Die Sowjetunion, die 2+Vier-Verträge & NATO-Osterweiterung

Aus dem Gespräch Kohl-Gorbatschow am 10. Februar 1990 in Moskau am Spätnachmittag.
Q: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/1990 (1998). Nr. 174


Kohl S. 798 f.:
[…] Mit Nachdruck stellte der Bundeskanzler fest, daß eine Neutralisierung mit der Bundesregierung nicht durchsetzbar sei. […] Natürlich könne die NATO ihr Gebiet nicht auf das heutige Gebiet der DDR ausdehnen. Erforderlich seien jedoch Regelungen, um ein Einvernehmen zu finden.[…]​
Kohl lehnt eine Neutralisierung explizit ab, ein geeintes Deutschland bleibt in der NATO und offeriert dafür einen 'Sonderstatus' für die DDR, als Ausgangspunkt für Verhandlungen, Übereinkünfte. Worauf Gorbatschow nicht einging.

Kohl S. 800:
Ein neuer Vertrag werde dann nicht erforderlich sein. Der neugebildete deutsche Staat könne in den Vertrag eintreten, wenn Moskau bzw. Warschau zustimmten.[…] Die Hauptfrage sei der Status des künftigen Deutschlands, vor allem der militärische.
Gorbatschow:
Dies sei die Hauptfrage, fügte GS Gorbatschow hinzu.
Kohl:
Eine Lösung dieser Frage sei möglich, erwiderte der Bundeskanzler. Das Interesse des Generalsekretärs sei es, das Sicherheitsinteresse der Sowjetunion zu wahren. Das deutsche Interesse sei, die Souveränität zu wahren und Regelungen zu finden, die auf beiden Seiten Vertrauen schaffen würden.[…]​
Deutlich erkennbar, hatte Gorbatschow die Offerte Kohls nicht aufgenommen, Kohl geht auf einen Allgemeinplatz zurück.

Gorbatschow S. 804:
[…] Er wisse, daß für den Bundeskanzler wie für die meisten anderen die Neutralität nicht nur unannehmbar sei, sondern auch einen Rahmen schüfe, der das deutsche Volk erniedrige. […] Trotzdem sehe er ein vereinigtes Deutschland außerhalb des militärischen Gebäudes mit nationalen Streitkräften, die für die nationale Verteidigung ausreichen. Er wisse nicht, wie der Status aussehen solle, wenn nicht neutral, so vielleicht blockfrei wie beispielsweise Indien, China oder andere in Europa, als aktive Kraft in Europa und in der Welt.
Dieser Gedanke müsse weitergedacht und durchgespielt werden. Alle solche Überlegungen, daß ein Teil Deutschlands in der NATO, der andere Teil dem Warschauer Pakt angehöre, seien nicht ernst zu nehmen. Dies gelte auch für den Vorschlag, das bestimmte Truppen bis zu einem bestimmten Fluß, jedoch nicht im anderen Teil Deutschlands stationiert werden sollten. Dies sei auch nicht ernst zu nehmen. Sie sollten diese Gedanken einmal miteinander durchspielen.
[…]
Gegenüber ihren Freunden sollten sie deshalb sagen, daß sie gemeinsam ein interessantes Gespräch darüber geführt hätten, wie Europa und die Welt aussehen sollten, und daß sie dieses Gespräch fortführen wollten.
Er habe über diese Fragen auch mit Baker gesprochen. Baker habe sich auf den Bundeskanzler berufen und vorgeschlagen, daß die Vertreter der zwei deutschen Staaten und der vier Siegermächte miteinander sprechen und einen gemeinsamen Tisch finden sollten.
[…]​
Fett die explizite Ablehnung des Genscher-Baker-Kohl-Idee durch Gorbi, wie schon im Brief an Brandt vom 7.2.90, da diese die abgelehnte NATO-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland enthielt.

Kohl S. 805:
Der Bundeskanzler faßte das Gespräch zusammen und fragte den Generalsekretär, ob er mit folgender Schlußfolgerung einverstanden sei:
Sie seien sich darüber einig, daß die Entscheidung über die Einigung Deutschlands eine Frage sei, die die Deutschen jetzt selbst entscheiden müßten. Die Deutschen müßten jedoch den internationalen Kontext berücksichtigen. Dazu gehörten auch die Lehren aus der Geschichte, wie sie sich aus dem Krieg und seinen Folgen ergeben hätten. Dazu gehöre auch, daß die Deutschen die berechtigten Sicherheitsinteressen der Nachbarn zu berücksichtigen hätten. Parallel zum Einigungsprozeß in Deutschland müßten in der Frage der Bündnisse befriedigende Lösungen gefunden werden.
[…]​
Kohl verliert kein Wort mehr zu seinem nicht angenommenen, dann selbst auch als Ausgangsbasis abgelehnten Vorschlag.


Aus dem direkt nachfolgenden Gespräch in großer Runde, nun zusätzlich mit den Außenministern der Sowjetunion und der Bundesrepublik sowie weiteren Delegationsmitgliedern am frühen Abend des 10. Februar.
Q: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/1990 (1998). Nr. 175

Gorbatschow referiert S. 808 f. über sein vorangegangenes Gespräch mit Kohl:
[...] Im Grunde gehe es um zwei sehr wesentliche Momente: die berechtigten Interessen der Deutschen und auch die berechtigten Interessen der Sowjetunion und anderer Völker. Mit dem Bundeskanzler habe er - ohne in Details zu gehen – die militärischen Aspekte dieser Problematik erörtert. Hier sollte man besonders verantwortungsvoll vorgehen – gerade darin habe er mit dem Bundeskanzler volles Einverständnis erzielt. […]​
In der großen Runde kein Wort mehr zu Kohls Vorschlag, auch als Diskussionsbasis.
Kohl S. 809:
[…] Im Zusammenhang mit den Sicherheitsfragen habe man auch über den Warschauer Pakt und die NATO ausführlich gesprochen. Dabei sei selbstverständlich, daß die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion nicht allein auf der Welt seien – gerade habe Außenminister Schewardnadse mit seinem Amtskollegen James Baker über Fragen der Sicherheit, der Abrüstung und Rüstungskontrolle gesprochen. […]​
Da war der Genscher-Baker-Kohl-Vorschlag lautlos in der Versenkung verschwunden....

