Es gibt keine Wahrheit, keine Wirklichkeit in der Geschichte?

H

hansX

Gast
Hilfe!

ich hab gerade eine Einführungsvorlesung in Geschichte besucht und dort wird ganz stark betont, daß man prinzipiell nicht sagen kann, so war der wahre Ablauf, das oder jenes wäre die historische Wahrheit. So jedenfalls verstehe ich das was sie dort vortragen. Alle Beobachter, alle Historiker auch seien Subjekte und daher sei auch alles subjektiv was sie sagen oder denken, eine objektive Aussage über ein Geschehnis sei prinzipiell nicht möglich.

Ich kann das nicht mehr hören weil das dermaßen überbetont wird.

Es hat ja doch einen einzigen, objektiven, tatsächlichen Ablauf aller Ereignisse gegeben, auch wenn ihn nachträgliche Beobachter vielleicht nicht bis ins letzte Detail rekonstruieren können. Aber die Verteufeln ja schon das Wort rekonstruieren, weil rekonstruieren angeblich nicht möglich wäre. Positivismus ist ein weiteres abfälliges Wort in diesem Zusammenhang.

Aber es gibt doch eine objektive Wahrheit, es gibt sie, es gibt sie, ich kann nicht anders amen.
 
Du bist mit dem Dekonstruktivismus konfrontiert worden. Ich gebe zu, dass ich mich auch immer schwer damit getan habe, ihn auf das konkrete historische Beispiel anzuwenden, aber grundsätzlich ist das durchaus eine Sichtweise, die du verinnerlichen solltest, auch wenn es dir schwer fällt. WEIL: Geschichte wird uns nicht neutral überliefert (außer vielleicht in Form eines Kassenzettels) sondern durch Historiographen. Geschichte und Vergangenheit sind nicht identisch.
Jetzt nimm einmal zwei Augenzeugen und sie werden dir zwei verschiedene Versionen desselben Ereignisses erzählen, ohne, dass deswegen einer die Unwahrheit spricht. Es gibt da einen schönen amerikanischen (und deshalb natürlich auch pathetisch-patriotischen) Film über einen Terroranschlag auf den amerikanischen Präsidenten in Madrid (fiktiv), mit Dennis Quaid als Personenschützer in der Hauptrolle - wenn man das denn überhaupt so sagen kann, denn der Terroranschlag wird aus - wenn ich mich richtig erinnere, sieben verschiedenen Perspektiven erzählt, und zwar nacheinander, bevor die Stränge wieder zusammengeführt werden. Nach jeder Variante hast du ein anderes, teils widersprüchliches Bild des Anschlags.
Dekonstruktivismus ist nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit.
Gibt es eine objektive Wahrheit? Bestimmt, da bin ich mir ähnlich sicher, wie du. Aber dieser Wahrheit können wir uns nur subjektiv nähern und die (inter)subjektive Sicht des Historikers wird noch durch die subjektive Brille der Überlieferer verzerrt. Also, wenn wir nicht gerade den Kassenzettel als Quelle vorliegen haben - und auch der ist eben nur ein Ausschnitt -, müssen wir einfach akzeptieren, dass wir immer nur einen Ausschnitt der Geschichte sehen, der bereits einer Perspektive oder Vorauswahl, die wir nachträglich nicht mehr ändern können, unterliegt.

Intersubjektivität stelle ich mir bildlich immer wie eine Asymptote vor, wobei die Y-Achse für Subjektivität, die X-Achse für Objektivität steht und die Funktion ist so, dass sich der Graph zwar immer weiter der Y-Achse annähert, aber diese auch in der Unenedlichkeit nicht erreicht und schneidet.
 
Danke, wunderbar.

