Das russische Selbstbild

Ja, die Mentalität "der" Russen wird in den Dokus gut dargestellt, aber die Mentalität "der" Ukrainer ist nicht viel anders – trotzdem werden nicht nur hierzulande die ersteren dämonisiert und die letzteren heroisiert, obwohl in der Ukraine auch unter Selenskij eine Korruption herrschte, die der in Russland kaum nachstand.

Dieser Artikel Ukraine: Korrupt wie eh und je erschien fast auf den Tag genau ein Jahr vor dem Angriff Russland auf die Ukraine.
Verzeihung, aber das ist doch Unfug. Ich weiß, dass Du Deine Meinung inzwischen nicht mehr so scharf formulierst, möchte aber dennoch meinen Senf zu dieser Aussage dazugeben. Denn ganz abgesehen davon, dass die Korruption in der Ukraine seit 2019 und der Präsidentschaft Selenskyjs auf dem Rückzug ist (von Platz 126 auf Platz 104 im Korruptionswahrnehmungsindex), während sie in Russland stetig zunimmt (Platz 137 auf 141), ist Korruption ein denkbar schlechter Aspekt, an dem man die Mentalität der Ukrainer bzw. Russen festmachen könnte. Russland teilt sich im heurigen Index einen Platz mit Uganda, trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, die Russen mit den Ugandern zu vergleichen.
 
Verzeihung, aber das ist doch Unfug.
Der Artikel, auf den ich mich bezog, ist vom 25. Februar 2021, also ein Jahr vor dem Angriff Russlands auf Ukraine - vielleicht hast du den nicht gelesen.

Unbestritten ist, dass seit dem Kriegsbeginn Selenskyj einiges gegen Korruption getan hat, dies sicher auch, weil sonst die westlichen Hilfen vermutlich weniger üppig ausgefallen wären.

Es geht hier aber um russisches Selbstbild, und in diesem Zusammenhang auch ein wenig um andere "slawischen" Staaten, in denen Korruption eine größere Rolle spielt als im Westen, Italien mal ausgenommen – @Zoki55 hat dazu einiges in #15 geschrieben.

Das Problem ist alt – siehe dazu auch meinen Beitrag #12 – verursacht durch Jahrhunderte dauernde Fremdherrschaft der Mongolen (Russland, Ukraine) und der Osmanen (Balkan), um nur einige zu nennen.

In diesem Zusammenhang darf man auch Italien nennen, die lange Zeit in Teilen durch Deutsche, Spanier und Franzosen fremdbeherrscht war, was z.B. die Steuerhinterziehung (früher eine Ehrensache!) endemisch und damit den (fremden) Staat arm machte, was sich bis heute, im eigenem Staat, leider fortsetzte: Auch heute sind Italiener verhältnismäßig reich und der Staat arm; der Staat ist bei den eigenen Bürgern verschuldet.

Das Minderwertigkeitsgefühl der Osteuropäer stammt aus der wirtschaftlichen Misere, dem Gefühl des Abgehängtseins, was Männer mit übertriebener Männlichkeitsgehabe zu kompensieren versuchen und alles nicht Männliche bekämpfen – deshalb die Unterdrückung der Frauen und die Aggressionen gegen LGBT-Menschen; diese Liste zeigt die möglichen Korrelationen zwischen den LGBT-Toleranz, Religion und Wohlstand in den einzelnen Staaten.
 
Es geht hier aber um russisches Selbstbild, und in diesem Zusammenhang auch ein wenig um andere "slawischen" Staaten, in denen Korruption eine größere Rolle spielt als im Westen, Italien mal ausgenommen – @Zoki55 hat dazu einiges in #15 geschrieben.

Das Problem ist alt – siehe dazu auch meinen Beitrag #12 – verursacht durch Jahrhunderte dauernde Fremdherrschaft der Mongolen (Russland, Ukraine) und der Osmanen (Balkan), um nur einige zu nennen.
Das ist jetzt nicht dein Ernst, dass du Korruption mit der (sehr kurzen) Mongolenherrschaft oder der osmanischen Herrschaft erklären willst.
 
In diesem Zusammenhang darf man auch Italien nennen, die lange Zeit in Teilen durch Deutsche, Spanier und Franzosen fremdbeherrscht war, was z.B. die Steuerhinterziehung (früher eine Ehrensache!) endemisch und damit den (fremden) Staat arm machte, was sich bis heute, im eigenem Staat, leider fortsetzte: Auch heute sind Italiener verhältnismäßig reich und der Staat arm; der Staat ist bei den eigenen Bürgern verschuldet.
Du kannst an den inneritalienischen Verhältnissen festmachen, dass diese Erklärung - mit Verlaub - Unsinn ist.