Das reale Dissens-Thema war die von Kohl und praktisch allen anderen 'westlichen' Verantwortlichen inzwischen immer deutlicher vertretene Position einer unabdingbar gemachten NATO-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland. Diese wurde, egal mit welchen ähnlichen Vorschlägen eines Sonderstatus für das Gebiet der DDR, konstant abgelehnt, explizit in aller Öffentlichkeit beispielsweise am 5. Mai 1990 zu Beginn der ersten großen 2+4-Gespräche durch Schewardnadse vor Journalisten.
 
Ich habe da noch mal eine andere Frage? Es geht zwar nur um eine Sache am Rande, aber trotzdem! In der Schule habe ich mal gehört, dass es während der Verhandlungen, angeblich notwendig wurde, dass Genscher, den Italienern eine Abfuhr erteilte. Was bitte hatte Italien mit der Sache zu tun? Italien war durch die Alpen mit uns verbunden oder getrennt, je nachdem wie man es sehen will. Was für Interessen sollte Italien bei den Verhandlungen gehabt haben?
 
  • Valentin Falin, Konflikte im Kreml, 1997
  • Valentin Falin, Politische Erinnerungen, 1993
  • Julij Kwizinskij, Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, 1993
  • Anatolij Tschernjajew, Tagebuch 1990, übersetzt ins Englische, online gestellt von The National Security Archive, 25. Mai 2010
  • Thesen des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik [Russland], Rußland und die NATO, in: August Pradetto (Hrsg.), Ostmitteleuropa, Rußland und die Osterweiterung der NATO, 1997, S. 161-177.
Wissenschaftliche Publikationen:
  • Boris A. Schmeljow, Ist Rußlands Nein endgültig?, in: Wolfram Wallraf (Hrsg.), NATO-Osterweiterung: Neue Mitglieder für ein Bündnis im Wandels?, 1996, S. 139-152 (Internationaler Workshop am 28./29. Juni 1996 in Potsdam, Truman-Haus, Konferenzbeiträge)
  • Aleksandr Galkin und Anatolij Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorbatschow und die deutsche Frage 1986–1991. Sowjetische Dokumente, 2011 (deutschsprachige und kommentierte Ausgabe des russischen Originals von 2006, Moskau).

Der frühere sowjetische Botschafter in Westdeutschland, Juli Kwizinskij, Vor dem Sturm, 1993, lässt in den Abschnitten/Kapiteln zu den 2+4-Verhandlungen 1990, in welche er zeitweilig involviert gewesen war, ebenfalls nicht erkennen, dass es in diesem oder einem größeren Rahmen Zusagen, verbindliche 'Angebote' oder wiederholt unisono abgegebene 'Versprechen' seitens 'westlicher' Politiker oder der NATO gegeben habe hinsichtlich einer Nichtausdehnung der NATO nach 'Osten', welche er oder die sowjetische Seite als solche anerkannten, akzeptierten, gemeinsam als 'verbindlich' oder als bindend angenommen haben.
Falin wie Kwizinskij waren damals und blieben bis zu ihrem Ende überzeugte Sowjetsozialisten. Falin legte seine Ämter nieder, nachdem Mitte Juli 1990 zwischen Kohl/Genscher und Gorbatschow/Schewardnadse jene Formel einer Mitgliedschaft eines Gesamtdeutschland (nur) in der NATO mit einem vorübergehenden militärischen Sonderstatus des früheren DDR-Gebietes vereinbart wurde.

Das deckt sich mit den schon angeführten sowjetischen bzw. russischen Publikationen, siehe oben.
 
Falin legte seine Ämter nieder, nachdem Mitte Juli 1990 zwischen Kohl/Genscher und Gorbatschow/Schewardnadse jene Formel einer Mitgliedschaft eines Gesamtdeutschland (nur) in der NATO mit einem vorübergehenden militärischen Sonderstatus des früheren DDR-Gebietes vereinbart wurde.

...und ist dann in die Bundesrepublik ausgewandert und lebte in Tostedt bei Hamburg.
 
Egon hat Falin, dem die Sowjetunion, etwas die Gesundheit und ausreichende Rentenbezüge abhanden gekommen war, eingeladen, Körber hats möglich gemacht. Falin, seit 1992 in Tostedt, kehrte 2000 nach Moskau zurück.
 
Tut mir leid, ich dachte, das wäre klar. Mir ist als Schüler folgendes gesteckt worden. Kurz bevor die 2+4 Verhandlungen in Losgehen sollten, wurde Genscher angeblich vom italienischen Regierungschef angesprochen, mit der Aufforderung, Italien, müsse ebenfalls an den Verhandlungen teilnehmen!

Darauf soll Genscher geantwortet haben: You are not a player in this Game.
Sollte es so gewesen sein, kann ich mir wie gesagt nicht vorstellen, was die Italiener sich von diesem Manöver erhoft haben.
 
Tut mir leid, ich dachte, das wäre klar.
Bitte stets eine möglichst hinreichend präzise und substanzielle Frage stellen, wenn Du eine substanzielle Antwort wünscht. Geht doch.

Auf der Open-Skies-Konferenz 12. bis 14.2.90 in Ottawa trafen sich die NATO- und WP-Außenminister erstmalig und einmalig. Ebenso konferierten die NATO-Außenminister wie jährlich üblich untereinander, ohne die Kollegen des WP.

