Städte, Stadtrecht und Stadtmauer im Mittelalter

F

Florian

Gast
Wie viele Städte gab es im Mittelalter und wie viele Einwohner hatten sie? Wer verlieh das Stadtrecht und hing die Vergabe vom Bau oder der Existenz einer Stadtmauer ab?
 
Das ist nichts, was sich so einfach beantworten lässt.
Zunächst einmal sind ja schon aus der römischen Antike verschiedene Siedlungsbegriffe ins Mittelalter tradiert worden, wie civitas, municipium, oppidum, vicus, burgus etc. Im FMA verstand man unter einer civitas eine mauerbewehrte Stadt mit einem Bischofssitz als Zentralverwaltung. Obwohl das lateinische Wort burgus eher eine kleine Befestigungsanlage meinte - es kommt etymologisch von germanisch bergen (verbergen, beherbergen etc.) , verstanden die Germanen unter Burg eher etwas größeres. So kann man im Heliand von Rûmuburg, Bethlemaburg, Nazarethburg lesen, und das römische Argentorate wurde zu Straßburg, castra Regina zu Regensburg, Augusta Vindelicorum zu Augsburg etc.

Mauern waren also wichtig, ebenso das Marktrecht. Aber das kann man eben über das Mittelalter nicht generalisieren. Siedlungen wurden gegründet, wuchsen, bekamen das Stapel- oder Marktrecht, bekamen das recht auf eine Selbstverwaltung (erst dann sprechen wir eigentllich von Stadt) und bauten Mauern. In England gab es aber auch Orte, welche als cities zu fassen sind und keine Mauern hatten (vgl. Bärbel Brodt, Städte ohne Mauern).
Eine "Stadt" hatte das Streben nach Reichsunmittelbarkeit, also nur dem Kaiser Steuern zahlen zu müssen, musste aber dazu aus seiner Abhängigkeit von den Fürsten und Klöstern kommen. Das ging z.B. dadurch, dass die Kaufmannschaft (die wiederum einen Markt voraussetzte) sich peu a peu Privilegien erkaufte. Sprich: Der Herzog brauchte Geld, um den König beim Krieg zu unterstützen, die Kaufmannschaft gab ihm das Geld und erhielt dafür, weil der Herzog das Geld niemals zurückzahlen konnte z.B. das Recht auf Selbstverwaltung, eine Mauer zu bauen etc. Oder der Bischof wollte seinem Dom ein neues Schiff hinzufügen, also trat er als Stadtherr Rechte an die Kaufmannschaft ab.
 
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Anders als heute, wo wir Siedlungen nach ihrer Einwohnerzahl bemessen, ob sie eine Stadt zu nennen sind, spielte das im MA keine Rolle. In der Praxis waren zwar große Siedlungen über kurz oder lang Städte und natürlich bedurfte es einer gewissen Infrastruktur und Bevölkerungsdiversität, um eine Stadt überhaupt bilden zu können, aber es ab keine definiere Anzahl von Bewohnern, und einen Automatismus: Jetzt sind wir Stadt.
 
Wie viele Städte gab es im Mittelalter und wie viele Einwohner hatten sie?
Kommt darauf an, wann und wo...
(Die größte Stadt um 1100 war wohl Kaifeng mit über einer Million Einwohnern.)

"Diese Welle der Stadtgründungen und der rechtliche und wirtschaftliche Ausbau der Städte im Heiligen Römischen Reich in der staufischen und nachstaufischen Zeit führte dazu, dass es um 1300 in Deutschland rund 4 000 Städte gab, von denen etwa 50 als große Städte, also Städte mit mehr als 5 000 Einwohnern, zu gelten haben. Dennoch lebte mit etwa 90 Prozent der größte Teil der Bevölkerung auf dem Land."

Die Stadt im 13. Jahrhundert Auf dem Weg zur Selbständigkeit - wissenschaft.de
 
Anders als heute, wo wir Siedlungen nach ihrer Einwohnerzahl bemessen, ob sie eine Stadt zu nennen sind, spielte das im MA keine Rolle. In der Praxis waren zwar große Siedlungen über kurz oder lang Städte und natürlich bedurfte es einer gewissen Infrastruktur und Bevölkerungsdiversität, um eine Stadt überhaupt bilden zu können, aber es ab keine definiere Anzahl von Bewohnern, und einen Automatismus: Jetzt sind wir Stadt.

Ist ja ähnlich wie bei den (frühen) Universitäten, wo die Erhebung zur Universität durch verschiedene Autoritäten erfolgte und es keine festen, allseits gültigen Kriterien für die Vergabe des Status gab.
 
