Kalkriese als Ort der Varusschlacht zweifelhaft

Ich versuche gerade das Video auf FB nachzuschauen, es stockt leider ständig. Um Minute 19/20 refereriert Burmeister über eine Halsgeige, mit der der Träger der L. segmentata womöglich gefesselt war. Sie läge so, wie man erwarten würde, dass sie lag, wenn jemand gefesselt worden sei. Ob dazu müsse es erst weitere wissenschaftliche Untersuchungen geben.
Burmeister:

"Wenn sich das dann bewahrheiten lässt - und darauf deutet schon einiges hin. Wir fassen hier ein ein ganz individuelles Schicksal, eine persönliche Tragödie und das ist erstmalig. Das ist auch erstmalig auf unserem Fundplatz und auch auf vergleichbaren anderen Schlachtfeldern, die ich zumindest aus der Antike kenne. Wenn dieser Mensch gefesselt gewesen ist, dann müssen wir uns das im Grunde so vorstellen, dass wir hier einen römischen Legionär, der ganz offensichtlich - weil Tote fesselt man nicht - die Schlacht überlebt hat - nach der Schlacht von den siegreichen Germanen gefesselt wurde. Zumindest wäre das ein plausibles Szenario. Und dann letzten Endes doch sein Ende auf dem Oberesch - vielleicht in einer Grube, wir graben gerade, es deutet sich an, dass der Mann in einer Grube gelegen hat, mit seiner weiteren Ausstattung um ihn herum, dass er dann sein Ende gefunden hat."
Burmeister mdl. auf der heutige PK im Vortrag. Burmeister erwähnt zwar nicht ausdrücklich die scrobes bei Tacitus, die in einigen Übersetzungen als 'Martergruben' wiedergegeben werden, aber ich denke, dass er hier an die taciteische Überlieferung der Geschehnisse nach der Varusschlacht gedacht hat. Obgleich ich Verfechter der Varusschlacht bei Kalkriese-These bin, ist mir das für den Augenblick zu positivistisch. Natürlich können die Germanen nach der Schlacht einen Römer römische Fesseln angelegt haben, das ist sogar einigermaßen wahrscheinlich. Jedoch wissen wir das nicht. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass ein römischer Legionär, der wegen eines Vergehens vielleicht gefesselt gewesen war, im Falle einer Schlacht sicherlich seiner Fesseln entledigt worden wäre, um sich in sein Manipel einzureihen und für das gemeinsame Überleben zu kämpfen.
 
Salve,
gehört nicht ganz direkt zum Thema, gibt aber bestimmt genug interessierte hier:
Ab 23.10. läuft bei Netflix "Die Barbaren", eine Serie zur Zeit und über die Schlacht im Teutoburger Wald. So zumindest die Ankündigung einer Fernsehzeitschrift......
 
Hier noch einige weitere Informationen mit einem Link zu einem Video von der Homepage des Museums Kalkriese:

Fund Schienenpanzer | Forschung | Varusschlacht im Osnabrücker Land

Wenn ich das richtig verstehe, ist das der früheste Fund einer Lorica Segmentata. Der Vergleichsfund aus Corbridge (England) ist wesentlich jünger. Die Lorica Segmentata ist damals relativ neu in die römische Armee eingeführt worden.

Aber auch die erwähnte Halsgeige scheint ein relativ seltener Fund zu sein. Laut dem Artikel aus Spektrum von 2008 ist in Hedemünden wohl der erste Fund einer solchen gemacht worden:

Antike: Einzigartige römische Eisenfessel

(Leider ist keine Abbildung einer solchen im Artikel enthalten. Wenn man römischer Halsgeige googelt, findet man allerdings bei einer kommerziellen Seite eine solche als Rekonstruktion für knappe 100 Euro. Wie gut diese rekonstruiert wurde, kann ich nicht einschätzen.)

Selbst die Times berichtet über den Fund:

Oldest Roman body armour discovered in Germany | World | The Times
 
Interessant.