Am 13.2., 15h (Ortszeit) veranstalteten die Außenminister der Vier Mächte und der beiden Deutschland vor Ort einen Fototermin vor der Presse, bei welcher sie den Konferenzmechanismus in der "2+4-"Form vorstellten und dessen Ziele:
  • Gespräche führen zu den äußeren Aspekten der Herstellung der deutschen Einheit
  • einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten
Ab 15h30 tagten die NATO-Außenminister untereinander, sie waren vom Pressetermin um 15h überrascht worden, zumindest jene, die eben nicht an den kommenden 2+4-Gesprächen teilnehmen würden.
Speziell die etwas unscharfe, missverständliche Formulierung 'Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten' sorgte bei den Außenministern von BENELUX, Norwegen und Italien für Irritationen und Nachfragen. Alle genannten Staaten hatten unter dem europäischen Kriegs- und Vernichtungszug des NS-Regimes schwer zu leiden gehabt, in dessen Folge es u.a. zur Spaltung des besiegten Deutschland, der Besatzungsrechte der Vier Mächte usw. kam.
Und die genannten Nachbarstaaten, die ebenso NATO-Mitglieder waren, sollten eben keineswegs bei Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten einbezogen werden, wie der überraschende Pressetermin um 15h der Außenminister der Vier Mächte und beider Deutschland gezeigt hatte.

Genscher kam verspätet zum Treffen ab 15h30, wie offenbar der ital. Außenminister de Michelis erneut engagiert die Einbeziehung auch der anderen NATO-Mitglieder bei 'Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten' verlangte. Und Genscher lapidar dessen ärgerliche Einwendungen mit der bekannten Wendung "You are not part of the game" kommentierte.
De Michelis entgegnete mit einem Hinweis, der die europäische Sicherheit in den Rahmen der KSZE-Staaten platzierte.
Anschließend wurde die Sitzung unterbrochen, man einigte sich sich auf die Formel, mit 'Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten' seien nicht NATO-Mitgliedsstaaten gemeint.

Tatsächlich zielte die Formulierung auf dem Pressetermin zunächst vor allem auf Polen, die polnische Westgrenze, eine weitere NATO-Mitgliedschaft Deutschlands und auf die UdSSR, doch letztere war ja sowieso Teil der Vier Mächte und damit der 2+4-Gespräche.

Q: Horst Möller u.a. (Hrsg.), Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess, 2015, S. 260-263.
 
Ein ganz typischer, neuer Anschlussfehler, der es dennoch in den aktuellen, wissenschaftlichen Mainstream geschafft hat, findet sich in der neuen 'wissenschaftlichen' Interpretation einiger HistorikerInnen der folgende Gesprächssituation von US-Außenminister Baker und Gorbatschow am 9.2.90:

Baker:
Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, auf die Sie jetzt nicht unbedingt eine Antwort geben müssen. Vorausgesetzt, die Vereinigung findet statt, was ist für Sie vorzuziehen: Ein vereinigtes Deutschland außerhalb der NATO, vollkommen selbstständig und ohne amerikanische Streitkräfte oder ein vereinigtes Deutschland, das seine Verbindungen zur NATO aufrechterhält, aber unter der Garantie, dass die Jurisdiktion oder die Streitkräfte der NATO sich nicht über die derzeitige Linie nach Osten ausbreiten?
M. S. Gorbacˇev:
Wir werden dies alles durchdenken. Wir beabsichtigen, alle diese Fragen auf der Führungsebene gründlich zu erörtern. Selbstverständlich ist es klar, dass eine Ausdehnung der NATO-Zone inakzeptabel ist.
J. Baker:
Wir stimmen dem zu.
M. S. Gorbacˇev:
Es ist durchaus möglich, dass in der Lage, wie sie sich jetzt gestaltet, die Anwesenheit der amerikanischen Streitkräfte eine mäßigende Rolle spielen kann. Es ist möglich, dass wir mit Ihnen gemeinsam darüber nachdenken müssen, wie Sie gesagt haben, dass ein geeintes Deutschland vielleicht Wege zur Aufrüstung, wie das nach Versailles der Fall war, zur Schaffung einer neuen Wehrmacht, suchen wird. In der Tat, wenn es sich außerhalb der europäischen Strukturen befindet, dann kann sich die Geschichte wiederholen.


Der erste Anschlussfehler - allerdings traditioneller - Art besteht darin, lediglich die vermeintlich unmittelbar entscheidenden Äußerungen zu berücksichtigen.

So dürfen wir uns ruhig die Bakers 'Zustimmung' nachfolgenden Bemerkungen Gorbis anschauen. Die zeigen schon, wohin Gorbi eigentlich zielt: Er billigt den amerikanischen Streitkräften eine möglicherweise mäßigende Rolle zu, in Westdeutschland, via NATO. Doch die soll ja nicht auf das DDR-Gebiet vorrücken, was damit? Was will Gorbi anschließend mit den Worten aus drücken, wenn sich Deutschland außerhalb europäische Strukturen befinde, drohe sinngemäß Gefahr?

Der zweite Anschlussfehler:
Was stimmt Baker genau zu? Und was hat Gorbi mit seiner Bemerkung, eine Ausdehnung der NATO-Zone sei inakzeptabel, gemeint? Die neuere Deutung geht inzwischen dahin, er habe damit Bakers zweite Version eines geeinten Deutschlands in der NATO, doch ohne Ostausdehnung befürwortet. Was so nicht zutreffend war und immer noch ist. Und woraus inzwischen zudem gerne eine 'Zusage' Bakers konstruiert wird.

Gorbatschow wie Schewardnadse entwickelten bzw. postulierten in den nachfolgenden Tagen, Wochen und Monaten mit großer Ausdauer die Vorstellung einer Übergangszeit für ein geeintes Deutschland, in welchem das geeinte Deutschland in dieser Übergangszeit beiden Bündnisverpflichtungen in den jeweiligen Landesteilen nachkommt. NATO-Truppen im Westen (keine Ostausdehnung!), WP-Truppen im Osten - während beide Bündnisse vereinbart und abgesprochen zugleich abrüsten, Truppen reduzieren und abziehen und die Bündnisse sich in politische Organisation umwandeln. Womit sich die selbst bestimmte Zugehörigkeit eines geeinten Deutschland n a c h jener Übergangszeit zu einem der beiden Militärbündnisse von selbst erledigt und für die Sowjetunion kein Problem mehr darstellt.


