G.W.F. Hegel: Vorlesung über die Philosophie der Geschichte: China

jiutian

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In Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie hat Herr Prof,Georg Wilhelm Friedrich Hegel gesagt, dass China keine Geschichte hat. Können Sie mir helfen, wie ich den Chinesen darüber erklären soll?
 
Zuerst müsste man natürlich sagen, dass Hegel vor 200 Jahren noch lange nicht soviel über die östliche und fernöstliche Geschichte wusste wie wir heute. China, Indien und Japan waren gerade erst in das Blickfeld der Europäer getreten. Erstaunlich sind deshalb eigentlich weniger Hegels Irrtümer, sondern die vielen Erkenntnisse, die er trotzdem schon zusammengetragen hat.

Zweitens müsste man auf die Menge der Erfindungen und Technologien hinweisen, die in China zuerst gemacht und entwickelt wurden und von denen viele Europa später übernommen hat. Die Liste reicht vom Kompass und Schießpulver bis Papier, Buchdruck, Technologien der Metallverarbeitung und was weiß ich noch alles.

Zu heutigen Kenntnissen über die wechselvolle Geschichte Chinas von den frühen Dynastien über die verschiedenen Großreiche, Kleinstaaten, Eroberungen und Zurückeroberungen könnte man drittens einfach auf die entsprechenden Wikipedia-Artikel verweisen. Oder, wenn man es sehr wissenschaftlich haben will, auf das inzwischen auch auf Deutsch erschienene Buch von Ian Morris: Wer regiert die Welt?, Frankfurt/New York 2012. Es ist ein akribischer Vergleich der europäischen und der fernöstlichen Entwicklung auf über 600 eng bedruckten Seiten.

Und viertens kann man, wenn man will, auch darauf hinweisen, dass Hegel trotz alledem nicht völlig Unrecht hatte. Die chinesische Geschichte ist zwar nicht stehengeblieben, aber sie verlief kontinuierlicher als die europäische. Das hat geographische Ursachen. Die chinesische Landmasse zwischen den Gebirgen im Westen, den Steppen und Wüsten im Norden und dem Meer im Osten war relativ einheitlich im Vergleich zu dem zerstückelten Europa. Die chinesischen Reiche ließen sich zerschlagen und teilen, aber sie wuchsen mit einer gewissen geographischen Logik immer wieder zusammen – im Unterschied zu Europa oder dem Mittelmeerraum. Deshalb hat auch der Historiker Toynbee nicht ganz Unrecht, wenn er die Geschichte Chinas in den letzten zweieinhalbtausend Jahren bis zum Ende des Kaiserreiches als eine einheitliche Kultur betrachtet.
 
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Ein wirkliches Verständnis von Hegels Position in dieser Frage setzt ein Verständnis seiner philosophischen Prinzipien voraus, und die sind nicht gerade einfach zu begreifen, weil sie der gewöhnlichen Denklogik (die Hegel aber für unzureichend hält) widersprechen.

Für Hegel ist das Subjekt (der Mensch) keine in sich geschlossene Monade, sondern Teil eines Gesamtsystems, das er das Absolute oder den Weltgeist nennt. Das Bewusstsein eines Subjekts ist das Bewusstseins dieses Absoluten/Weltgeistes auf einer bestimmten Stufe, vereinfacht gesagt: Der Weltgeist manifestiert sich in den Subjekten, er manifestiert sich aber auch in den Objekten, er ist also gespalten in das Subjektive und das Objektive, sein Wesen ist diese Spaltung.

Die Weltgeschichte ist der Weg des Weltgeistes zur finalen Selbsterkenntnis, dass er mit dieser Gespaltenheit identisch und somit die Einheit der Gegensätze ist. Die Methode dieses Erkennens ist die "Reflexion" oder auch "Negativität", d.h. die Erkenntnis der "Sichselbstgleichheit im Anderssein". Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die Identität des Absoluten, wie schon angedeutet, keine statische Identität ist, sondern eine dynamische: Sie ist ein Prozess, die dialektische Vermittlung und Erkenntnis der Einheit von Gegensätzen. Beispiel: der erwähnte Gegensatz von Subjekt und Objekt (Anderes). Das Subjekt erkennt, dass es durch das Objekt "bestimmt" ist, denn ohne Objekte (Anderes) ist seine Subjektivität leer. Erkenntnis: Das Subjekt ist die Einheit von Subjekt und Objekt. Es erkennt sich im Anderen, weil dieses ein Teil seiner selbst ist. Subjekt und Objekt (Anderes) sind Erscheinungsformen des Ganzen, des Absoluten, des Weltgeistes. Die Selbsterkenntnis des Absoluten kann also nur in der dialektischen Vermittlung seiner gegensätzlichen Momente (= Subjekt und Objekt) bestehen. Diese Bewegung des Selbsterkennens ist für Hegel auch das Wesen der "Freiheit".

Im ersten Absatz seiner China-Studie schreibt er:

Früh schon sehen wir China zu dem Zustande heranwachsen, in welchem es sich heute befindet; denn da der Gegensatz von objektivem Sein und subjektiver Daranbewegung noch fehlt, so ist jede Veränderlichkeit ausgeschlossen, und das Statarische, das ewig wieder erscheint, ersetzt das, was wir das Geschichtliche nennen würden. China und Indien liegen gleichsam noch außer der Weltgeschichte, als die Voraussetzung der Momente, deren Zusammenschließung erst ihr lebendiger Fortgang wird. Die Einheit von Substantialität und subjektiver Freiheit ist so ohne Unterschied und Gegensatz beider Seiten, daß eben dadurch die Substanz nicht vermag, zur Reflexion in sich, zur Subjektivität zu gelangen. Das Substantielle, das als Sittliches erscheint, herrscht somit nicht als Gesinnung des Subjekts, sondern als Despotie des Oberhauptes.

Wichtig sind hier vor allem die Aussagen:

da der Gegensatz von objektivem Sein und subjektiver Daranbewegung noch fehlt, so ist jede Veränderlichkeit ausgeschlossen, und das Statarische, das ewig wieder erscheint, ersetzt das, was wir das Geschichtliche nennen würden.

sowie:

Das Substantielle, das als Sittliches erscheint, herrscht somit nicht als Gesinnung des Subjekts, sondern als Despotie des Oberhauptes.