Wäre das die früheste nachgewiesene lorica segmentata? Als Nichtfachmann wähnte ich, dass die erst gegen Mitte des 1. Jh. aufgekommen seien. (Und der schnelle Check bei Wikipedia verweist auf Kalkriese - und das scheint da nicht in den letzten paar Tagen eingetragen worden zu sein.)

Wie kann man denn den Fund eines sehr modernen Rüstungstyps in Kalkriese interpretieren? Prototyp, billige Massenware, bei den alten Veteranen noch nicht durchgesetzt: Hochrangiger "early adopter"? Relativ frisch ausgehobener Jungspund? Truppentrageversuch an einer ruhigen Stelle des Reiches? Massenproduktionsbedarf auf Grund hoher Materialverluste - pannonischer Aufstand als Anlass für einen Modernisierungsschub im Ausrüstungswesen?

Zur Halsgeige: Hört sich technisch an. War das auf jeden Fall ein römisches Fesselungsgerät und nur ggf. in falschen Händen? Oder hatten auch die Germanens sowas standardmäßig in ihrem Justizinventar?

Ich hielte es grundsätzlich nicht für undenkbar, dass es ein Arrestant gewesen sein könnte. Ein Durchgeknallter, den keiner frei hinter sich wissen wollte - womöglich bewaffnet; oder man hat im Eifer des Gefechtes einfach vergessen, ihn los zu machen, oder der Schlüsselinhaber war, tot, weg, doof. Die üblichen Menschlichkeiten...

Nixdestoweniger ein spannender Fund.
 
Zuletzt bearbeitet:
(Leider ist keine Abbildung einer solchen im Artikel enthalten. Wenn man römischer Halsgeige googelt, findet man allerdings bei einer kommerziellen Seite eine solche als Rekonstruktion für knappe 100 Euro. Wie gut diese rekonstruiert wurde, kann ich nicht einschätzen.)
In dem von Wolfgang K. verlinkten Artikel vom NDR befindet sich eine Abbildung der noch unrestaurierten Kalkrieser Halsgeige:

kalkriese442_v-contentxl.jpg


Wie kann man denn den Fund eines sehr modernen Rüstungstyps in Kalkriese interpretieren? Prototyp, billige Massenware, bei den alten Veteranen noch nicht durchgesetzt: Hochrangiger "early adopter"? Relativ frisch ausgehobener Jungspund? Truppentrageversuch an einer ruhigen Stelle des Reiches? Massenproduktionsbedarf auf Grund hoher Materialverluste - pannonischer Aufstand als Anlass für einen Modernisierungsschub im Ausrüstungswesen?
Die L. segmentata wird ja eigentlich ab ca. 20 v. Chr. angesetzt, also zum Zeitpunkt der Varusschlacht schon 30 Jahre in Gebrauch. Man hat auch in K'riese bereits Einzelfunde von Loricae segmentatae gemacht.
 
Interessant.

Wäre das die früheste nachgewiesene lorica segmentata? Als Nichtfachmann wähnte ich, dass die erst gegen Mitte des 1. Jh. aufgekommen seien. (Und der schnelle Check bei Wikipedia verweist auf Kalkriese - und das scheint da nicht in den letzten paar Tagen eingetragen worden zu sein.)

Wie kann man denn den Fund eines sehr modernen Rüstungstyps in Kalkriese interpretieren? Prototyp, billige Massenware, bei den alten Veteranen noch nicht durchgesetzt: Hochrangiger "early adopter"? Relativ frisch ausgehobener Jungspund? Truppentrageversuch an einer ruhigen Stelle des Reiches? Massenproduktionsbedarf auf Grund hoher Materialverluste - pannonischer Aufstand als Anlass für einen Modernisierungsschub im Ausrüstungswesen?