Schon am 10.2.90, ein Tag nach dem Gespräch mit Baker, äußert sich Gorbi gegenüber Kohl u.a. so:

Man sagt: Was ist die NATO ohne BRD? Aber es ist auch angebracht zu fragen: Was ist der Warschauer Pakt ohne DDR? Das ist eine schwerwiegende Frage. In militärischen Fragen darf es keine Divergenzen geben. Es heißt, die NATO werde ohne BRD zusammenbrechen. Aber auch für den Warschauer Pakt ist es ohne DDR das Ende. Wenn wir uns über die Hauptsache verständigen, dann ist es wichtig, dass wir auch hier nicht verschiedener Meinung sind. [...]

Wenn wir einseitig sämtliche Streitkräfte aus der DDR abziehen, dann werden Sie die NATO ebenfalls nicht halten.

Gorbatschow am 13.2.90 in einem Gespräch mit Beratern, u.a. bemerkt er:

Das Wichtigste für uns: die Positionen bei der Sicherheit, den Grenzen und beim europäischen Prozess halten. [...]
Wir müssen weiterhin vertrauliche Kontakte zu allen aufrechterhalten – im Rahmen der jüngsten Realitäten, insbesondere in Fragen der Sicherheit und der Grenze. Langfristig – Vereinigung Deutschlands. Es ist notwendig, dass die europäische und globale Balance im Verlaufe dieses Prozesses nicht gestört wird. [...]
Wenn beide Blöcke (NATO und OVD) umgewandelt werden, bildet sich ein neues Sicherheitssystem heraus.

Gorbatschow am 7.3.90 in einem Interview mit der PRAVDA, formuliert u.a.:

Frage: Wie steht die Sowjetunion zu einer wie auch immer gearteten Beteiligung des vereinigten Deutschland an der NATO?
Antwort [Gorbatschow]: Dem können wir nicht zustimmen. Dies ist absolut ausgeschlossen. [...]
Zweitens, wo soll das vereinte Deutschland stehen? Ich glaube, wenn der europäische und der Wiener Prozess vorankommen, werden wir zu Helsinki-2 gelangen und dann werden NATO und Warschauer Pakt von militärpolitischen Organisationen in politische Organisationen umgewandelt. Dies ist die eine Situation. Und dann wird dieser Handel gar nicht mehr notwendig sein – wo soll das vereinigte Deutschland stehen.


Aus dem zweiten Gespräch M. S. Gorbacˇevs mit G. Bush, Baker und anderen, Washington, Weißes Haus, 31. Mai 1990. Gorbi notiert dort gegenüber Bush u.a.:

Anstatt sich auf die Mitgliedschaft eines künftigen vereinten Deutschland in der NATO zu versteifen, lassen Sie uns lieber darüber nachdenken, wie man die militärpolitischen Blöcke, die Europa immer noch teilen, einander näherbringen könnte. Sagen wir, warum ist die gleichzeitige Mitgliedschaft der BRD in der NATO und im Warschauer Pakt von vorneherein abzulehnen? Eine solche doppelte Mitgliedschaft könnte zu einem verbindenden Element, zu einer Art Vorläufer für neue europäische Strukturen werden und würde zugleich auch die NATO stärken.
Auf praktischer Ebene könnte das vereinte Deutschland erklären, dass es sämtliche Verpflichtungen, die es sowohl von der BRD als auch von der DDR geerbt habe, einhalten werde. Dass die Bundeswehr wie bisher der NATO unterstehen werde, die Streitkräfte in der DDR jedoch der Regierung des neuen Deutschland. Gleichzeitig würden auf dem Territorium der derzeitigen DDR für eine Übergangsperiode sowjetische Streitkräfte bleiben, und dies alles könnte durch ein Abkommen zwischen Warschauer Pakt und NATO ergänzt werden. So nehmen wir vielen Länder die Besorgnis und treiben die Schaffung künftiger Strukturen einer europäischen Sicherheit voran. Man muss nicht alles unbedingt sofort erreichen. Hier ist auch ein schrittweises Herangehen möglich. Sagen wir, wir würden eine Änderung der Doktrin der NATO schon auf der nächsten Sitzung dieses Blocks begrüßen.
[...]
[...]
J. Baker: Was immer Sie sagen mögen, aber gleichzeitige Verpflichtungen ein und desselben Landes gegenüber Warschauer Pakt und NATO erinnern an Schizophrenie.
M. S. Gorbacˇev: Nur für einen Finanzmann, der Cent auf Cent stapelt. Aberdie Politik – das ist manchmal die Suche nach dem Möglichen im Bereich des Ungewohnten.
J. Baker: Aber Verpflichtungen gegenüber Warschauer Pakt und gegenüber der NATO – das sind doch rivalisierende Verpflichtungen.
M. S. Gorbacˇev: Aha, wir kommen der Sache schon näher. Sie haben von Rivalität gesprochen und diese zieht Konfrontation nach sich. Das heißt, dass sich nichts ändert. Und wenn Sie das vereinigte Deutschland in einen einzigen Block hineinziehen, stören sie empfindlich das Gleichgewicht. Und dann müssen auch wir entscheiden, was in der neuen Situation zu tun ist – ob wir weiterhin in Wien sitzen usw.
[...]​


Und diverse weitere Belege für diese Vorstellungen auf der sowjetischen Führung gibt es in und aus den Gesprächen zwischen Genscher und Schewardnadse. Letzterer hat mit Beharrlichkeit diese Vorstellungen gegenüber Genscher artikuliert.

Warum auch immer nun der Zusammenhang zwischen der im Baker-Gespräch Gorbatschows in dieser Kürze - wegen des nicht eindeutigen Bezuges - etwas zweideutigen Aussage von der Nichtakzeptanz einer NATO-Ausdehnung mit den vielfach von Gorbatschow und Schewardnadse nachfolgenden, inhaltlich bündig anschließend formulierten Vorstellungen inzwischen verloren gegangen ist....das macht das neue Narrativ.
 