Dieses Bild mit der asymptotischen Annäherung an die X-Achse, ohne sie erreichen zu können, gefällt mir sehr sehr gut. Denn damit ist ja gesagt, daß es sie gibt, die X-Achse, also ja die, die, die Wahrheit, der wir uns allerdings nur (beliebig genau) annähern können, damit kann ich gut leben.
Bei denen ist übrigens Falsifizierung das Zauberwort, aber andererseits, falsifizieren kann man wenn man unbedingt will sogut wie alles (sag ich jetzt als Laie), denn jede historische These ist natürlich eine Abstraktion die nicht jeden Huster mit einschließen kann den ein historisches Subjekt getätigt hat.
 
Jetzt nimm einmal zwei Augenzeugen und sie werden dir zwei verschiedene Versionen desselben Ereignisses erzählen, ohne, dass deswegen einer die Unwahrheit spricht.
Hierfür gibt es ein sehr anschauliches Beispiel, das in der Physik gern im Zusammenhang mit dem Welle-Teilchen-Dualismus genannt wird.

Zwei Beobachter in unterschiedlichem Blickwinkel beschreiben ein und das selbe Objekt. Beobachter A versichert, er habe eine kreisförmige Scheibe gesehen, während Beobachter B Stein und Bein schwört, das Objekt sei rechteckig gewesen.

Preisfrage: Was könnten die beiden Beobachter "in Wahrheit" gesehen haben?
 
Zuletzt bearbeitet:
Ein runder Stein auf einem rechteckigem steinernem Bein, der eine sieht's halt von oben ...
sorry, bin heute schon zu müde ..
 
Es gibt da das schöne Buch von Meier und Patzold ("August 410 - Ein Kampf um Rom").
Es geht um die Eroberung Roms durch Alarich und seine Goten. Zeitgenössische Quellen dazu gibt es praktisch keine, viel mehr als die Tatsache an sich kennen wir nicht.
Die Autoren zeigen nun sehr schön auf, wie dieses Ereignis in verschiedensten Texten beschrieben, ja benutzt wird und was sich daraus entwickelt. Von Claudian über Hieronymus, Jordanes, Otto von Freising (um nur einige zu nennen) bis zu Herwig Wolfram und Michael Kulikowski.
Alarich als römische Militär, als Sinnbild des Barbaren, als erster Deutscher, als göttliche Plage usw. - großartig.
 
Für mich gibt es mehrere Wahrheiten.

Darunter fällt die historische Wahrheit und die richtige Wahrheit.

Die historische Wahrheit können wir mit Quellen rekonstruieren, aber wir werden die Wahrheit als solche nie erfahren.

Wie meinte Peter SCholl Latour.

"Objektivität ist eine Lüge. Ich beschreibe die Wirklichkeit, die Wahrheit ist bei Gott".

Peter Scholl Latour mein Leben interview.
 
Ein runder Stein auf einem rechteckigem steinernem Bein, der eine sieht's halt von oben ...
sorry, bin heute schon zu müde ..
Na dann, hier ist die Auflösung (der Witz daran ist, dass beiden Beobachtern aufgrund ihres speziellen Blickwinkels eine höhere (d.h. hier die 3.) Dimension nicht offenbar wird.):

dualit01.jpg dualit02.jpg
 
Bei denen ist übrigens Falsifizierung das Zauberwort, aber andererseits, falsifizieren kann man wenn man unbedingt will sogut wie alles (sag ich jetzt als Laie), denn jede historische These ist natürlich eine Abstraktion die nicht jeden Huster mit einschließen kann den ein historisches Subjekt getätigt hat.
Ich denke, da hast du was falsch verstanden.
Das hat nichts mehr mit Geschichte im Speziellen, sondern viel mehr mit Wissenschaftstheorie an sich zu tun. Seit Karl Popper muss eine Hypothese grundsätzlich immer falsifizierbar sein. (Praktisch wird das in deinem Studium aber eher selten eine Rolle spielen.)
 
Wie schön, dass es zu dem Thema seit Popper nahezu keine weitere Diskussion gab. Immerhin gab es von Koselleck, W. Mommsen und Rüsen den Reader "Objektivität und Parteilichkeit" von 1977.

