Bei der Römischen Geschichte von Heuss muss man aber noch berücksichtigen, dass seit 1983 nur der Forschungsüberblick verändert, bzw. ergänzt wurde, während die Darstellung von Bleicken, Dalheim und Gehrke übernommen wurde. Zwar lohnt es immer noch, die Darstellung zu lesen, wie ja auch viele andere Römische Geschichten ikonisch sind, aber der eigentliche Star ist eben heutzutage der Forschungsüberblick. Ja, auch die großen Linien bleiben und die betrachteten Verbindungen können sowieso nur eine Auswahl sein, was es in gewisser Weise zeitlos macht. Während das Werk also schon wegen des Forschungsüberblick Pflichtlektüre bleibt*, ist es bei Einzelfragen nolens volens doch etwas veraltet.
Wie auch immer dies für Hadrian beurteilt wird, zeigt die Konfrontation Hadrians mit dem Senat gegen Ende seiner Herrschaft doch die Funktionsweise des Mechanismus. Und er betrachtet die einzelnen Kaiser ja ausdrücklich unter dem "Thema 'Entwicklung des Prinzipates' ".
Allerdings geht er bezüglich des Threadthemas noch davon aus, "dass in jener, politisch sonst recht ungestörten Zeit und beim Fehlen einer monarchischen Tradition die Macht, welche das römische Kaisertum einem einzelnen verlieh, eben viel zu groß war, als dass ein Durchschnittsmensch oder noch weniger sich beiihrem Besitze im geistigen und seelischen Gleichgewicht halten konnte" und spricht noch vom Cäsarenwahn. Bezüglich "der Psychopathologie verweist er auf Albert Esser, Caesar und die Julisch-Claudischen Kaiser im biologisch-ärztlichen Blickfeld, Leiden 1958. Er sieht dies trotz aller Quellenkritik gegeben, schreibt hier also schon damals konservativ.
Dass Macht korrumpiert gehört nun zum Repertoire des 20. Jahrhunderts und wird auch heute trotz aller Gegenbeispiele noch gleichsam als Naturgesetz gewichtet nachgeplappert und seit 1958 sind über 60 Jahre vergangen.
Heute sehen wir doch wieder, dass die Kaiser individuell zu beurteilen sind, was Dahlheim auch in seiner Ergänzung des Forschungsüberblicks zur Kaiserzeit ausdrückt. Hinzu kommt, dass die Funktionsweise der senatorischen Geschichtsschreibung nicht mehr so einfach von der Hand zu weisen ist.
Und auch Heuss beurteilt die Kaiser ja letztendlich individuell, folgt aber mehr den Geschichtsschreibern als es heute üblich sein dürfte.
Und da ist es wieder, das alte Problem der Einschätzung. Da müssen wir heute auch zugeben, dass wir mehr auf Kritik hin getrimmt sind als die Generation, der Heuss (*1909) angehörte. Aber es sind eben auch die Mängel und Möglichkeiten der antiken Geschichtsschreibung weiter untersucht worden. Wenn wir heute 'wissen', das Propaganda weitgehend unkritisch übernommen wurde, müssen wir uns von Autoritäten lösen, für die dies so klar noch nicht feststand.
Mitunter werden auch die anderen Quellen zu wenig gegenüber den Geschichtsschreibern gewertet. Wir haben ja durchaus Inschriftlich überlieferte Äußerungen, etwa Reden von Hadrian und Claudius. Des Claudius Worte etwa entsprechen zwar tatsächlich nicht antiker Redekunst, dafür aber in etwa modernen professoralen Vorträgen und eben nicht dem unzusammenhängenden Gestammel eines Verrückten. Wir sehen klar, dass er einfach anders dachte und sprach als seine mit Stilübungen verbildeten Zeitgenossen. Sie werden ihn entsprechend schlecht verstanden haben. Nachdem Nero die Ablehnung seines Stiefvaters deutlich gemacht hatte, war die Art der Kritik vorgezeichnet, zumal zwar am Grad der körperlichen Unzulänglichkeiten des Kaisers gezweifelt werden kann, aber nicht an ihrer Existenz. Bis heute sind ja Vorurteile gegen die geistige Gesundheit körperlich Eingeschränkter geradezu endemisch vorhanden. Wir kennen das zudem aus unserer eigenen Zeit, wenn jemand jenseits üblicher politischer Redekunst und Worthülsen agiert. Da zeigt auch unsere angeblich so aufgeklärte Zeit eine Ablehnung der ratio zu Gunsten der Form. Heute kann es auch nicht mehr als grundsätzlich verdächtig gelten, Frauen Verantwortung zu übertragen, insbesondere für Claudius, dessen Bildung von Frauen statt wie üblich von Männern organisiert wurde. All das vor Augen müssen wir Claudius einfach anders beurteilen als Heuss, ohne dass diesen wirkliche Kritik treffen muss: Er arbeitete auf anderer Grundlage und schuf damit auch selbst neue Grundlagen.
Ich würde also weder sagen, dass er unkritisch wiederhohlt, noch dass er die Quellen richtig einschätzte.
* Für die, die ihn nicht gelesen haben: Er schrieb die Römische Geschichte samt Forschungsüberblick ausdrücklich (auch) für Laien und Studenten. Dadurch vermittelt er einen Überblick zur Forschungsdiskussion, der in solchen Geschichten schon zu seiner Zeit nicht mehr gegeben wurde, früher aber selbstverständlich war. So kann die Darstellung dem Zeitgeist entsprechend erfolgen, ohne dass bloß eine Geschichte erzählt wird. Durch die Ergänzungen zur Forschung wird dem Einsteiger immer noch eine erstklassige Hilfestellung gegeben.
P.S.: Oh, ich sehe gerade, dass es '83 nur ein Nachdruck der 5. Auflage war.