Schewardnadse postuliert beispielsweise im Gespräch mit Genscher am 11. Juni 1990 in Brest die zwei sowjetischen Hauptvorstellungen hinsichtlich des Mitgliedschaft e. geeinten Deutschland in Militärbündnissen:

  • Vereinigung Deutschlands wird begleitet vom Austritt aus NATO & WP, zumindest aus deren militärischer Organisation
  • geeintes Deutschland bleibt Mitglied in beiden Militärbündnissen, die zugleich möglichst eine Auflösung oder tiefe Transformation anstreben
Ab dem Baker-Gespräch mit Gorbi am 9.2.90 wird erstmalig erkennbar, dass die sowjetische Führung eine weitere NATO-Präsenz auf BRD-Gebiet im geeinten Deutschland akzeptieren könnte - stets, wie sich in den folgenden Tagen und Wochen zeigt, mit der Vorstellung einer symetrischen weiteren Präsenz von WP- bzw. sowjetischen Truppen auf DDR-Gebiet gekoppelt, für eine Übergangszeit, derweil Truppenabbau u. Abrüstung vorangetrieben werden, bis zur Auflösung militärischen Bündnisstrukturen u. Ersatz durch politische.

Eine Dauermitgliedschaft des geeinten Deutschland in beiden Bündnissen war damit also keinesfalls (mehr) gemeint, hatte Gorbi Kohl am 10.2.90 gegenüber entsprechend klar als unseriös bezeichnet.
 
Sarotte, Führungsduo?, in: Geiger u.a. (Hrsg.), Zwei plus Vier. Die internationale Gründungsgeschichte der Berliner Republik (2021), S. 47-63, hier S. 60 f.
Die tendenziell etwas romanhaften Ausgestaltungen verbinden sich bei Sarotte a.a.O. mit dem etwas zu starken Narrativ aus der Rückschau von der angeblich verpassten Chance Gorbatschows, die Nichtausdehnung der NATO - auf DDR-Gebiet oder sonst wo - im 'Vier-Augen-Gespräch' mit Kohl am 10. Februar 1990 in Moskau festzuklopfen.

Ihre auf das neue Narrativ fixierte 'wissenschaftliche' Arbeitsweise, noch ein erhellendes Beispiel aus dem angegebenen Artikel S. 57f., wird durch entstellende Verkürzungen, entstellende Auslassungen und Herstellung falscher Zusammenhänge demonstriert.

So notiert Sarotte S. 57, Gorbi habe auf jene von Baker vorgestellten zwei Modelle eines zukünftigen Gesamtdeutschland, einmal
  • vereinigtes Deutschland außerhalb NATO u. vollkommen selbständig sowie ohne amerikanische Streitkräfte
  • oder vereinigtes Deutschland mit bestehenbleibenden Verbindungen zur NATO, jedoch ohne Ausdehnung der Jurisdiktion und Streitkräfte der NATO nach Osten über die derzeitige Linie,
geantwortet, "dass jedwede Ausdehnung der 'NATO-Zone' nicht akzeptabel sei. Laut Gorbatschow war Baker damit einverstanden".

Was Sarotte als erstes Angebot Bakers der Nicht-Ausdehnung der NATO verkaufen will, welches Gorbatschow direkt anschließend aufgegriffen haben soll, dem wiederum Baker zugestimmt haben soll, kann kaum anders als falsch bezeichnet werden.
Wie schon in anderem Zusammenhang angegeben, antwortete Gorbi auf Bakers etwas längeren Redebeitrag, der u.a. eben die Frage enthielt, welches der zwei von Baker vorgestellten Gesamt-Deutschlands Gorbi vorziehen würde, mit den Worten:

M. S. Gorbacˇev: Wir werden dies alles durchdenken. Wir beabsichtigen, alle diese Fragen auf der Führungsebene gründlich zu erörtern. Selbstverständlich ist es klar, dass eine Ausdehnung der NATO-Zone inakzeptabel ist.
J. Baker: Wir stimmen dem zu.
M. S. Gorbacˇev: Es ist durchaus möglich, dass in der Lage, wie sie sich jetzt gestaltet, die Anwesenheit der amerikanischen Streitkräfte eine mäßigende Rolle spielen kann. [...]​

Die eigentliche Botschaft der aus US-Sicht auf jeden Fall bestehen bleibenden NATO-Integration zumindest des BRD-Gebietes, immer verbunden mit einem Abzug sowjetischer Truppen aus der DDR, schmückt Baker mit der Ausgangsidee von der Nichterweiterung der NATO nach Osten, auf DDR-Gebiet. Und tatsächlich geht Gorbi nach Bakers 'Wir stimmen dem zu' auf die möglicherweise mäßigende Rolle der Anwesenheit der US-Streitkräfte ein - was sich auf das BRD-Gebiet bezieht im Rahmen der NATO.

Genau das hat Baker auch bemerkt - und u.a. erreichen wollen. Das war der erste wichtige Schritt, aus Sicht Bakers.

Sarotte notiert S. 57 zutreffend, Baker habe noch in Moskau einen - auch noch angeblich 'heimlichen' - Brief an Kohl schreiben lassen, welcher wesentliche Inhalte des Gesprächs von Baker mit Gorbatschow referierte.
Sarotte präsentiert keine weiteren Inhalte des Baker-Briefes an Kohl, auch nicht das Datum von Bakers Brief - behauptet dafür, Bakers Brief sei zeitgleich (ebenfalls 'heimlich'?) auch an den National Sicherheitsrat der US-Administration gegangen, der dort Bedenken und damit einen Brief Bushs an Kohl ausgelöst habe, der noch am 9.2. in Bonn bei Kohl eingetroffen sei.

Kohl traf am 10.2. am frühen Nachmittag in Moskau ein, unmittelbar danach startete Bakers Flug von Moskau.
Tatsächlich war Bakers am 10. Februar (auch Briefdatum) in Moskau verfasster und dort hinterlegter Brief über den wesentlichen Gesprächsverlauf Baker-Gorbi (9.2.) mit dem Nationalen Sicherheitsrat und Bush vereinbart worden.

Werner Weidenfeld, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/1990 (1998), S. 722, Anm. 57, u.a.:
Die Information der deutsche Delegation durch Baker war bereits vorab zwischen Genscher und Baker sowie Teltschik und Scowcroft [Bushs Nationaler Sicherheitsberater] vereinbart und von Bush in seinen Schreiben v. 9.2. angekündigt worden.