Der chinesischen Kultur ermangelt es für Hegel also an der negativen Bewegung des Geistes, der Reflexion, was er dadurch ausdrückt, dass der "Gegensatz von objektivem Sein und subjektiver Daranbewegung noch fehlt", wobei er mit "subjektiver Daranbewegung" die erkennende Reflexion auf das Subjektive und das Objektive meint, die den chinesischen Subjekten abgeht. Weil diese geistige Bewegung fehlt, ist die chinesische Geschichte statisch, es gibt keinen Fortschritt des Bewussteins und daher nicht das, was für Hegel das Wesen der Geschichte (= Fortschritt der Selbsterkenntnis) ausmacht.

Das erwähnte "Sittliche" ist für Hegel eine wichtige Stufe des Bewusstseins, wobei Bewusstsein immer als Bewusstsein des Absoluten/Weltgeistes zu verstehen ist, das sich, wie erwähnt, in den Subjekten manifestiert. Das Sittliche ist die Gestalt, die der Weltgeist auf seinem Weg zur finalen Selbsterkenntnis annimmt, um in der Welt der Vielheit die Freiheit des Subjekts zu ermöglichen. Ohne das Sittliche ist die Freiheit aller Subjekte nicht möglich. Das heißt, die Subjekte, die alle Ausdruck und Instrument des (Selbst-)Erkenntniswillens des Weltgeistes sind, organisieren ihre Koexistenz in einer Weise, die der Freiheit (= Bewegung des Selbsterkennens, siehe oben) am besten zuträglich ist. Das Sittliche ist eine Bewusstseinsgestalt, d.h. eine Gestalt des Bewusstseins des Weltgeistes, das sich im Bewusstsein der Subjekte manifestiert, welche das sittliche System erschaffen.

Die zweite zitierte Passage bringt zum Ausdruck, dass der chinesischen Kultur - in Hegels Augen - diese Form der Sittlichkeit, d.h. die freie Sittlichkeit, ermangelt. Das chinesische Subjekt ist nicht sittlich, weil die Sitten seines Landes der Ausdruck der Freiheit aller Subjekte sind und daher vom einzelnen Subjekt im Bewusstsein dieser Freiheit, die dem Ganzen (Weltgeist) dient, befolgt werden, sondern weil ein "Despot", der chinesische Kaiser, ein Sittensystem befehligt, das nicht der Freiheit aller Subjekte dient, sondern der Machtgier eines Individuums.

Hegel aber geht es um die Freiheit aller Subjekte, nicht nur eines einzelnen Individuums, das zufällig auf einem Thron sitzt.

Mit dem oben Gesagten im Hinterkopf sind Hegels einleitende Ausführungen zu seiner Geschichtsstudie nun leichter zu verstehen:

Die Orientalen wissen es noch nicht, daß der Geist oder der Mensch als solcher an sich frei ist; weil sie es nicht wissen, sind sie es nicht; sie wissen nur, daß Einer frei ist,


(also der Despot)

aber ebendarum ist solche Freiheit nur Willkür, Wildheit, Dumpfheit der Leidenschaft oder auch eine Milde, Zahmheit derselben, die selbst nur ein Naturzufall oder eine Willkür ist. Dieser Eine ist darum nur ein Despot, nicht ein freier Mann. – In den Griechen ist erst das Bewußtsein der Freiheit aufgegangen, und darum sind sie frei gewesen, aber sie, wie auch die Römer, wußten nur, daß einige frei sind, nicht der Mensch, als solcher. Dies wußte selbst Plato und Aristoteles nicht. Darum haben die Griechen nicht nur Sklaven gehabt, und ist ihr Leben und der Bestand ihrer schönen Freiheit daran gebunden gewesen, sondern auch ihre Freiheit war selbst teils nur eine zufällige, vergängliche und beschränkte Blume, teils zugleich eine harte Knechtschaft des Menschlichen, des Humanen.
(...)
Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.
Mit dem, was ich im allgemeinen über den Unterschied des Wissens von der Freiheit gesagt habe, und zwar zunächst in der Form, daß die Orientalen nur gewußt haben, daß Einer frei, die griechische und römische Welt aber, daß einige frei sind, daß wir aber wissen, alle Menschen an sich, das heißt der Mensch als Mensch sei frei, ist auch zugleich die Einteilung der Weltgeschichte und die Art, in der wir sie abhandeln werden, angegeben.
 
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„Alle Verhältnisse sind durch rechtliche Normen fest befohlen: die freie Empfindung, der moralische Standpunkt überhaupt ist dadurch gründlich getilgt … Der Kaiser ist wie das Staatsoberhaupt so auch Chef der Religion. Dadurch ist hier die Religion wesentlich Staatsreligion …Mit dieser Verworfenheit hängt die große Immoralität der Chinesen zusammen. Sie sind dafür bekannt, zu betrügen, wo sie nur irgend können; der Freund betrügt den Freund, und keiner nimmt es dem andern übel, wenn etwa der Betrug nicht gelang oder zu seiner Kenntnis kommt. Sie verfahren dabei auf eine listige und abgefeimte Weise, so daß sich die Europäer im Verkehr mit ihnen gewaltig in acht zu nehmen haben …Das Schöne als Schönes darzustellen ist ihm noch nicht gelungen, denn in der Malerei fehlt ihm die Perspektive und der Schatten, und wenn auch der chinesische Maler europäische Bilder wie alles überhaupt gut kopiert, … so ist doch das Erhabene, Ideale und Schöne nicht der Boden seiner Kunst und Geschicklichkeit …“ (aus dem oben verlinkten Kapitel aus Hegels Vorlesungen)

Jajaja, was der aufgeklärte Europäer so denkt. Mit der chinesischen Kunst und Geschichte hat es wenig zu tun. Was Marx über Kant gesagt hat, gilt natürlich auch für Hegel: „die deutsche Theorie der französischen Revolution“. Kant, Hegel etc. messen die ganze Welt am europäischen Kapitalismus, aber nicht am realen Kapitalismus, sondern an ihrer Kopfgeburt, an einem phantastischen Ideal. Im Prinzip gilt das bis heute für die Haltung des Westens.

(Nur als Zwischenbemerkung.)
 
„Alle Verhältnisse sind durch rechtliche Normen fest befohlen: die freie Empfindung, der moralische Standpunkt überhaupt ist dadurch gründlich getilgt … Der Kaiser ist wie das Staatsoberhaupt so auch Chef der Religion. Dadurch ist hier die Religion wesentlich Staatsreligion …"

Was an dieser Kritik Hegels an der chinesischen Kultur von deiner Seite aus so verwerflich ist, erschließt sich mir nicht. Findest du, dass sie sachlich nicht zutrifft? Das solltest du dann auch belegen.

