. "Erhöhung" setzt die Auferstehung voraus und wird als Himmelfahrt (Lukas, vgl. die "Pfingstpredig des Petrus" in Apg 2) bzw. "Erhöhung über die Himmel" (Hebräerbrief) verstanden. Im (wohl vorpaulinischen) Philipperhymnus kennzeichnet die Erhöhung den schroffen Gegensatz zur tiefsten Erniedrigung (Tod am Kreuz).

Angesichts dieser Fakten halte ich die vorgestellte These nicht für ernsthaft diskutabel.



Nehmen wir aber trotzdem einmal spaßeshalber an, der "Proto-Jesus" sei nicht gekreuzigt, sondern gesteinigt worden. Dann wäre nicht von einer Hinrichtung durch die römische Justiz auszugehen, sondern von jüdischer Justiz (bzw. Lynchjustiz). Zusätzlich konnte die Leiche des Gesteinigten auf einen Pfahl aufgehängt werden. Dafür gibt es Belege.


Nun wäre ein hypothetischer "Proto-Evangelist" (wie wir ihn nennen sollen, ist mir egal) auf die Idee gekommen, das Aufhängen mit dem symbolischen Schlangenstab zu verbinden. Warum dann der Pfahl als Symbol nicht mehr taugte und stattdessen das Kreuz genommen werden sollte, bleibt zwar unerfindlich, aber nehmen wir auch diesen Unsinn noch mit in Kauf.


Durch die Kreuzigung mutierte die Hinrichtung zu einer römischen Hinrichtung. Der "Proto-Evangelist" hätte also den Tod des "Proto-Jesus" fälschlicherweise den Römern angehängt.


Nun kommt Markus ins Spiel. Markus ist nun wieder ganz im Gegenteil bestrebt, "die römische Obrigkeit moralisch zu entlasten" (Zitat Chan).

Zu diesem Zweck hätte der erfindungsreiche Markus nur den Unsinn mit der römischen Kreuzigung beseitigen müssen und stattdessen einfach eine jüdische Hinrichtung behaupten können.
Stattdessen behält er die römische Kreuzigung bei (einschließlich der Misshandlung durch die römischen Soldaten) und beseitigt nur den Hinweis auf den Schlangenstab. Wiederum aus unerfindlichen Gründen.

So könnte man sich die Geschichte vorstellen.

Überaus plausibel und sehr, sehr realistisch... :D
 
Ich habe das nicht wiederholt, um den Begriff einzuhämmern, sondern weil ´Freilassungs-Sitte´, wenn ohne Adjektiv dastehend, dem Leser suggeriert, dass es um eine historische Sitte geht. Du wirst vielleicht sagen, es reicht, wenn ich die Sitte eingangs einmal ´unhistorisch´ nenne, der Präzision wegen zog ich aber die Wiederholung vor.

Diese Sitte findet weder in jüdischen noch in römischen Quellen eine Bestätigung. Ergo ist sie als wesentliches Element einer von Unglaubwürdigkeiten ohnehin strotzenden narrativen Sequenz (unrealistische Verhöre vor Hohepriester und Pilatus, unerklärlicher Hass der Juden auf Jesus) bis zum Beweis des Gegenteils als erfunden zu betrachten.
Ich will hier kein Plädoyer für die Historizität der Freilassungssitte halten, aber wenn man alles, was in den erhaltenen antiken Quellen nur einmal erwähnt wird (bzw. nur in voneinander abhängigen Quellen), als unhistorisch verwirft, bleibt nicht mehr viel übrig.
Und welche römische Quelle sollte über eine Sitte in Iudaea anlässlich des Passah-Festes schreiben? Das war für (nichtchristliche) römische Leser vollkommen uninteressant.

Mit dem Namen Josua/Jesus ist kein messianischer Anspruch verbunden. Für einen bewusst gewählten Namen hätte es zweifellos bessere Kandidaten gegeben...
Z. B. Immanuel (Jesaja 7,14).
 
Wäre aber schon schön, wenn diese Sitte im AT, bei Josephus oder in der rabbinischen Literatur vorkäme. Gerade, dass sie in der rabbinischen Literatur nicht vorkommt, ist doch ein deutliches Indiz gegen die Existenz des privilegium paschalis und dafür, dass das Evangelium hier eine Darstellungsform sucht, wonach die Römer von der Schuld, Jesus gekreuzigt zu haben, entlastet werden. Ich will nicht behaupten, dass die Art Pessach zu feiern sich in den letzten 2000 Jahren nicht verändert hätte, aber es ist ja nun nicht so, als wäre das Judentum mit seinen Festen eine Religion, der wir nur aus antiken Quellen habhaft würden.
 
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