Zur Halsgeige: Hört sich technisch an. War das auf jeden Fall ein römisches Fesselungsgerät und nur ggf. in falschen Händen? Oder hatten auch die Germanens sowas standardmäßig in ihrem Justizinventar?

Ich hielte es grundsätzlich nicht für undenkbar, dass es ein Arrestant gewesen sein könnte. Ein Durchgeknallter, den keiner frei hinter sich wissen wollte - womöglich bewaffnet; oder man hat im Eifer des Gefechtes einfach vergessen, ihn los zu machen, oder der Schlüsselinhaber war, tot, weg, doof. Die üblichen Menschlichkeiten...

Nixdestoweniger ein spannender Fund.

Zum Erstbeleg der Lorica Segmentata habe ich noch dieses gefunden:



Der Schienenpanzer ist eben kein Argument für eine Neuausrüstung nach der Varusniederlage.
Die ältesten Funde solcher Rüstungen sind aus Dangstetten, dieses Lager war von 15 v. Chr. bis 9 v. Chr. belegt.
Vermutlich liegen noch etliche Stücke unbeachtet, weil als Blechstück unklarer Nutzung aussortiert, in den archäologischen Depots.

Aber der neue Kalkriese-Fund ist wohl der früheste vollständige Lorica Segmentata.


In dem von Wolfgang K. verlinkten Artikel vom NDR befindet sich eine Abbildung der noch unrestaurierten Kalkrieser Halsgeige:

kalkriese442_v-contentxl.jpg


Die Abbildung habe ich auch gesehen, nur als Laie kann ich mir anhand dessen nicht so richtig vorstellen, wie so ein Gerät neu aussehen würde.
 
Die Abbildung habe ich auch gesehen, nur als Laie kann ich mir anhand dessen nicht so richtig vorstellen, wie so ein Gerät neu aussehen würde.
Also du hast einen Halsring, der wird um den Hals gelegt und die Hände gibst du in die Handfesseln, zwischen Handfesseln und Halsring befindet sich eine feste Verbindung, so, dass du die Hände etwa in Halshöhe vor dir hertragen musst, also keine Bewegungsfreiheit mit den Armen hast.
 
Der Fund des Schienenpanzers und seine Bergung en bloc sind wieder einmal an bedeutender Fund. Die dreidimensionale Befunddokumentation ermöglicht inhaltliche Aussagen.
Kalkriese wäre ein Ort wo römisches Militär auf dem Feldzug und germanischer Opferkult verbunden sein könnten.
 
Kalkriese wäre ein Ort wo römisches Militär auf dem Feldzug und germanischer Opferkult verbunden sein könnten.
Das entspräche in etwa der These, die Carnap-Bornheim vor ca. 20 Jahren publiziert hat (Archäologisch-historische Überlegungen zum Fundplatz Kalkrieser-Niewedder Senke in den Jahren zwischen 9 und 15 n. Chr. In: W. Schlüter/R. Wiegels (Hrsg.), Rom, Germanien und die Ausgrabungen von Kalkriese. Internationaler Kongreß 2.-5. September 1996 Osnabrück. Osnabrücker Forsch. Altert. u. Antik.-Rezeption 1 (Osnabrück 1999) 495-508.).
 
Die Erkenntnisse sind noch etwas mager. Es wurde eine eiserne Gürtelschnalle gefunden, aber wo ist das untere Teil des Panzers? Und warum hatten die Oxidationsprodukte der bronzenen Verschlussteile keinen konservierenden Einfluss auf Knochen, wie die Bronzeglocke auf das Maultierskelett? Wurde das umgebende Erdreich auf Phosphate untersucht? Rein theoretisch könnte hier auch wenig begehrter Eisenschrott in eine Grube gelangt sein.
 
Es ist eine in situ Bergung, en bloc, mit dreidimensionaler Befunddokumentation. So etwas ist nicht "etwas mager".
"Wenig begehrter Eisenschrott" ist ein Widerspruch in sich selbst. Du meinst da hätte man einen Osnabrücker Trecker versenkt?
 
