Wahlmonarchie vs. Republik Venedig?

M

Misanthrop

Gast
Im alten Mitterlalter gab es ja jede Menge Wahlmonarchien. Der Kaiser des römischen Reiches, der König von Polen und der von Böhmen usw. wurden durch Wahlberechtigte gewählt.

Mir gehen jetzt zwei Gedanken nicht aus den Kopf:
1.) Worin unterscheiden sich diese Wahlmonarchien eigentlich von der Republik Venedig, dort wurde der Doge ja auch auf Lebenszeit gewählt; Elemente der Volkswahl, die mehr dem Applaus dienten, gab es bei der Kaiserwahl in Frankfurt ja ursprünglich auch.
2.) Wieso gab es ausgerechnet im Mittelalter so viele Wahlmonarchien?
Ein Historiker hat zwar mal geschrieben, dass das von der altgermanischen Sitte herrührt, den Herrscher quasi die Loyalität zuzusprechen, aber das kann doch nicht so prägnd gewesen sein, oder?
 
Im allgemeinen wird die Regierungsform Venedigs als Oligarchie bezeichnet: Eine kleine abgeschlossene Gruppe von Adligen beherrscht den Staat, Militär, Polizei und Gesetzgebung werden von dieser Adelsgruppe kontrolliert.

Allerdings ist eine Wahlmonarchie des Mittelalters wie z.B. die des Heiligen Römischen Reichs nicht weit von Venedig entfernt. Auch dort gab es mit dem Kurfürstenkollegium eine abgegrenzte Gruppe von Adligen, die den König wählten. Allerdings beherrschten die Kurfürsten nicht das gesamte Militär und die Gesetzgebung. Eigentlich passt die Verfassung Venedigs in keins der gängigen Fächer. Mit dem Großen Rat gab es zwar auch ein Parlament, das allerdings bereits Ende des 13. abgeschlossen wurde und das natürlich ebenfalls aus Adelsfamilien bestand. Gewählt wurde der Doge von einem vierzigköpfigen Wahlkollegium, dass Kandidaten nur dem Gro0en Rat entnehmen konnte.

Eine Republik im herrkömmlichen Sinn war Venedig nicht. Es hatte sowohl Züge einer Wahlmonarchie als auch einer konstitutionellen Monarchie. Man könnte auch von einer aristokratischen Republik sprechen. Nichts davon passt völlig auf die Regierungsform Venedigs.
 
Gerade das Regierungssystem Venedigs ist besonders kompliziert und verzwickt, sodass man leicht den Überblick verlieren kann.
Man muss sich wundern, dass es mehr als 1000 Jahre so gut funktionierte.
 
Vielleicht liegt die Erklärung im Ursprung des Dogen-Amtes. Der "Doge" begann schließlich als "dux", als lokaler byzantinischer Statthalter in der Zeit, als Venedig noch Teil des byzantinischen Reiches bzw. des Exarchats Ravenna war. Der dux als solcher war auch keine Besonderheit Venedigs, sondern mehrere byzantinische Städte Italiens wurden als Dukate von einem dux regiert, z. B. auch Neapel und zeitweise Rom. Dieser dux war aber kein Herzog (und schon gar kein König) nach unserem Verständnis, also kein Monarch, sondern ein Amtsträger an der Spitze der Lokalverwaltung im Rahmen einer größeren Verwaltungsorganisation.
 
Die jeweilige Regierungsform eines Staates ist in der Regel das Ergebnis funktionaler Erfordernisse, die Geschäfte des Staates aufrechtzuerhalten und das Spiegelbild der jeweiligen Machtkonstellation während der Phase seiner Konstitution und in der Folge der Kräfte, die ihn "tragen".

Venedig ist auf Handel aufgebaut und in diesem Sinne ist sein politisches System eine Art "Meritokratie". Ihre Stellung im europäischen Machtkontext wird wesentlich dadurch bestimmt, dass ihre wirtschaftliche Macht, einen Ausdruck in politischer Macht findet und durch entsprechende Machtinstrumente wie Armee oder Flotte durchgesetzt werden kann.

Der Erfolg von Venedig im Mittelalter ist damit auch gleichzeitig der empirische Beleg, dass die Regierungsform in dieser Zeit leistungsfähig war und die wirtschaftlichen Interessen von Venedig optimal gegenüber Florenz oder Genua verfolgt und durchgesetzt werden konnten.

Insofern wird man die Auswahl einer bestimmten Regierungsform immer als zeitlich und lokal definierter Ausdruck obiger Faktoren bestimmen müssen und sie ist auch nur so lange leistungsfähig, wie diese Faktoren sich nicht gravierend verändern. Und damit wird dann auch der Niedergang erklärbar, da die Anpassung durch Verkrustung des politischen Systems nicht mehr geleistet werden kann.

Im Gegenzug sind Wahlmonarchien, und die des HRR und von Polen sind explizit angesprochen worden, ein Beispiel für die relative Schwäche von politischen Systemen, da die Formulierung der Interessen in der Regel auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner erfolgte und kein übergreifendes gemeinsames politisches Interesse vorhanden war. Zumindest nicht in dem Sinne, dass es durchsetzungsfähige politische Systeme hervorgebracht hatte.
 
Der Erfolg von Venedig im Mittelalter ist damit auch gleichzeitig der empirische Beleg, dass die Regierungsform in dieser Zeit leistungsfähig war und die wirtschaftlichen Interessen von Venedig optimal gegenüber Florenz oder Genua verfolgt und durchgesetzt werden konnten.
Das Herrschaftssystem Venedigs und das seiner Konkurenten Amalfi, Pisa und Genua war vergleichbar. In Genua wurde im Mittelalter ein Podesta gewählt, ab dem 14. Jh. ein Doge. Das Wahlsystem war etwas anders, da in Genua das gesamte Volk ebenfalls wahlberechtigt waren. Der Staat war aber weit weniger am wirtschaftlichen Erfolg beteiligt als er das in Venedig war. In Genua stande die Privatwirtschaft viel stärker im Mittelpunkt als in Venedig. Dort ging stets Staats-vor Privatinteresse und wer der Gemeinschaft schadete, hatte, gleich welchem Standes mit drastischen Strafen zu rechnen. Das dürfte in der unterschiedlichen Geschichte beider Stadtstaaten begründet sein. Die Venezianer hatten jahrhundertelang mühselig dem Wasser Land abgetrotzt. Das hatte sie zu einer Schicksalsgemeinschaft werden lassen.
 
Der Staat war aber weit weniger am wirtschaftlichen Erfolg beteiligt als er das in Venedig war. In Genua stande die Privatwirtschaft viel stärker im Mittelpunkt als in Venedig.

Die Ergänzungen sind wichtig für das Verständnis der Unterschiedlichkeit der Stadtstaaten. In diesem Kontext argumentiert beispielsweise Abu-Lughod, dass die Kontinuität bei der Bereitstellung von maritimer Infrastruktur ein wichtiger Vorteil von Venedig war gegenüber beispielsweise von Genua. Und dieser "Wettbewerbsvorteil" ein Aspekt ist, der erklären hilft, warum sich Venedig gegenüber Genua hat durchsetzen können.


Abu-Lughod, Janet L. (1991): Before European Hegemony. The World System A.D. 1250-1350. Oxford, New York, et al.: Oxford University Press.
 
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