Dass ich versucht habe, den Stand der Theorie der historischen Erklärung mal systematisch darzustellen, ist vermutlich schon Grund genug, es zu ignorieren. Wäre interessant zu wissen, was D. Gerber zu der "Diskussion" sagen würde. Vermutlich würde sie es aber nicht verstehen, dass es eine so gering ausgeprägte Bereitschaft gibt, sich kritisch mit "historischem Erklären" auseinander zu setzen.

Es wurde außerdem häufig genug auf den "Klassiker" von Novick, "That noble dream" hingewiesen. Aber man sich alternativ natürlich weiterhin über die Perspektive auf Steine austauschen kann. Naja, ist ja auch eine Form von "empirischem Zugang".

Und natürlich gibt es "Wahrheit" in den Narrativen über vergangene Ereignisse. Und genauso wie es wahrheitsfähige Aussagen gibt zu einem historischen Vorgang, gibt es auch nicht konkruente, andere wahrheitsfähige Aussagen. Die Alternativen sind aber nicht beliebig, sondern basieren natürlich auf einer Vielzahl von Aspekten und der letzte zentrale Punkt ist der kritische Diskurs der Fachwissenschaft und ein temporärer Konsens.
 
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Na dann, hier ist die Auflösung (der Witz daran ist, dass beiden Beobachtern aufgrund ihres speziellen Blickwinkels eine höhere (d.h. hier die 3.) Dimension nicht offenbar wird.):

Anhang anzeigen 19795 Anhang anzeigen 19796


also ehrlich gesagt, wer in einer realen Situation eine Konservendose für einen rechteckigen Gegenstand hält hat ein Problem ..

Sorry, wie gesagt, bin heute schon etwas müde ..

aber noch etwas: In der Einführungsvorlesung wurde auch kurz die Technik des 'Close Reading' erwähnt, also eine Text bis ins kleinste Detail zu analysieren.

natürlich, laut deren Meinung:
"Aber: Es [Close Reading, Anm.] enthüllt nicht die „wahre“ Bedeutung des Textes -> „Was will der Autor uns damit wirklich sagen?“ ist keine relevante Fragestellung!"

auf die Frage warum wurde geantwortet: Weil dies der Autor [womöglich] selbst nicht weiß!


Irgendwie würde es mich aber reizen, den vorhergehenden Post einem "Close Reading" zu unterziehen, also diesen Text:

"..

Zitat von El Quijote: ↑

Jetzt nimm einmal zwei Augenzeugen und sie werden dir zwei verschiedene Versionen desselben Ereignisses erzählen, ohne, dass deswegen einer die Unwahrheit spricht.

Hierfür gibt es ein sehr anschauliches Beispiel, das in der Physik gern im Zusammenhang mit dem Welle-Teilchen-Dualismus genannt wird.

Zwei Beobachter in unterschiedlichem Blickwinkel beschreiben ein und das selbe Objekt. Beobachter A versichert, er habe eine kreisförmige Scheibe gesehen, während Beobachter B Stein und Bein schwört, das Objekt sei rechteckig gewesen.

Preisfrage: Was könnten die beiden Beobachter "in Wahrheit" gesehen haben? "


Soll / kann ich das machen (in den nächsten Tagen) oder soll ich das lieber lassen?

LG
 
Wie schön, dass es zu dem Thema seit Popper nahezu keine weitere Diskussion gab. Immerhin gab es von Koselleck, W. Mommsen und Rüsen den Reader "Objektivität und Parteilichkeit" von 1977.

Dass ich versucht habe, den Stand der Theorie der historischen Erklärung mal systematisch darzustellen, ist vermutlich schon Grund genug, es zu ignorieren. Wäre interessant zu wissen, was D. Gerber zu der "Diskussion" sagen würde. Vermutlich würde sie es aber nicht verstehen, dass es eine so gering ausgeprägte Bereitschaft gibt, sich kritisch mit "historischem Erklären" auseinander zu setzen.

Es wurde außerdem häufig genug auf den "Klassiker" von Novick, "That noble dream" hingewiesen. Aber man sich alternativ natürlich weiterhin über die Perspektive auf Steine austauschen kann. Naja, ist ja auch eine Form von "empirischem Zugang".