Hegel war jedenfalls ein scharfer Kritiker der konfuzianischen Sittenlehre, deren Hauptprinzip die Unterwerfung unter die Autorität des Vaters, des Herrschers und der Götter ist. Dass das Hegel als Anhänger der von der Französischen Revolution propagierten Freiheitsideale nicht gefällt, ist doch wohl klar. Ich habe oben schon ausgeführt, dass Hegel ein Sittensystem favorisisierte, das auf der Einsicht des Subjekts in die Natur des Ganzen (des Absoluten) beruht und deshalb nicht autoritär aufgezwungen zu werden braucht, sondern als vernünftig und für alle Subjekte gleichermaßen vorteilhaft und daher erstrebenswert erkannt werden kann. Das ist das Gegenteil des konfuzianischen Systems, das dem Subjekt vorgaukelt, den Interessen höherer Mächte (Vater, Herrscher, Götter) zu dienen sei per se etwas "Gutes". Mit dem Freiheitsideal der europäischen Aufklärung hat das gar nichts zu tun. Für Rousseau, der auch Hegel mit seinem Freiheitsideal stark geprägt hat, ist der ideale Staat, ganz anders als im konfuzianischen China,

(ich zitiere einen früheren Beitrag von mir)

das Produkt ihres (= der Staatsbürger, Anm. Chan) freien Willens, in ihm fließen die Willensentscheidungen von Natur aus vernünftiger und verantwortungsfähiger Subjekte zu organischer Einheit zusammen, und so kann er selbst gar nicht anders sein als frei. Bis dato waren und sind alle Staaten ungerecht und unfrei organisiert, sagt Rousseau, aber das ist so, weil nicht ein freier, sondern ein unfreier, ein falscher Wille sie errichtete. Partikulare, egozentrische, machtgierige Individuen hatten ihren partikularen, egozentrischen, machtgierigen Willen ausgeübt, um ein soziale Ordnung zu schaffen, die für die meisten in ihr Lebenden Unrecht und Ausbeutung, Resignation und Leiden bedeuten, Brüche in der sozialen Zirkularität. Um einen Weg aus dieser Sackgasse aufzuzeigen, führt Rousseau den Begriff der volonté générale ein.

ihrer Kopfgeburt, an einem phantastischen Ideal.

Ich vermute, mit dem "phantastischen Ideal" meinst du den Deutschen Idealismus, dessen bekanntester Vertreter Hegel ist (neben Schelling und Fichte / Kant gehört eigentlich nicht dazu). Als Kritik am Deutschen Idealismus ist mir diese Formulierung aber zu dünn.
 
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Von „Tom“ (vgl. #4) kommen eine Reihe richtiger Hinweise und Einwände. Als Ergänzung dazu eine Reihe von Punkten. Die auch deswegen notwendig sind, um die Form von quellenkritischer Sicht auf Hegels Thesen zu erhalten, die Hegel selber nicht ausreichend reflektiert hat.

Franke leistet eine Einschätzung der Sicht von Hegel auf China. Zunächst konstatiert Franke (S. 279), dass nach einer anfänglichen sehr positiven Rezeption von China, wie bei Leibnitz, im 19. Jahrhundert das Pendel in eine gegenteilige Sicht ausschlug und eine negative Wahrnehmung sich zunehmend durchsetzte.

In diesem Kontext ist auch die Arbeit von Hegel zu sehen: „Hegel ist ein besonders typischer Exponent dieser geistigen Haltung.“ (ebd. S. 279).

Das Material, auf dem Hegel seine Betrachtungen über China stützte, waren die 13 bändige Studie von Mailla, in denen eine relativ umfassende Sicht – für die damalige Zeit – auf China ermöglicht wurde.

„Wir können uns freilich in die Einzelheiten dieser Geschichte weiter nicht einlassen, die, da sie selbst nichts entwickelt, uns in unsrer Entwicklung hemmen würde.“

Und fährt an anderer Stelle fort: „Insofern hat China keine eigentliche Geschichte.“

Zu diesem Urteil konnte oder mußte Hegel in der Folge von Mailla kommen, so Franke, weil das chinesische Werk, das Mailla übersetzt hatte, kein im eigentlichen Sinne historisches Werk war, sondern ein Handbuch der politischen Staatsethik im 12. Jahrhundert des konfuzianistisch geprägten Chinas, dargestellt anhand von historischen Beispielen.

Über den Charakter dieses Werks waren sich weder Mailla noch Hegel im klaren, sodass es zwangsläufig zu einer selektiven Wahrnehmung lediglich und primär der normativen Vorstellungen zur konfuzianistischen Staatsführung kam.

In diesem Kontext kritisiert Franke den allzu unkritischen Umgang von Hegel mit dieser Quelle, da Hegel auch andere – stärker historisch orientierte – Darstellungen zur Verfügung standen. (ebd. 280)

Franke resümiert es dahingehend: „Hegels Darstellung der Geschichte Chinas ist ein Durcheinander von Richtigem und Falschem.“ Und führt eine Reihe von Beispiele auf, bei denen Hegel eurozentrierte, in der Tradition der Aufklärung stehende Fehlurteile, wie z.B. zum Ehrgefühl der Chinesen, abgibt

Vor diesem quellenkritischen Hintergrund sind die Ausführung von Hegel zu Hegel unter historischer Perspektive mehr als problematisch.

Ausführlicher hat sich Wang im Rahmen seiner Dissertation mit der Sicht von Hegel auf China beschäftigt (leicht im WWW zu finden und als Pdf einzusehen)

Franke, Wolfgang (1970): Hegel und die Geschichte Chinas. In: Verfassung und Recht in Übersee : VRÜ (3), 279-283.
Mailla, Joseph-Anne-Marie de Moyriac de; Grosier, Alexandre (1969): Histoire générale de la Chine, ou Annales de cet empire. Ouvrage enrichi de figures et de nouvelles cartes géographiques de la Chine ancienne et moderne, levées par ordre du feu Empereur Kang-Hi et gravées pour la première fois.. Paris 1777-85. 13. Bände, Taipei: Ch'eng-wen Publ.
Wang, Xingkui (2018): Hegels Stellung zu China. Kunst, Religion und Philosophie. Dissertation. Ludwig-Maximilians-Universität, München.
 