Die Probleme mit der Korupption und der organisierten Kriminalität hat vor allem der Süden, der früher das neapolitanische bzw. neapolitanisch-sizilianische Reich bildete.
Dieser Raum wurde tatsächlich lange von auswärtigen Monarchen Beherrscht (auf deinen begriff von "Fremdherrschaft" komme ich gleich noch), wer aber die italienische Geschichte ein wenig kennt, dem ist klar, dass etwa die Lombardei, die diese Probleme nicht hat, eine veergleichbar lange Zeit hindurch von verschiedenen Linien der Habsburger behrrscht wurde.
Auch die Toskana stand recht lange unter auswärtigem Einfluss und hat dieses Problem nicht in dem Maße, wie der Süden.

Im Übrigen, ist deine Auffassung, dass das diese Gebiete maßgeblich durch Deutsche, Spanier und Franzosen beherrscht wurden so, jedenfalls bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht richtig.
Im Besonderen Neapel-Sizilien, die Lombardei und die Toskana wurden zwar über Jahrhunderte von Monarchen aus deutschen, spanischen und französischen Herrscherhäusern regiert, aber bis ins 19. Jahrhundert war das stets eine Personalunion oder ees waren sogar Sekundogenituren sprich Nebenreiche der Dynastie gänzlich ohne Verbindung zu den Hauptterritorien dieser Familien, keine Realunion dieser Territorien mit den deutschen, französischen oder spanischen Gebieten, was bedeutet, dass neben der Oberherrschaft des auswärtigen Monarchen die wichtigen Ämter in der Regel mit Einheminschen besetzt waren und diese vor Ort auch die wesentlichen Entscheidungen trafen, gegebenenfalls unter der Aufsicht eines Statthalters des Monarchen, aber eswurden in der Regel nicht in größerem Maße Entscheidungsträger von außerhalb dort hin importiert, die gegen die Interessen des Gebietes regiert hätten.

Der Unterschied dürfte viel mehr einfach darin liegen, dass die Herausforderungen an die sich herausbildende Staatlichkeit im Norden größer waren, als im Süden und dementsprechend die Notwendigkeit zur Ausprägung eines effektiven Systems im Norden größer war.

Süditalien war durch den Kirchenstaat was Landgrennzen betrifft von den großen europäischen Konfliktherden immer weitgehend abgschirmt. Norditalien lag mittenn drinn.
Entsprechend größer dürfte die Notwendigkeit gewesen sein in irgendeiner Form die Landesverteidigung etc. zu organisieren, entsprechend höher der Druck zum Aufbau von effiziente Verwaltungsapparaten, die derlei leisten konnten, entsprechend größer die Tendenz zu einem mehr meritokratischen System anstelle eines auf Personenbeziehungen beruhenden, für Korruption anfälligen Patronagesystem.
 
Das ist jetzt nicht dein Ernst, dass du Korruption mit der (sehr kurzen) Mongolenherrschaft oder der osmanischen Herrschaft erklären willst.
Die Herrschaft der Goldenen Horde über Russland dauerte 250 Jahre, was ich als lang bezeichne. Die Osmanen herrschten sogar 500 Jahre auf dem Balkan. Wer meint, solche langen Zeiträume hinterlassen keine Spuren, der sollte auch sagen können, wie sonst sich die Anfälligkeit zu diktatorischen Regierungsformen und der damit zusammenhängenden weitgehenden Rechtlosigkeit, der Korruption und der Mangel an allgemeinen Wohlstand in diesen Ländern erklärt.
 
Die Herrschaft der Goldenen Horde über Russland dauerte 250 Jahre, was ich als lang bezeichne. Die Osmanen herrschten sogar 500 Jahre auf dem Balkan. Wer meint, solche langen Zeiträume hinterlassen keine Spuren, der sollte auch sagen können, wie sonst sich die Anfälligkeit zu diktatorischen Regierungsformen und der damit zusammenhängenden weitgehenden Rechtlosigkeit, der Korruption und der Mangel an allgemeinen Wohlstand in diesen Ländern erklärt.
Zum einen hatte diese Herrschaft sehr verschiedene Ausprägungen.

Zum anderen würde mich jetzt mal interessieren, wie du auf die Idee kommst, das ausgerechnet die Herrschaft des Osmanischen Reiches die herausbildung von korruption befördert habe.
Immerhin gab es im Osmanischen Reich, jedenfalls in den Kerngebieten so weit mir bekannt kein Feudalsystem, dass besonders stark auf Personenbeziehungen beruht hätte, sondern einen (wenn auch rudimentären) zentral gesteuerten Verwaltungsapparat, in dessen System die Repräsentanten und Amtsträger des Herrschers turnusmäßig (jedenfalls war das der Idealfall) immer wieder in andere Gebiete des Reiches versetzt wurde, um eben Verbindungen der Funktionsträger mit den lokalen Eliten und Verfilzung und Korruption von Beginn an einen Riegel vorzuschieben.
Die Verwaltung des Osmanischen Reiches bzw. der Provinzen wird man sich von dem her wahrscheinlich als näher am Modell der Römischen Repubilk, als am feudalen Europa vorstellen können.