Die Bergung war, ganz im Gegensatz zu Nebra, vorbildlich. Aber daraus gleich einen gefangenen Legionär in einer (Marter-)Grube ableiten zu wollen, ist wohl reichlich verfrüht.
 
Klar. Aber Kalkriese ist a) ein römisches Schlachtfeld b) in situ c) mit Gesichtshelm d) mit Schienenpanzer e) mit Halsgeige f) mit einer sehr hohen Anzahl an gefundenen Münzen.
Wenn jetzt noch Bodenverfärbungen, Gräben hinzukommen werden einige sagen c) bis f) seien von niedersächsischen Dachsen dort vergraben worden.
 
Da können die Sachsen-Anhaltiner Archäologen allerdings nichts für. Wir erinnern uns, da waren Raubgräber am Werk!
Nicht unbedingt. Bei einem so einmaligem Fund, der schließlich mit 100 Mio versichert wurde, hat man nur unter der behaupteten Lage der Objekte jeweils eine Bodenprobe genommen, um Kupfersalze nachzuweisen. Dort hätte aber ein enges Messraster, wenn nicht gar eine Blockbergung hin gehört. Der Regen wäscht die Korrosionsprodukte in tiefere Schichten, welche die Raubgräber nicht erreichten. Die Analysemethoden werden immer aussagefähiger, so dass auch nach Jahren noch neue Erkenntnisse möglich wären.
 
Ich fand noch den Link in Archäologie online:
Römischer Schienenpanzer in Kalkriese entdeckt

Ich finde die Details phänomenal. Es handelt sich um einen zum großen Teil erhaltenen Panzer, nicht um einzelne Teile.

Und etwas anderes zeichnet Kalkriese aus: das was wir dort finden war an diesem Ort, zu einer Zeit. Sicher, es ist nicht Pompeji, aber es ist ein singuläres Ereignis in einem bedeutenden Ereignishorizont. Mich begeistert das immer deutlicher werdende Bild einer wirtschaftlichen und militärischen Expansion Roms, das wir in all den Funden der letzten Jahrzehnte immer klarer sehen.
 
Eine kleine Chance bietet sich an den bronzenen Verschlußteilen. Während die Oberfläche der Eisenteile zu tief korrodiert ist, währen Ritzungen auf der Bronze noch gut erkennbar. Aber die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass Eigentümer und Legionsnummer in diese kleinen Teile geritzt wurden.
 
Aber auch die erwähnte Halsgeige scheint ein relativ seltener Fund zu sein. Laut dem Artikel aus Spektrum von 2008 ist in Hedemünden wohl der erste Fund einer solchen gemacht worden:

Antike: Einzigartige römische Eisenfessel

(Leider ist keine Abbildung einer solchen im Artikel enthalten.

Aus dem Artikel der Zeitung Spektrum:

Die eiserne Fessel wird als catena bezeichnet. Ein eigentlich simpler Gegenstand aus zwei Teilen. Eine gerade Eisenstange. Dazu eine Eisenstange mit einem großen Halbkreis an einem Ende und in der Mitte und dem anderen Ende zwei kleinere Halbkreise. Die beiden Eisenstangen konnten miteinander verbunden werden. Die beiden Teile umschlossen beide Seiten des Halses beziehungsweise die beiden Handgelenke. Der so gefesselte konnte also entweder mit beiden Händen vorm Gesicht wegrennen oder man musste beide Hände auf eine Seite des Halses in Halshöhe halten. Auf jeden Fall war man mit dieser Fesselung ziemich hilflos.

Es ist für mich eines der Höhepunkte der bisherigen Funden in Kalkriese. Und wenn nun noch - wie bei der Dolabra in Harzhorn mit einer Punzierung der LEG IIII - eine Legion auf dem Schienenpanzer vermerkt sein sollte, dann ist es für Römerfans schon eine Art Weihnachten.
 
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