Der Brief Bushs an Kohl vom 9.2. reagierte daher nicht auf den Brief Bakers vom 10.2. an Kohl. Da sie u.a. Bakers Politics of Diplomacy (1995) als Quelle angibt: dieser selbst schreibt, er habe am Morgen vor der Ankunft Kohls in Moskau ihm diesen Brief geschrieben/diktiert - am 10.2.


Baker referiert zutreffend im Brief vom 10.2. an Kohl über Bakers an Gorbatschow gestellte Frage der zwei Modelle eine künftigen Gesamtdeutschland:
[...]
Und dann stellte ich ihm die folgende Frage:
Würden Sie es vorziehen, ein vereinigtes Deutschland außerhalb der NATO zu sehen, unabhängig und ohne US-Streitkräfte, oder würden Sie es vorziehen, dass ein vereinigtes Deutschland an die NATO gebunden ist, mit der Zusicherung, dass sich der Zuständigkeitsbereich der NATO keinen Zentimeter von seiner derzeitigen Position nach Osten verschiebt?
Er antwortete, die sowjetische Führung denke über alle diese Optionen nach und werde sie bald "in einer Art Seminar" erörtern. Dann fügte er hinzu: "Sicherlich wäre jede Ausdehnung der NATO-Zone unannehmbar." (Im Umkehrschluss könnte die NATO in ihrer jetzigen Zone akzeptabel sein.)

Kurzum, ich glaube, wir hatten einen sehr interessanten Austausch, der darauf hindeutet, dass Gorbatschow zumindest nicht festgelegt ist.
[...]​

Hervorhebung von mir. Das war damals der/ein entscheidende(r) Punkt.
 
Eine Nachfrage: hast Du Sarotte auf Deutsch oder Englisch im Original verwendet?
Ich habe schon bei verschiedenen Publikationen zunehmende "Kreativität" der deutschen Übersetzer in der Zuspitzung von Aussagen gesehen, ebenso "ungenaue" Übersetzungen.
 
Eine Nachfrage: hast Du Sarotte auf Deutsch oder Englisch im Original verwendet?
Ich habe schon bei verschiedenen Publikationen zunehmende "Kreativität" der deutschen Übersetzer in der Zuspitzung von Aussagen gesehen, ebenso "ungenaue" Übersetzungen.

Sarotte, Führungsduo?, in: Geiger u.a. (Hrsg.), Zwei plus Vier. Die internationale Gründungsgeschichte der Berliner Republik (2021), S. 47-63, ist deutschsprachig abgedruckt. Sie spricht sehr gut deutsch, hat u.a. in West-Berlin studiert.

Dass die angebliche Zusage einer Nicht-Ausdehnung der (militärischen) NATO auf DDR-Gebiet, immer verbunden mit der NATO-Mitgliedschaft eines Gesamtdeutschland, in keinem Fall von der sowjetischen Seite
  • als Zusage
  • verbindliche, gemeinsame Erklärung usw.
aufgenommen, anerkannt, auch nicht als akzeptabler Vorschlag, akzeptable Idee anerkannt wurde, demonstriert beispielweise Valentin Falin im Interview mit dem SPIEGEL vom 18. Februar 1990 mit Aussagen u.a.:

SPIEGEL:
Sie sie auch unvereinbar mit der von Herrn Genscher entwickelten These, das halbe Deutschland solle in der NATO bleiben?
Falin:
Wären diese Varianten akzeptabel, die Herr Genscher und Herr Bush formulierten, könnten wir uns vice versa die Entwicklung auch so vorstellen: Ein ganzes Deutschland oder die eine Hälfte ist ein Teil des sowjetischen Sicherheitssystems. Das wäre auch ein Versuch,, Deutschland zu binden und es daran zu hindern, einen Alleingang zu riskieren. Da würden sie uns sicher sagen: nein, das geht nicht. Wenn sie dem anderen aber zumuten gutzuheißen, was sie selbst nicht zu akzeptieren bereit sind, ist das keine korrekte Haltung.
[...]
SPIEGEL:
Denken sie denn, daß eine Gefahr von deutschem Boden ausgeht, wenn ein Teil Deutschlands in der Nato bleibt?
Falin:

[...] Wenn heute in einem Teil Deutschlands die militärische Institution - egal, wie sie genannt wird - weiterexistiert und die im anderen Teil verschwindet, wird das Gleichgewicht der Interessen verletzt. Dann, bitte sehr, sind die Folgerungen klar.

Hier wird nochmals deutlich, die wichtigste Positionierung Genschers in Tutzing war die erstmals ausdrücklich von einem bundesdeutschen politischen Entscheidungsträger öffentlich postulierte Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland in der NATO, und der Verbleib der militärischen Strukturen der NATO auf dem BRD-Gebiet. Die Idee einer Nicht-Ausdehnung der militärischen NATO-Strukturen auf DDR-Gebiet war damit unisono für die sowjetische Seite uninteressant, inakzeptabel.

Das verdeutlichen auch entsprechende Bemerkungen Schewardnadses im Gespräch mit Genscher in Windhoek, Namibia, am 22. März 1990, u.a.:

Schewardnadse:
[...] Dann gebe es noch die Idee des BM [Bundesminister; = Genscher], daß die NATO ihr Gebiet nicht ausdehne. Er halte diesen Gedanken gegenwärtig nicht für eine aussichtsreiche Überlegung. Unter Umständen sei es vielleicht auch angezeigt völlig neue, unkonventionelle Lösungen in Erwägung zu ziehen. [...]​
Q: Andreas Hilger (Hrsg.), Diplomatie für die deutsche Einheit (2011), S. 116.

Auch später wurde von sowjetischer Seit diese Idee praktisch nie aufgegriffen, akzeptiert, thematisiert, sie wurde, wie gezeigt, als Idee, als Gedanken, als Formulierung bezeichnet.
 