Hegel war jedenfalls ein scharfer Kritiker der konfuzianischen Sittenlehre, deren Hauptprinzip die Unterwerfung unter die Autorität des Vaters, des Herrschers und der Götter ist.
Man merkt, dass Du nicht viel Ahnung von der konfuzianischen Sittenlehre hast, jedenfalls weniger als Hegel. "Die Götter" spielen praktisch keine Rolle für die Sittenlehre - es sei denn, Du möchtest die Ahnen, deren Verehrung als Bestandteil der 孝 (xiao, mangels eines besseren Äquivalents als 'kindliche Pietät'übersetzt) zu werten ist, zu "Göttern" erklären.

Was Hegel durachaus aufgefallen ist, Dir aber offensichtlich nicht, ist die Tatsache, dass die 'kindliche Pietät' nicht nur dem Vater, sondern auch der Mutter zukommt. Dass sich sogar der Kaiser seiner Mutter unterordnet, referiert Hegel mit unverhohlenem Staunen:

Die Mutter wird ebensosehr wie der Vater verehrt. Als Lord Macartney den Kaiser sah, war dieser achtundsechzig Jahre alt (sechzig Jahre ist bei den Chinesen eine feste Zahl wie bei uns hundert), dessen ungeachtet besuchte er seine Mutter alle Morgen zu Fuß, um ihr seine Ehrfurcht zu beweisen. Die Neujahrsgratulationen finden sogar bei der Mutter des Kaisers statt, und der Kaiser kann die Huldigungen der Großen des Hofes erst empfangen, nachdem er die seinigen seiner Mutter gebracht. Die Mutter bleibt stets die erste und beständige Ratgeberin des Kaisers, und alles, was die Familie betrifft, wird in ihrem Namen bekannt gemacht.

Was andererseits die Unterordnung der (ersten) Ehefrau unter den Ehemann betrifft, sehe ich bei Hegel keine "scharfe Kritik":

Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist, wie alle andren Familienverhältnisse, sehr hoch geachtet, und die Untreue, die jedoch wegen der Abgeschlossenheit der Weiber nur sehr selten vorkommen kann, wird hart gerügt. Eine ähnliche Rüge findet statt, wenn der Chinese zu einer seiner Nebenfrauen mehr Zuneigung als zu seiner eignen Hausfrau zeigt, und diese ihn darob verklagt.

Die Unterordnung der Ehefrau unter den Ehemann ist also für Hegel offensichtlich eine Selbstverständlichkeit, die Unterordnung des Mannes unter seine Mutter nicht.

Jajaja, was der aufgeklärte Europäer so denkt.
 
Man merkt, dass Du nicht viel Ahnung von der konfuzianischen Sittenlehre hast, jedenfalls weniger als Hegel. "Die Götter" spielen praktisch keine Rolle für die Sittenlehre

Wenn der Vorwurf mal nicht nach hinten losgeht...

Natürlich spielt der Götterglaube im Konfuzianismus eine Rolle, wobei die "Götter" (siehe unten) eher Naturmächte als personale Mächte sind. Die Alltagshandlungen gelten, sofern sie im konfuzianischen Sinne moralisch sind, als Ausdruck der als "heilig" erachteten moralischen Natur des Menschen, die im "Himmel" (tian) verwurzelt ist und sich auch in der Achtung vor den "Göttern" (shen) zeigt. Diese "shen" haben nichts mit Ahnengeistern zu tun, wie du annimmst, sondern gelten als übernatürliche Kräfte. Der "Himmel" (tian) garantiert die Ordnung der Welt und richtet jene, die dagegen verstoßen, durch das Schicksal (ming), z.B. durch Krankheiten, er belohnt aber die Guten. Gemeinsam mit dem Kaiser (siehe unten) halten der Himmel und das Schicksal (tian-ming) die kosmische Ordnung aufrecht. Das und vieles mehr ist nachzulesen in den historischen Annalen (Shiji) von Sima Qian.

Der Kaiser gilt als Sohn des Himmels (tian), der infolgedessen ein "Vater Himmel" ist, und Träger des himmlischen Mandats (Tianxia). Über ihn sagt Konfuzius gemäß dem ´Lunyu´ (Gespräche):

Wenn unter dem Himmel Ordnung herrscht, ist der Sohn des Himmels die höchste Autorität in allen politischen und kultischen Angelegenheiten.
(Ralf Moritz: Konfuzius. Gespräche, Leipzig 1982)

Deshalb schreibt Hegel auch:

Die Chinesen in ihrem patriarchalischen Despotismus bedürfen keiner solchen Vermittlung mit dem höchsten Wesen; denn die Erziehung, die Gesetze der Moralität und Höflichkeit, und dann die Befehle und Regierung des Kaisers enthalten dieselbe. Der Kaiser ist wie das Staatsoberhaupt so auch Chef der Religion.


Es scheint angebracht, auf diese Formulierung aufmerksam zu machen:

Die Chinesen in ihrem patriarchalischen Despotismus...

Das ist eine EXTREM scharfe Kritik an der chinesischen Kultur, wie sie von einem Anhänger der europäischen Aufklärung kaum schärfer formuliert werden kann. Darüber können die von dir zitierten Passagen, denen du einen versöhnlichen Ton zu entnehmen vermeinst, nicht hinwegtäuschen. Hegel hat sogar geäußert, es wäre besser gewesen, wenn Konfuzius´ Schriften nie übersetzt worden wären.

Was nun die von dir zitierten Passagen betrifft, die eine gewisse Achtung vor der Frau (Mutter, Gattin) erkennen lassen, sollte man das nicht zu hoch hängen, weil das faktische Verhältnis der Frau zum Mann im Konfuzianismus eindeutig als ein Verhältnis der Unterordnung und des Gehorsams definiert ist. Daran können all die "Verehrungen" und "Gratulationen" und "Huldigungen" nichts ändern, die kaum mehr als leere Gesten mit Alibicharakter sind.

Die menschlichen Beziehungen sind für Konfuzius auf folgende Weise hierarchisch geordnet:

Der Kaiser herrscht über den Untertan, der Vater über den Sohn, der Ehemann über die Ehefrau und der ältere über den jüngeren Bruder.

Die Frau ist dem Vater, dann ihrem Ehemann und als Witwe ihrem ältesten Sohn zum Gehorsam verpflichtet.