"Diese Welle der Stadtgründungen und der rechtliche und wirtschaftliche Ausbau der Städte im Heiligen Römischen Reich in der staufischen und nachstaufischen Zeit führte dazu, dass es um 1300 in Deutschland rund 4 000 Städte gab, von denen etwa 50 als große Städte, also Städte mit mehr als 5 000 Einwohnern, zu gelten haben. Dennoch lebte mit etwa 90 Prozent der größte Teil der Bevölkerung auf dem Land."

Die Stadt im 13. Jahrhundert Auf dem Weg zur Selbständigkeit - wissenschaft.de

Die Zahl von 4000 erscheint aber sehr hoch gegriffen. Selbst wenn die Städte im Durchschnitt nur 1000 Einwohner gehabt hätten, wären das 4 Mio. Stadtbewohner. Bei dem besagten Anteil von 10 % Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung, hätte diese bei 40 Mio. Menschen um 1300 gelegen.
 
Selbst wenn die Städte im Durchschnitt nur 1000 Einwohner gehabt hätten, wären das 4 Mio. Stadtbewohner.
Der Durchschnitt dürfte erheblich unter 1000 Einwohnern gelegen haben. Die "Heimatstadt" meiner Oma hat heute etwa 1.000 Einwohner. Sie erhielt vermutlich 1322 Stadtrecht. Anhand der 2 erhaltenen Türme und Mauerresten kann man wohl von etwa 200-300 Einwohnern im Spätmittelalter ausgehen. Mir sind in unserer Region viele dieser "Ministädte" bekannt.
Bei der Gesamtbevölkerung sollte man berücksichtigen, dass nicht nur das heutige Deutschland zum HRR gehörte. Norditalien und der Teile der Niederlande/Belgien hatten eine große und ausgeprägte Stadtkultur.
 
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Anhand der 2 erhaltenen Türme und Mauerresten kann man wohl von etwa 200-300 Einwohnern im Spätmittelalter ausgehen. Mir sind in unserer Region viele dieser "Ministädte" bekannt.
Wobei man nicht von heutiger Raumnutzung ausgehen darf. Es ist ja so, dass selbst in den letzten 20 Jahren die Anzahl von Wohnraumquadratmeter/Person erheblich angestiegen ist. Ein Trend, der so in etwa vor 200 Jahren begonnen haben dürfte und sich vor allem seit dem WKII verstetigt hat.
 
Wobei man nicht von heutiger Raumnutzung ausgehen darf. Es ist ja so, dass selbst in den letzten 20 Jahren die Anzahl von Wohnraumquadratmeter/Person erheblich angestiegen ist.
Bei reinem Wohnraum steht das außer Frage. Bei einem Ackerbürgerstädtchen waren aber häufig auch Ställe für das Vieh und Scheunen für Feldfrüchte innerhalb der Stadtmauern - und das senkt die Fläche innerhalb einer Stadt, die als Wohnraum zur Verfügung stand.
 
Der Durchschnitt dürfte erheblich unter 1000 Einwohnern gelegen haben. Die "Heimatstatdt" meiner Oma hat heute etwa 1.000 Einwohner. Sie erhielt vermutlich 1322 Stadtrecht. Anhand der 2 erhaltenen Türme und Mauerresten kann man wohl von etwa 200-300 Einwohnern im Spätmittelalter ausgehen. Mir sind in unserer Region viele dieser "Ministädte" bekannt.

Aber selbst wenn die Durchschnittsgröße der "Städte" nur bei 500 Einwohnern gelegen hätte, hätte "Deutschland" (so die zitierte Quelle, nicht das ganze HRR) nach der obigen Rechnung um 1300 bereits 20 Mio. Einwohner gehabt. Die gängige Schätzungen, die ich kenne, gehen aber von lediglich 15 Mio. am Vorabend des Dreißigjährigen Krieg aus (1614).

Konnten sich solche Zwergstädte denn überhaupt eine gemauerte Umwallung leisten oder beschränkte sich ihr Stadtrecht auf die Ausübung des Marktrechts und einer eigenen Gerichtsbarkeit? 4000 (!!!) deutsche Städte um 1300, die mit Mauern umgeben waren, erscheinen mir doch sehr viel.
 
Wie stellst Du Dir eine Stadtmauer vor? Mit 2 m dicken Mauern und 6 m hoch?
Es waren zum Teil auch einfach nur Palisaden. Hier in der nähe war eine Ackerbürgerstadt. Die Befestigung war mit in der Landesburg der Kurfürsten integriert. Also wohl auch vom Stadtherren mit finanziert.
 
Wie stellst Du Dir eine Stadtmauer vor? Mit 2 m dicken Mauern und 6 m hoch?
Es waren zum Teil auch einfach nur Palisaden. Hier in der nähe war eine Ackerbürgerstadt. Die Befestigung war mit in der Landesburg der Kurfürsten integriert. Also wohl auch vom Stadtherren mit finanziert.