Und natürlich gibt es "Wahrheit" in den Narrativen über vergangene Ereignisse. Und genauso wie es wahrheitsfähige Aussagen gibt zu einem historischen Vorgang, gibt es auch nicht konkruente, andere wahrheitsfähige Aussagen. Die Alternativen sind aber nicht beliebig, sondern basieren natürlich auf einer Vielzahl von Aspekten und der letzte zentrale Punkt ist der kritische Diskurs der Fachwissenschaft und ein temporärer Konsens.

Aber Koselleck baut doch auf Popper auf, er widerspricht ihm doch nicht, sondern überträgt diesen auf die Belange der Geschichtswissenschaft.
 
Es geht doch gar nicht alleine um die Frage, ob er widerspricht, sondern wie die Logik - die Intention - von historischen Akteuren individuell oder kollektiv rekonstruiert wird. An diesem Punkt entscheidet sich die Frage, ob die historischen Fakten bzw. Belege das Verhalten der Akteure "bestätigen" kann oder nicht.

Im Prinzip kann man es mit Gardiner (The Nature of Historical Explanation, S. 139)zusammenfassen:
"We do explain human actions in terms of reaction to environment. But we also explain human actions in terms of thoughts, desires, and plan. We may believe that it is in principle possible to give a full causal explanation of why people think, desire, plan the things they do in terms of their past experience or training, or perhaps in terms of the workings of their Bodies."

Am ausführlichsten wurde es - m.E. - in diesem Forum an dem Beispiel von Hitler diskutiert, indem die Sozialisation und seine politische Sozialisation als Interaktion zwischen der Person und seiner Umgebung begriffen und als "Narrativ" ausformuliert wurde. Und als "kausale Voraussetzung" für sein späteres Handeln begriffen wird.

Und genau das ist das Problem, dass die Historiographie "Sinn" in die Abfolge von Ereignissen als "roten Faden" bringen muss. Die Art des "Weben" dieses "roten Fadens" entscheidet darüber, ob es letztlich als "wahr" wahrgenommen wird, oder als "falsch".

Und das erklärt ja auch die Heftigkeit der Diskussionen, da retrospektiv das Verständnis der historischen Ereignisse geprägt werden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Na dann, hier ist die Auflösung (der Witz daran ist, dass beiden Beobachtern aufgrund ihres speziellen Blickwinkels eine höhere (d.h. hier die 3.) Dimension nicht offenbar wird.):

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Der im 1. Posting (wo die Frage stand) verwendete Terminus :


'während Beobachter B Stein und Bein schwört, das Objekt sei rechteckig '


sticht hervor und wäre bei einem Close Reading sicherlich Gegenstand intensivster Diskussion. Warum steht denn hier nicht einfach : 'während B der Auffassung ist ..'


Es liegt die Vermutung nahe, daß der Autor damit, ohne es zu wollen, einen gewissen Hinweis auf die Auflösung des Rätsels gibt, da er das gesuchte Bild beim Schreiben ja vor seinem inneren Auge hat und daran denkt.

Daher habe ich bei meiner Antwort auf Stein und Bein Bezug genommen und tatsächlich, das linke Bild sieht irgendwie aus wie ein Stein und ein Bein.

Das mag jetzt intersubjektiv nachvollziehbar sein oder auch nicht, für mich ist es aber so.

Aber natürlich, irgendwelche Mutmaßungen über Geschlecht, Nationalität, Alter, Beruf etc. des Autors könnte man aufgrund des Texts und des Nicknames zwar tätigen, aber man kann natürlich nicht sagen das wäre dann die Wahrheit. Das ist halt die Wahrheit wie man sie sich vorstellt ..
 
Werter Gast hansX. Wenn du weiter im Forum mitdiskutieren möchtest, dann melde dich bitte bei uns an. Der Beitrag #14 ist der letzte den wir freigeschaltet haben. Danke schön.
 
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