Moralisches (sittliches) Handeln hat seinen Grund nicht, wie bei Hegel, in der Einsicht des Subjekts in die Vernunft des Sittlichen, sondern nur und ausschließlich im Gehorsam und in der hierarchischen Unterordnung des Subjekts, das sich immer seinem gesellschaftlichen Platz entsprechend zu verhalten hat. Deswegen schätzt Hegel das chinesische Moralsystem ja so gering und bemängelt die Geschichtslosigkeit (d.h. den geistigen Erkenntnisstillstand) der chinesischen Kultur.

„Wir können uns freilich in die Einzelheiten dieser Geschichte weiter nicht einlassen, die, da sie selbst nichts entwickelt, uns in unsrer Entwicklung hemmen würde.“

Und fährt an anderer Stelle fort: „Insofern hat China keine eigentliche Geschichte.“

Zu diesem Urteil konnte oder mußte Hegel in der Folge von Mailla kommen, so Franke, weil das chinesische Werk, das Mailla übersetzt hatte, kein im eigentlichen Sinne historisches Werk war, sondern ein Handbuch der politischen Staatsethik im 12. Jahrhundert des konfuzianistisch geprägten Chinas, dargestellt anhand von historischen Beispielen.

Hegel musste zu seinem Urteil kommen, weil die chinesische Geschichte keine Aufklärung und gesellschaftliche Selbstreflexion kennt, die zur Kritik und Abschaffung des Despotismus führt, und nicht, weil er unzureichende Quellen gelesen hat (das Problem besteht in China im Grunde ja noch bis heute. Bezeichnenderweise will Diktator Xi Jinping den Konfuzianismus wieder zum Leben erwecken, um sein Volk noch fester an die Kandare zu nehmen).

Ich bitte zur Kenntnis zu nehmen, dass Hegels Geschichtsbegriff den Prozess der Selbsterkenntnis des Weltgeistes beinhaltet, der sich in den geschichtlichen Subjekten manifestiert. Darüber habe ich doch ausführlich geschrieben. Also ist, sofern man Hegels Sicht auf China analysiert, dieser spezielle Geschichtsbegriff zu berücksichtigen, statt einen eigenen konventionellen Geschichtsbegriff in Anschlag zu bringen, der dem Thema Hegel & China überhaupt nicht gerecht wird.

Hegels Gradmesser ist, wie auch aus von mir zitierten Passagen erkennbar, zum einen die griechische und römische Kultur und zum andern die explosive Entwicklung des aufklärerischen Denkens und der daraus folgenden Französischen Revolution im 18. Jahrhundert.

Sofern du meinst, dass die chinesische Geschichte doch Beispiele aufweist, die den Kriterien Hegels gerecht werden und die dieser übersehen hat oder nicht kannte, so nenne mir diese Beispiele bitte. Deine obige Argumentation und auch die Argumentationen von Tom und Sepiola sind ohne solche Beispiele nicht stichhaltig und gehen am Thema vorbei.
 
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Das ist der Nachteil von Diskussionen in einem Forum, es wird Verschiedenes von verschiedenen Beteiligten gesagt und man hat dann nach nur einem Tag schon Schwierigkeiten, wie und wo man wieder einsteigen soll. Ich versuche es kurz in wenigstens ein paar Punkten.

Chan zitierte Hegel: „… daß die Orientalen nur gewußt haben, daß Einer frei, die griechische und römische Welt aber, daß einige frei sind, daß wir aber wissen, alle Menschen an sich, das heißt der Mensch als Mensch sei frei, ist auch zugleich die Einteilung der Weltgeschichte und die Art, in der wir sie abhandeln werden, angegeben.“

Das ist Theorie der der französischen Revolution in Reinform, kürzer und klarer kann man sie nicht fassen.

Weiter. Ich zitierte Hegel: „Der Kaiser ist wie das Staatsoberhaupt so auch Chef der Religion. Dadurch ist hier die Religion wesentlich Staatsreligion …" Chan: „Was an dieser Kritik Hegels an der chinesischen Kultur von deiner Seite aus so verwerflich ist, erschließt sich mir nicht. Findest du, dass sie sachlich nicht zutrifft? Das solltest du dann auch belegen.“

Tut mir leid, hätte ich tun sollen. Ich dachte, das kann man als selbstverständlich voraussetzen. Wenn man bei einem Land nicht von despotischer Staatsreligion sprechen kann, dann im Falle von China. Für die Beamtenschaft galt meist der Konfuzianismus, also überhaupt keine Religion, sondern eine Art Beamten- und Staatsideologie. Der „Wille des Himmels“ und dergleichen waren recht abstrakte Vorstellungen, die mit den üblichen Religionen wenig vergleichbar sind und deshalb auch nie volkstümlich wurden. Ansonsten war der herrschenden Klasse und dem Kaiser die Religion der Untertanen meist völlig egal. Konfuzianismus, Ahnenkult, Buddhismus, Dauismus, Naturkulte der Bauern, das war alles gleichzeitig da, beeinflusste sich gegenseitig und ging wild durcheinander. Auch die „Interessen höherer Mächte“ waren in China nicht „per se etwas Gutes“. Der Buddhismus und viele seiner Sekten sind extrem subjektiv, den Kaiser und die Beamtenschaft interessierte das nicht. Oft hingen sie selber solchen Sekten an. Bauernaufstände waren auch oft von solchen Sekten beeinflusst, z.B. stellte sich der jeweilige Anführer als Buddha Maitreya dar, als endgültiger Erlöser. Aber die wurden nicht wegen ihres Buddhismus bekämpft, sondern als meuternde Untertanen, die Steuern und Pacht verweigerten.

Chan: „Ich vermute, mit dem ‛phantastischen Ideal’ meinst du den Deutschen Idealismus.“ Ich meinte damit die oben zitierte Geschichtsvorstellung.
 
Weil ich grade in Schwung bin, vielleicht noch eine allgemeine Bemerkung. Historiker neigten und neigen (leider bis heute) oft dazu, schriftliche Quellen von sozialen Schichten, die viel geschrieben haben, besonders hoch zu bewerten, also vor allem die Hinterlassenschaften von Herrschern, Priestern und Beamten. Diese Quellen spiegeln aber oft nicht die Realität, sondern nur die Einbildungen der entsprechenden Schreiber. Die chinesischen literarisch gebildeten Beamten haben geschrieben, bis die Pinsel rauchten, aber mit der Wirklichkeit hatte es im Laufe der Jahrhunderte immer weniger zu tun. Was auch nicht verwunderlich ist. Wer in den letzten drei- oder vierhundert Jahren die Qual des jahrelangen Paukens und Auswendiglernens hinter sich und die Beamtenprüfungen bestanden hatte, der war wirr im Kopf und hatte jeden Bezug zur Realität verloren.