Dieses Reich hat nicht über Jahrhunderte gut funktioniert, weil es seinn Hauptmerkmal gewesen wäre Korruption und administrative Ineffizienz hervorzubringen.
 
Die Herrschaft der Goldenen Horde über Russland dauerte 250 Jahre, was ich als lang bezeichne.
Es handelte sich aber großteils um keine direkte Herrschaft. Die meisten russischen Fürstentümer blieben bestehen und waren der Goldenen Horde tributpflichtig. D.h. betroffen von der Herrschaft der Goldenen Horde waren vor allem die Fürsten selbst, die Tribut zahlen, Truppen stellen und regelmäßig vor dem Khan erscheinen mussten (verbunden mit der Gefahr, nicht mehr zurückzukehren). Im Inneren blieben die Fürstentümer aber autonom. D.h. für die Masse der Untertanen sollte sich die Betroffenheit durch die Fremdherrschaft in Grenzen gehalten haben, wenn man von der möglicherweise erhöhten Abgabenlast und den fallweisen Strafexpeditionen der Mongolen absieht. Eine direkte mongolische Verwaltung oder gar Mongolisierung gab es also in weiten Gebieten nicht.
 
Korruption ist zunächst mal nur ein Ausdruck von unzureichender staatlicher Kontrolle, gepaart mit einem Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage bei Waren und Dienstleistungen. Wobei Ersteres nicht nur die Fähigkeit des Staates meint, seine Normen durchzusetzen, sondern auch das fehlende Vertrauen der Menschen in den Staat. Selbst die angeblich unbestechliche preußisch-deutsche Beamtenschaft war in den ersten Nachkriegsjahren eine Brutstätte der Korruption. Einen Zusammenhang zur Mentalität, gewissermaßen zum Wesen einer Gesellschaft würde ich nicht so einfach herstellen wollen. Es stellt sich nämlich immer die Frage, ob die Gesellschaft ein korruptes System überhaupt überwinden kann. Einen Zusammenhang könnte man allenfalls dann sehen, wenn eine Gesellschaft das Überleben eines korrupten Systems ohne Not zulässt. Und das wird man kaum jemals bejahen können. Systemisch korrupt sind in meinen Augen nur bestimmte Gesellschaften Afrikas und Zentralasiens, wo das Verteilen-Können von Geschenken als Statussymbol gilt, quasi im Sinne altrömischer Dekadenz ein mächtiger, angesehener Mann daran erkannt wird, dass er seinen Anhängern Posten und Einkünfte verschafft.
 
Zum anderen würde mich jetzt mal interessieren, wie du auf die Idee kommst, das ausgerechnet die Herrschaft des Osmanischen Reiches die herausbildung von korruption befördert habe.
Du weißt aber schon, was das Wort Bakschisch bedeutet, oder? Falls nicht, hier ein Zitat:

Im deutschsprachigen Raum, dem Balkan und anderen Ländern des ehemaligen osmanischen Reiches ist Bakschisch umgangssprachlich ein Ausdruck für Schmiergeld.

Als ich es mal mit Computern auf MS Europa zu tun hatte, erzählte ein Offizier in einer kleinen Runde, dass der Kapitän in seinem Safe stets mehrere hunderttausend Euro in bar mitführe, um in Alexandria (eigentlich in Port Said) – aber danke @dekumatland für die Nennung des Namens – die reibungslose Durchfahrt durch Suezkanal zu ermöglichen, weil es sonst dem Diensthabenden einfallen könnte, das Schiff vermessen zu lassen, was mehrere Tage dauerte und auch eine Menge Geld kostete. Warum? Er würde behaupten, er glaube (fremden) Schiffspapieren nicht, und die Gebühren für die Durchfahrt richten sich nach Schiffsgröße, und es gebe so viele Betrüger ...