Es heißt, jede Städt hätte eine Stadtmauer gehabt, weil der Bau einer Stadtmauer zum eigenen Schutz immer einer der Stadtrechte gewesen ist. Sollte das zutreffen, wäre jede Stadtmauer aus Naturstein oder Ziegelstein gebaut gewesen, da "Mauer" (lat. von murus) semantisch nur Mauerwerk bedeuten kann und keine Palisaden oder Erdwälle. Dann müßte es um 1300 tatsächlich 4000 Städte mit gemauerten Stadtmauern gegeben haben, aber wo ist der archäologische oder sonstige Beweis dafür, das frage ich mich.
 
Das ist nicht ganz korrekt. Auch wenn das Wort semantisch eine Eingrenzung erfahren hat, so ist der lateinische Begriff offener und kann auch palisadenbewehrte Wälle umfassen. Die Frage wäre nun, wie mittelalterliche Autoren den Begriff verstanden: klassisch oder volkssprachl.?
 
Es gab auch noch das Konzept des "Fleckens", damals wohl lat. burgus, franz. bourg, ital. borgo bezeichnet, Orte mit Marktrecht aber keinen weiteren Privilegien (außer vielleicht Reichsunmittelbarkeit).
Entscheidend war, welche Privilegien ein Ort bekam, z.B. Münzrecht, Stapelrecht. Wenn die gewährten Privilegien dazu führten, Kaufleute und Handwerker in den Ort zu locken, die dann dort sesshaft wurden, war die Grundlage für die Entwicklung zur Stadt gegeben. Das Befestigungsrecht und Marktrecht alleine war es jedenfalls nicht.

Ich frage mich gerade, ob es Urkunden, in denen ein allumfassendes Stadtrecht im Sinne von "Hiermit erteile ich dieser Siedlung das Stadtrecht...", überhaupt gab, oder welche Kombination von Privilegien allenfalls dann automatisch als solches aufgefasst wurde.

Zu Flecken siehe auch:Flecken
 
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Für eine Liste der größten Städte in Europa seit 800 immer noch grundlegend ist so viel ich weiß:
"La Population Des Villes Europeennes" (Bairoch, Batou, Chevre 1988).

Die Original-Daten können (als csv, das dann in Excel importiert werden kann) heruntergeladen werden unter:
JakeRuss/bairoch-1988
Für Deutschland im Jahr 1300 sind da gut 80 Städte aufgeführt.
Weiß nicht, ob es mittlerweile eine erweiterte oder korrigierte Liste gibt.
 
Das ist nicht ganz korrekt. Auch wenn das Wort semantisch eine Eingrenzung erfahren hat, so ist der lateinische Begriff offener und kann auch palisadenbewehrte Wälle umfassen. Die Frage wäre nun, wie mittelalterliche Autoren den Begriff verstanden: klassisch oder volkssprachl.?

Die lateinische Wikipedia definiert murus ausschließlich als Mauerwerk: "murus est lapideus ambitus circa urbem" (Murus - Vicipaedia ), der Pons allerdings auch als Erdwall (murus - Latein-Deutsch Übersetzung | PONS ).
 
Es gab auch noch das Konzept des "Fleckens", damals wohl lat. burgus, franz. bourg, ital. borgo bezeichnet, Orte mit Marktrecht aber keinen weiteren Privilegien (außer vielleicht Reichsunmittelbarkeit).

Das städtische "Stapelrecht" halte ich für kein Recht, sondern eine unverfrorene Art der Selbstbereicherung. Aus welcher Begründung heraus kann man durchziehende Händler zwingen, ihre Waren anzubieten? Würde mich nicht wundern, wenn es als Handelshemmnis von weitschauenden Landesfürsten wieder kassiert wurde.
 
Das Stapelrecht war natürlich ein Recht auf Seiten dessen, der das Recht stapeln zu lassen hatte. Es war aber nicht unbedingt zu Lasten der Händler, sondern ging vielmehr zu Lasten dritter, nämlich der Nachbarstädte. Z.B. hatte Brügge das Stapelrecht für Waren der Hanse in den Niederlanden und es war nicht Brügge, das dieses Recht durchsetzte, sondern die Hanse selbst. Es wurde hier also vom Händler durchgesetzt, wenn man so will. In Venedig gab es den Fondaco (oder die Fondeca) dei Tedeschi, gewissermaßen die Karawanserei der Deutschen (Fondaco kommt von arabisch funduq, im modernen Arabisch 'Hotel'). Deutsche Hndler, zu denen eine ganze Reihe von Menschen zählte, mussten dort übernachten und dort ihre Waren stapeln und verkaufen. Aber es war auch ihr Schutz und die Deutschen waren in Venedig sehr beliebt (die Venezianer brachten Edelmetall aus Böhmen in den Nahen Osten und brachten dafür Seide, Gewürze etc. wieder zurück).
 
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