Wir sollten solche Quellen nicht überschätzen, auch nicht die frühen und maßgeblichen. Bei Hegel ist eine solche Überschätzung historisch verständlich, er kannte eben nur ein paar grundlegende konfuzianische Schriften und sonst nichts und konstruierte sich daraus die chinesische Wirklichkeit. Kein chinesischer Herrscher hat je daran gedacht, das Lúnyü wirklich zum Leitfaden seines Handelns zu machen. Sie ermordeten ihre Brüder und Konkurrenten oder ließen sich von ihren Kastraten ermorden wie die Herrscher überall auf der Welt. Und die chinesischen Bauern und Handwerker hatten vom Lúnyü wahrscheinlich nicht einmal etwas gehört. Sie beteten vor ihren Ahnen oder vielleicht noch in einem buddhistischen Kloster.

Wir wissen heute mehr. Grade in China ist die Lage günstig, weil nicht nur die Beamten geschrieben haben, sondern alle Welt und ganz besonders natürlich Buddhisten und Dauisten. Sogar die Kultur und Ideologie der unteren Schichten ist durch Dichtung und Volksbücher bis zu uns gekommen. Die Wirklichkeit sieht man nicht in den Einbildungen konfuzianischer Beamter, viel besser sieht man sie zum Beispiel in den klassischen Dramen und Romanen.
 
Wenn der Vorwurf mal nicht nach hinten losgeht...
Och, da bin ich in diesem Fall völlig unbesorgt.

Natürlich spielt der Götterglaube im Konfuzianismus eine Rolle
Das ist doch nicht der Punkt. Deine Behauptung lautete, das "Hauptprinzip der konfuzianischen Sittenlehre" sei "die Unterwerfung unter die Autorität des Vaters, des Herrschers und der Götter". Mein Einwand lautete, die "Götter" spielten in der Sittenlehre (!) praktisch (!) keine Rolle.
Um den Meister selbst zu zitieren: 敬鬼神而遠之 - "Respektiere die Dämonen und Geister und halte dich von ihnen fern" (die Betonung liegt auf "fernhalten").

Diese "shen" haben nichts mit Ahnengeistern zu tun, wie du annimmst
Das möchtest Du aus dem Satzteil "es sei denn, Du möchtest die Ahnen zu 'Göttern' erklären" schließen?
Wenn Du die Ahnen nicht zu "Göttern" erklärst, dann ist ja gut.

Das ist eine EXTREM scharfe Kritik an der chinesischen Kultur, wie sie von einem Anhänger der europäischen Aufklärung kaum schärfer formuliert werden kann.
Auch darum geht es nicht. Natürlich formuliert Hegel scharfe Kritik, wer hätte das bestritten? Wenn er von "patriarchalischem Despotismus" spricht, geht es nicht um die Beziehung zwischen Mann und Frau - die Überlegenheit des Mannes ist auch dem Aufklärer eine Selbstverständlichkeit.
"Frauen können wohl gebildet seyn, aber für die höheren Wissenschaften, die Philosophie und für gewisse Produktionen der Kunst, die ein Allgemeines fordern, sind sie nicht gemacht... Stehen Frauen an der Spitze der Regierung, so ist der Staat in Gefahr, denn sie handeln nicht nach den Anforderungen der Allgemeinheit, sondern nach zufälliger Neigung und Meinung."
Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 166

Was nun die von dir zitierten Passagen betrifft, die eine gewisse Achtung vor der Frau (Mutter, Gattin) erkennen lassen, sollte man das nicht zu hoch hängen, weil das faktische Verhältnis der Frau zum Mann im Konfuzianismus eindeutig als ein Verhältnis der Unterordnung und des Gehorsams definiert ist. Daran können all die "Verehrungen" und "Gratulationen" und "Huldigungen" nichts ändern, die kaum mehr als leere Gesten mit Alibicharakter sind.
Der springende Punkt ist doch gerade, dass Hegel sich an diesen "leeren Gesten" so aufhängt - er selbst scheint sie übrigens ganz und gar nicht für "leere Gesten" gehalten zu haben, schließlich schreibt er:

"Die Mutter bleibt stets die erste und beständige Ratgeberin des Kaisers"

Nun vergleich das mal mit den vorstehenden Äußerungen über den "Staat in Gefahr".

Wenige Seiten vor den Bemerkungen über China führt Hegel dem Leser das Beispiel eines "Weiberstaats" vor Augen, den er irgendwo in Schwarzafrika verortet, zu einer nicht näher bestimmten Zeit:

In früherer Zeit hat sich ein Weiberstaat besonders durch seine Eroberungen berühmt gemacht: es war ein Staat, an dessen Spitze eine Frau stand. Sie hat ihren eignen Sohn in einem Mörser zerstoßen, sich mit dem Blute bestrichen und veranstaltet, daß das Blut zerstampfter Kinder stets vorrätig sei. Die Männer hat sie verjagt oder umgebracht und befohlen, alle männlichen Kinder zu töten. Diese Furien zerstörten alles in der Nachbarschaft und waren, weil sie das Land nicht bauten, zu steten Plünderungen getrieben. Die Kriegsgefangenen wurden als Männer gebraucht, die schwangeren Frauen mußten sich außerhalb des Lagers begeben und, hatten sie einen Sohn geboren, diesen entfernen. Dieser berüchtigte Staat hat sich späterhin verloren.
 
Also ist, sofern man Hegels Sicht auf China analysiert, dieser spezielle Geschichtsbegriff zu berücksichtigen, statt einen eigenen konventionellen Geschichtsbegriff in Anschlag zu bringen, der dem Thema Hegel & China überhaupt nicht gerecht wird.

1. Für mich ist in diesem Kontext der "spezielle Geschichtsbegriff" von Hegel irrelevant. Es ging um die empirische Fundierung der Sicht von Hegel auf China. Und wenn Hegel nach dem Verfahren vorgeht, "Rubbish in = Rubbish out", dann ist das zunächst eine Kritik an der empirischen Fundierung seiner normativen Kritik an der Geschichte von China und dem damit zusammenhängenden Verdikt der "Geschichtslosigkeit".

Und Jaeschke formuliert in einem versteckten Seitenhieb auf Hegel: "Das gilt unabhängig von der Frage, ob Hegels Diagnose von Geschichtslosigkeit jeweils zutrifft oder ob sie durch Informationsdefizite verschuldet ist." (Jaeschke, Pos. 15851). Und greift damit implizit die Kritik von Franke auf.