Zu den nachträglich im Neuen Narrativ ebenfalls immer wieder unterstellten 'Ungereimtheiten' gehört u.a. die Mär, Genscher habe in der Tutzinger Rede am 31.1.90 nicht nur die Nicht-Ausdehnung der NATO auf DDR-Territorium 'versprochen', sondern damit auch die sicherheitspolitische Nicht-Integration des DDR-Gebietes unter den Schutzschirm der NATO entsprechend dem Beistandsartikel 5 der NATO-Konvention von 1949.

Das habe
  • Genscher später etwa in seinen Erinnerungen (1995) fälschlicherweise geleugnet
  • und/oder der Nationale Sicherheitsrat der US-Administration bzw. zwei Mitglieder des Sicherheitsrates bei genauer Prüfung der 'Tutzinger Formel' erkannt, die Genscher bei seinem Besuch am 2. Februar 1990 in Washington US-Außenminister Baker zumindest in groben Zügen vermittelt habe, nach Genscher Abreise. Und entsprechend reagiert, u.a. mit einem korrigierenden Brief von Präsident Bush an Bundeskanzler Kohl.
Beides trifft nicht zu. Die Tutzinger Rede sowohl insgesamt wie in den entsprechenden Passagen - meist wird nur jener eine Satz der Nicht-Ausdehnung angeführt - lassen keinen Zweifel, dass Genscher Gesamtdeutschland in der NATO sehen wollte und eine Neutralität in jeder Form ablehnt. Die Nicht-Ausdehnung der NATO auf DDR-Gebiet bezog sich entsprechend nur auf die militärischen Strukturen. Und nicht auf die sicherheitspolitischen Beistandsverpflichtung gemäß Art. 5 für das DDR-Gebiet nach der Vereinigung.
Innerhalb der NATO in Brüssel war das offenkundig auf Führungsebene jedem klar. Genauso war offenbar allen klar, dass die Genscher-Formel militärisch ein großer Gewinn für die NATO wäre, auch mit einer Nicht-Ausdehnung der militärischen Strukturen der NATO auf DDR-Gebiet. Denn in NATO-Hauptquartier war anscheinend genauso evident, dass die sowjetische Armee in der DDR entlang der Genscher-Formel nicht mehr verbleiben konnte, unabhängig davon, dass sie vielleicht erst in wenigen Jahren vollständig abgezogen sein könnte.

Das zeigt jedenfalls der abgedruckte Bericht des bundesdeutschen NATO-Botschafters in Brüssel, von Ploetz, vom 9.2.90, ausdrücklich mit Bezug auf Genschers Tutzinger Rede. (Q: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1990 (2021), S. 136-139).
So notiert der Bericht u.a. (S. 137 f.), die von Genscher vorgenommene Differenzierung zwischen der Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands zu Allianz und damit zur kollektiven Verteidigungszusage der NATO für das Gesamtterritorium, und einer Nichterweiterung der Militärorganisation der NATO werde als vielversprechend angesehen, weil sie einen grundsätzlichen sicherheitspolitischen Statusunterschied vermeiden würde.
 
Mary Sarottes Not one inch kann bei diesen Punkten entsprechend und erwartungsgemäß gleichfalls wenig überzeugen.
Genschers Tutzinger Rede wird erneut rudimentär, lückenhaft und verzerrt referiert. Die Vorgeschichte der Tutzinger Rede wird, wie von Sarotte andernorts schon dargestellt, nicht zutreffend vor allem mit einem Memo vom 31.1.90 des AA-Referatsleiter Klaus Neubert in Verbindung gebracht. Neubert habe lt. Sarotte Gorbatschows Bemerkungen bei einem Presse-Fototermin mit DDR-Ministerpräsident Modrow am 30.1.90 im Moskau, die deutsche Einheit sei nicht mehr zweifelhaft, in jener Notiz vom 31.1.90 für Genscher euphorisch überinterpretiert - was unmittelbare Auswirkungen auf Genschers Rede in Tutzing gehabt habe.

Schon mit kurzer Überlegung fällt auf, dass Neubert seine Notiz am 31.1. erstellt und an Genschers Büro geschickt hatte und Genscher die Rede in Tutzing ebenfalls am 31.1. gehalten hat.
Bereits zeitlich kaum möglich und nicht plausibel, verschleiert Sarotte das Zeitproblem damit, dass sie Gorbatschows Bemerkungen explizit mit Datum 30.1. erwähnt, doch Neubert erstellt seine Notiz bei Sarotte 'am nächsten Tag'. Zwei Abschnitte, 21 Zeilen weiter und damit auf der nächsten Buchseite, kommt die Tutzinger Rede am 31.1. dran.....

Frank Elbe, damals Genschers Büroleiter und Redenschreiber, war der Mitautor der Tutzinger Rede und hatte wesentliche Punkte/Elemente in einem Memo vom 28 (?).1.90 notiert.
Dass Elbe Mitautor gewesen war, ist dem bereits 1993 erschienen, auch von Sarotte referierten Titel Kiessler/Elbe,
Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 85, zu entnehmen.
 
Faxgeräte gab es aber schon. Und wichtige Berichte wurden schon mal am Telefon vorgelesen. Sind diese Übertragungswege ausgeschlossen?
 
Der Faden thematisiert, ob beispielsweise Genscher beispielsweise in Tutzing primär die Nichterweiterung der NATO 'zugesichert' habe, jenes angeblich gebrochene Versprechen.

A: Dazu siehe diverse Beiträge oben, welche u.a. die Tutzinger Rede ausführlicher und kontextbezogener und damit deutlich abweichend vom neuen Narrativ u.a. bei Sarotte, aber im Anschluss an die früheren, ursprünglichen Inhalte vorstellen.
B: Bereits am 28.1.90 hatte die BamS ein Genscher-Interview teils verkürzt abgedruckt, in welchem Genscher bereits vor einer Ausweitung der militärischen NATO-Strukturen auf das DDR-Gebiert warnte. Das war schon (vermeintlich) Tutzing.
C: Elbe, Redenschreiber Genschers und Mitautor von Genscher Tutzinger Rede, hatte wesentliche Punkte, u.a. Nichterweiterung der NATO-Strukturen auf DDR-Gebiet, entsprechend wenige Tage vor Genschers Tutzinger Rede zusammengefasst.