2. Sofern Hegel einen "normativen Text", der analog den "Fürstenspiegeln" Soll-Vorgaben für Regierungshandeln formuliert, analysiert und vermutet, man hätte im empirischen Sinne eine historische Deskription vor sich, dann ist die Kritik von Franke an Hegel absolut zutreffend und Hegel ist ein "philosophisches Methodenartefakt" gelungen. Wenn man analysiert, seine eigenen philosophischen Sichten darauf basiert und auf diese seine eigenen Urteile aufbaut, dann sollten wenigsten die empirischen Fakten halbwegs stimmen. Und das ist bei Hegel nicht der Fall gewesen!

Da ist der Vorwurf, man solle sich gefälligst auf die Sicht von Hegel einlassen, fehl am Platze.

3. Ansonsten wird die Sicht von Hegel auf China in den Sekundärliteratur zu Hegel komplett ignoriert. Wie man an einer kleinen Auswahl von wichtigeren Werken zu Hegel schnell erkennen kann. Und die Ursache kann man wohl leicht erkennen.

Beiser, Frederick C. (Hg.) (2009): The Cambridge companion to Hegel and nineteenth-century philosophy. Cambridge: Cambridge University Press
Beiser, Frederick C. (2010): Hegel. Reprinted. New York, NY: Routledge
Châtelet, François (1975): C.W.F. Hegel. In: François Châtelet (Hg.): Geschichte der Philosophie: Ideen, Lehren. Philosophie und Geschichte (1780-1880). Frankfurt/M. u.a.: Ullstein, S. 150–180.
Jaeschke, Walter (2010): Hegel-Handbuch. Leben, Werk, Schule. Stuttgart : Metzler.
Neuhouser, Frederick (2009): Hegel`s Social Philosophy. In: Frederick C. Beiser (Hg.): The Cambridge companion to Hegel and nineteenth-century philosophy. Cambridge: Cambridge University Press (The Cambridge companions complete collection), S. 204–229.
Singer, Peter (1996): Hegel. Oxford: Oxford University Press
Taylor, Charles (2009): Hegel. Princeton, N.J.:
 
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In diesem Kontext kritisiert Franke den allzu unkritischen Umgang von Hegel mit dieser Quelle, da Hegel auch andere – stärker historisch orientierte – Darstellungen zur Verfügung standen.
Kleine Fußnote:
Bessere historiographische Quellen als de Maillas Übersetzung des Tongjian Gangmu standen Hegel sicher nicht zur Verfügung. Wolfgang Franke behauptet das auch nicht, sondern weist auf die Unzulänglichkeit der "ganz wenigen Übersetzungen und Berichte" hin - er meint lediglich, Hegel hätte allenfalls "Hinweise auf den außerordentlichen Umfang des chinesischen historischen Schrifttums" finden können.
(Die erste französische Teil-Übersetzung des Shiji erschien erst Ende des 19. Jahrhunderts!)
 
Das Folgende soll den Unterschied des Hegelschen Denkens zum Konfuzianismus noch mehr verdeutlichen, weil er vielleicht noch nicht allen teilnehmenden Usern völlig klar ist. Die Zitate sind Hegels "Grundlinien der Philosphie des Rechts" von 1820 entnommen. Zu beachten ist, dass sich Hegel vom Liberalismus der bürgerlichen Gesellschaft entschieden distanziert.

Für Hegel ist die Vielfalt des Wirklichen als die verstreute Manifestation der ursprünglichen Einheit des Weltgeistes zu verstehen. Durch eine Anzahl von kognitiven Entwicklungsstufen gewinnt diese Vielfalt, die ihren Ursprung in der ursprünglichen Selbstspaltung des Absoluten hat, ihre Ganzheit und ihre endgültige und wahre Freiheit zurück. Die Sittlichkeit - die Gestalt der Freiheit in der Welt der Vielfalt - bildet den Übergang zwischen der Vereinzeltheit des Subjekts und der Absolutheit des sich selbst erkennenden Weltgeistes. Sie ist der substantielle Wille des Absoluten, der die Beziehungen zwischen den Subjekten auf der Grundlage der ursprünglichen Identität der Subjekte regelt, da es sich bei ihnen um verschiedene Ausdrucksformen des einen Absoluten handelt. Hegel versteht den Staat als die Konkretisierung der Sittlichkeit:

Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee (‘Idee’ bei Hegel natürlich im Sinne von Eidos, d.h. Wesen) - der sittliche Geist, als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille … An der Sitte hat er seine unmittelbare und an dem Selbstbewusstsein des Einzelnen … seine vermittelte Existenz, so wie dieses in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkte seiner Tätigkeit, seine substantielle Freiheit hat.


Hegel zufolge sind das abstrakte Gesetz und die Moral die Vorstufen der Sittlichkeit. Abstrakt ist das Gesetz in dem Sinne, dass es die Wechselwirkungen und Beziehungen innerhalb der menschlichen Gemeinschaft rein äußerlich und formal regelt, ohne Rücksicht auf die Besonderheit des Einzelfalls. Sie ist vor allem abstrakt, soweit sie keinen Bezug zur inneren Haltung des Subjekts hat. Was dieser Stufe also fehlt, ist die Synthese von Innen und Außen: Die Normen sind äußere Faktoren, denen das Subjekt fremd ist. Freiheit wird hier nicht verwirklicht, sondern nur gefordert.

Auf der Ebene der Moral hingegen wird die Normativität verinnerlicht; sie wird Teil der subjektiven Persönlichkeit. Hier ist nicht thematisch, was das Subjekt tun soll - das ist gesetzlich geregelt -, sondern was es wollen soll. Das Recht, das äußerlich die sozialen Rahmenbedingungen der subjektiven Freiheit setzt, wird als Moralität zum Guten:

Das Dasein der Freiheit, welches unmittelbar als das Recht war, ist in der Reflexion des Selbstbewusstseins zum Guten bestimmt.

Zum Konzept des Guten als Leistung der reflektierenden Subjektivität wird Hegel durch die philosophische Aufklärung angeregt. Das Subjekt muss die Gründe für seinen Wollen und Handeln mittels seiner Vernunft erkennen:

Das Recht des subjektiven Willens ist, dass das, was er als gültig anerkennen soll, von ihm als gut eingesehen werde und dass ihm eine Handlung, als der in die äußerliche Objektivität tretende Zweck, nach seiner Kenntnis von ihrem Werte, den sie in dieser Objektivität hat, als rechtlich oder unrechtlich, gut oder böse, gesetzlich oder ungesetzlich zugerechnet werde.