Sarotte versucht mit Neubert eine superkurzfristige Entscheidung aufgrund einer - angeblichen - Überinterpretation durch Neubert zu konstruieren, um wieder mal zu belegen, dass Genscher in Tutzing die Nichterweiterung der NATO versprochen habe?

Sarotte stellt dies in No on inch, S. 48, so dar:

On the day Neubert advised him about Gorbachevs "vote" for unity, the foreign minister apparently decided i was time to go public with how he would make good on that promise. In a January 31,1990 speech in Tutzing he advised Germany's allies to adopt an accommodating attitude to Moscow in the interest of making unification happen. He wanted NATO to "state unequivocally that whatever happens in the Warsaw Pact, there will be no expansionof NATO territory eastward, hat it so say, closer to the borders of the Soviet Union.

Der Text der Autorin vermeidet auch hier, den Tag der Abfassung von Neuberts Vorlage für Genschers Büro anzugeben, den 31.1.
Folgt man Sarotte, so hat Genscher aufgrund Neuberts Notizen zum vermeintlichen Versprechen von Gorbatschow hinsichtlich der Vereinigung beschlossen, in Tutzing mit einer Rede aufzutreten, die darlegen sollte, wie das Versprechen der Einheit eingelöst werden könnte. Durch das Versprechen der Nichterweiterung der NATO.

Genschers Rede fand am 31.1. in Tutzing statt - kein Problem für einen Außenminister, morgens das Memo Neuberts vorgelegt zu bekommen, es geschwind zu lesen, spontan sich nach Tutzing einzuladen, alle anderen Termine abzusagen, mit Elbe eine Rede aus dem Ärmel zu schütteln, so auf dem stundenlangen Weg nach Tutzing. ;)

Neubert hat die von seinen Mitarbeitern Stüdemann und Brett mit Datum vom 31. Januar 1990 verfasste Vorlage zur Unterrichtung für Außenminister Genscher unterschrieben und mit dem regulären Dienstweg über den Leiter der Unterabteilung, Höynck, dem Leiter der Politischen Abt., Kastrup, und Staatssekretär Sudhoff ans Büro von Genscher geschickt. Die Vorlage zur Unterrichtung dürfte 5-6 Word-Seiten lang sein, um mal die Größenordnung anzudeuten.
Der reguläre Dienstweg umfasste mehrere Stationen (auch der Selektion durch die höherrangigen Beamten), bevor sie Genscher vorgelegt wurden.

Eine ebenfalls mit Datum 31. Januar 1990 verfasste Vorlage zur Unterrichtung des Bundesaußenministers hatte der Leiter des Referates 210, Lambach, unterschrieben, gleichfalls zu den Äußerungen Gorbatschows zur Deutschen Einheit vor dem Fototermin mit Modrow am 30.1.90 - mit identischem Dienstweg über Höynk zu Kastrup, von Kastrup zu Sudhoff, von Sudhoff an Genscher.
Frühestens am 1.2.90 hat die Vorlage Lambachs Genscher bzw. sein Büro erreicht haben, wie die Anmerkungen mit den notierten Empfangsdaten zum abgedruckten Text Lambachs in Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1990, 1. Teilband, S. 88, zeigen.

Und Sarotte hat die Stationen des Dienstweges, die bei der Neubert-Vorlage genannt werden, 'vergessen'....daher die 'Lücken' bei ihr? Und die Lambach-Vorlage? Hm.
Bei der Neubert-Vorlage gibt es anscheinend keine Eingangsstempel oder -Bestätigungen mit Datum....sieht so aus, als wäre das nicht über den nächsten Vorgesetzten, Höynk, hinaus gekommen....denn Neuberts Kollege Lambach, dessen Vorgesetzter ebenfalls Höynk war, hat sich dafür auf der Neubert-Vorlage mit einem Kommentar für Lamberts eigenen Mitarbeiter Brandenburg verewigt.....

Ansonsten sind die von mir rezipierten Vorlagen zur Unterrichtung des Bundesaußenministers stets (frühestens) erst am Tag nach dem Verfassungsdatum im Büro Genscher angekommen.....
 
Die Vorgeschichte der Tutzinger Rede wird, wie von Sarotte andernorts schon dargestellt, nicht zutreffend vor allem mit einem Memo vom 31.1.90 des AA-Referatsleiter Klaus Neubert in Verbindung gebracht. Neubert habe lt. Sarotte Gorbatschows Bemerkungen bei einem Presse-Fototermin mit DDR-Ministerpräsident Modrow am 30.1.90 im Moskau, die deutsche Einheit sei nicht mehr zweifelhaft, in jener Notiz vom 31.1.90 für Genscher euphorisch überinterpretiert - was unmittelbare Auswirkungen auf Genschers Rede in Tutzing gehabt habe.

Neuberts Vorlage zur Unterrichtung des Chefs, Bundesaußenminister Genscher, hat es also gar nicht bis zu Genscher geschafft. Selbst zeitlich wäre das unter normalen Dienstabläufen nicht am gleichen Tag, dem 31.1., möglich gewesen.

Am 31.1.90 hatte offenbar Neuberts Vorgesetzter Höynk vor Neuberts Vorlage schon eine vom Referatsleiter Lambach und dessen Mitarbeiter und Co-Autor Brandenburg erhalten zum gleichen Thema, Gorbatschows Bemerkungen zur dt. Einheit beim Fototermin mit Modrow am 30.1.
Höynk leitete daher Neuberts Vorlage offenkundig nicht weiter, sondern gab sie Lambach (zur Kenntnis/zum lesen), der Neuberts Vorlage wiederum mit einem Kommentar versah für seinen, Lambachs Co-Autor Brandenburg, und diesem dann Neuberts Vorlage zukommen lies bzw. hinterlegte.
 
Ich hatte nur an eine kurzfristige Änderung der Rede gedacht, was nichts unbekanntes ist. Genaugenommen ist da kein Beweis, dass es keine schnelle Weitergabe gab, aber mit diesen Informationen erscheint es äußerst unwahrscheinlich.
 
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