Auf diese Weise werden alle moralischen Geltungsansprüche, die der Moralkodex der Tradition erhoben hatte - also die christliche Tradition, die im Abendland weit über ein Jahrtausend bis Hegel das Moraldenken dominierte -, in Zweifel gezogen und der Prüfung des aufgeklärten kritischen Denkens unterworfen. Was gut ist, wird vom Subjekt durch eine rationale Analyse erkannt und praktiziert und nicht aus Gewohnheit und Gehorsam, wie das z.B. im Konfuzianismus der Fall ist.

Das soziale Ganze und das Subjekt sind in diesem Stadium aber unlösbar miteinander verwoben, weil das Subjekt seinen individuellen Willen aufgibt und den allgemeinen Willen - Rousseaus volonté générale, der auf das Wohl des Ganzen ausgerichtet ist - zur Grundlage seines Handelns macht, während der Staat nur den Zweck erfüllt, die relative Freiheit des Subjekts zu garantieren.

Damit hat Hegel das liberalistische Staatskonzept des 18. Jahrhunderts überwunden, das der bürgerlichen Gesellschaft die Staatsmacht als eine äußerliche Einschränkung gegenüberstellt. Über das Subjekt als individualistisches Element dieser Gesellschaftsform, den Bourgeois, schreibt er:

Die konkrete Person, welche sich als besondere Zweck ist, als ein Ganzes von Bedürfnissen und Willkür, ist das eine Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft - aber die besondere Person als wesentlich in Beziehung auf andere solche Besonderheit, so dass jede durch die andere und zugleich schlechthin nur als durch die Form der Allgemeinheit, das andere Prinzip, vermittelt sich geltend macht und befriedigt.“

Mit anderen Worten:

In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen … Die Besonderheit, beschränkt durch die Allgemeinheit, ist allein das Maß, wodurch jede Besonderheit ihr Wohl befördert.
 
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Kleine Fußnote:
Bessere historiographische Quellen als de Maillas Übersetzung des Tongjian Gangmu standen Hegel sicher nicht zur Verfügung.

Ja, das ist sicherlich richtig. Zumal Franke ja Mailla bereits vorhält, den "korrekten" Charakter des Werks nicht richtig eingestuft zu haben. Da handelt es sich bei Hegel "nur" um einen Folgefehler.

Der Verdienst von Hegel, eine "Philosophie der Geschichte" vorgelegt zu haben, wird dadurch ja in keiner Weise eingeschränkt.

Und es wäre sicherlich lohnenswert, konstruktiv diese Elemente der Hegel`schen Sichtweise im Forum mal zu rekonstruieren und auf ihre Wirkungen hinsichtlich des europäischen Weltbildes zu betrachten.
 
Das Folgende soll den Unterschied des Hegelschen Denkens zum Konfuzianismus noch mehr verdeutlichen, weil er vielleicht noch nicht allen teilnehmenden Usern völlig klar ist.
Ich glaube, den Diskussionsteilnehmern ist der Unterschied auch ohne Deine Erläuterungen hinreichend klar.

Vielleicht könnte es sich lohnen, Dein eigenes Verständnis Hegelscher Texte auf eine solidere Grundlage zu stellen. (Ist nur so ein Verdacht von mir...)
 
Ich glaube, den Diskussionsteilnehmern ist der Unterschied auch ohne Deine Erläuterungen hinreichend klar.

Mir könnt ihr nichts vormachen. Eure ersten Reaktionen haben doch klar gezeigt, dass das zu diesem Zeitpunkt nicht der Fall war. Weder Tom noch Thane noch du zeigten auch nur im Ansatz eine Vertrautheit mit dem Geschichtsbild von Hegel, sonst hättet ihr ganz anders argumentiert.

Und das mit der "solideren Grundlage" ist nur eine gefühlsmäßige Stichelei, wie dein Zusatz "Ist nur so ein Verdacht von mir" ja beweist.
 
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Weder Tom noch Thane noch du zeigten auch nur im Ansatz, dass ihnen das Geschichtsbild von Hegel vertraut ist, sonst hättet ihr ganz anders argumentiert..

Sicherlich..... ;-) und es ist sogar richtig, dass ich nicht mit Hegel vertraut bin. Geht mir übrigens mit Marx auch so, auch mit Weber oder Durkheim und mit vielen anderen Theoretikern ebenfalls. Das liegt aber eher an dem Respekt, den ich ihm und den anderen entgegenbringe und lieber nichts schreibe als etwas zu schreiben, was eine Fehlinterpretation beispielsweise von Hegel wäre. Und gerade bei Hegel läuft man m.E. schnell Gefahr, falsche und oberflächliche Darstellungen zu leisten

Ansonsten:
1. Ich habe es bewußt vermieden, etwas zu Hegel zu sagen, weil das Thema zu komplex ist, um es am Rande abzuarbeiten. Die Quellenkritik war völlig ausreichend für das Thema.
2. Ich hatte auch keine Lust und keine Zeit, wieder einen ausgesprochen umfangreichen und sehr arbeitsintensiven Text zu Hegel zu schreiben. Zumal das Thema von Hegel eher am Ende seiner Tätigkeit systematisiert wurde, wenngleich eine Vielzahl von Aspekten bereits in früheren Werken angelegt worden sind.
3. Die Literaturliste aus #14 wäre ein Anhaltspunkt für meine Argumentation. Und ich schenke es mir, eigene "Ideen" auf Hegel zu projizieren und halte mich da eher an die Sichten von Taylor oder Honneth. Ergänzt durch:

Habermas, Jürgen (2016): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, bes. S. 34-58 "Hegels Begriff der Moderne"
Honneth, Axel (2018): Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). In: Manfred Brocker (Hg.): Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch. ,Frankfurt am Main: Suhrkamp , S. 403–418.

Daneben ist es wenig hilfreich, in einem Thread, die konfuzianistische Lehre und Hegel parallel zu diskutieren.

Und sollte sich doch noch eine halbwegs ernsthafte Diskussion entwickeln, werde ich gerne dazu was schreiben. Auch wenn Chan vermutet, dass eigentlich nur er wirklich kompetent etwas dazu sagen könne.

Mir könnt ihr nichts vormachen.
Kann schon sein. Manchmal reicht es auch schon, sich selber etwas vorzumachen.
 
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