Es handelte sich aber großteils um keine direkte Herrschaft. Die meisten russischen Fürstentümer blieben bestehen und waren der Goldenen Horde tributpflichtig. D.h. betroffen von der Herrschaft der Goldenen Horde waren vor allem die Fürsten selbst, die Tribut zahlen, Truppen stellen und regelmäßig vor dem Khan erscheinen mussten (verbunden mit der Gefahr, nicht mehr zurückzukehren). Im Inneren blieben die Fürstentümer aber autonom. D.h. für die Masse der Untertanen sollte sich die Betroffenheit durch die Fremdherrschaft in Grenzen gehalten haben, wenn man von der möglicherweise erhöhten Abgabenlast und den fallweisen Strafexpeditionen der Mongolen absieht. Eine direkte mongolische Verwaltung oder gar Mongolisierung gab es also in weiten Gebieten nicht.
Das widerspricht ein wenig dem, was @Scoprpio in einem anderem Faden sagte:

In Russland haben Tartaren und Mongolen mit großer Grausamkeit Terror als politische Waffe eingesetzt, und die rivalisierenden Bojaren haben ganz selbstverständlich solche Methoden angewendet. Vor diesem Hintergrund fielen die Methoden, die Iwan IV. angewendet hat auch keineswegs aus dem Rahmen, sondern entsprachen durchaus dem, was man seit langem gewohnt war.
Das heißt auch: Iwan IV. und seine Nachfolger haben die Methoden des Regierens von den Tataren und Mongolen bis ins 19. Jahrhundert – und darüber hinaus – übernommen.

Ich schrieb schon: Diktatorisches Regieren beinhaltet weitgehende Rechtlosigkeit weiter Kreise der Bevölkerung, die schon froh sein müssen, genug zu essen zu haben. Und auf der anderen Seite eine Klasse privilegierter, die sich auf Kosten des Staates bereichern und ihr Reichtum im Westen (bis vor 2 Jahren) verprassten. Nur heißen sie nicht mehr Fürsten, wie im 19. Jahrhundert, sondern Oligarchen.

Korruption ist zunächst mal nur ein Ausdruck von unzureichender staatlicher Kontrolle, gepaart mit einem Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage bei Waren und Dienstleistungen.
Nicht immer ist dem so: Wie ich oben versucht habe darzustellen, ist oft die unzureichende Bezahlung der staatlichen Beamten und Angestellten die Ursache dafür, dass Hand aufgehalten wird. Oder durch die Ausnützung von Machtpositionen, die deswegen heißt begehrt sind und oft durch Bestehung anderer erreicht werden. Der betreffende Staat duldet das alles, denn wissend um diese Nebenverdienste, muss er für seine Leute weniger Geld aufwenden.

Wobei Ersteres nicht nur die Fähigkeit des Staates meint, seine Normen durchzusetzen, sondern auch das fehlende Vertrauen der Menschen in den Staat.
Das fehlende Vertrauen der Menschen in den Staat halte ich für das entscheidende Motiv für Korruption: Bevor ich mich an den Staat wende, helfe ich mir selbst, in dem ich einen Beamten oder sonst jemand in der Machtposition besteche. Das fängt schon bei kleinen Sachen an und setzt sich fort bis zu den Spitzen eines Staates.
 
Du weißt aber schon, was das Wort Bakschisch bedeutet, oder?

Darf ich fragen, hast du die verlinkte Wiki-Seite denn gelesen?

Denn wenn ja müsstest du gelesen haben, dass der Ausdruck ursprünglich aus dem Persischen stammt, also nicht orriginär kulturelle Eigenheiten des Osmanischen Reiches bezeichnet haben, sondern dorthin eingewandert sein wird.

Gemäß der englischen Seite dazu hat der Begriff auch Bedeutungen, die sich wohl als "Spende" oder "mildtätige/wohltätige Gabe) übersetzen lassen und nicht unbedingt orriginär Schmiergeld oder Korruption meinen.


Der Umstand, dass ein Begriff existiert, der als "Schmiergeld" verstanden werden kann, belegt allerdings durchaus nicht, dass der Raum in dem er kursiert im Vergleich zu anderen übermäßig korrupt wäre.

Es gibt sicherlich seit dem 19. Jahrhundert in Europa vermehrt die Vorstellung eines despotischen und korrupten "Orients", die Frage ist aber, ob das tatsächlich so sehr an kulturellen Eigenarten liegt oder einfach am Blick einer immer stärker organisierten und durchstrukturieren Gesellschaft auf dem Weg in die industrielle Moderne, auf eine noch vormoderne Agrargesellschaft?

Schaut man sich demgegenüber z.B. mal Europa im 18. Jahrhundert an, wird man da ziemlich viele Räume für Korruption im Großen Stil finden.

- Z.B. bei der Besteuerung. In Teilen Europas sind bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die Bodenflächen überhaupt nicht präzise vermessen und kartiert. Das heißt die Höhe der auf dem Grund und Boden liegenden Abgabenlast, die zu entrichten war, konnte allenfalls grob geschätzt werden. Wohl dem, der sich mit dem Steuereintreiber gut stand, der für die Schätzung zuständig war. Oder der in der Lage war sich selbst in das Amt eines Steuereintreibers für den eigenen Bezirk einzukaufen.

- Ämterkauf? Völlig normal. Ich habe vor einem halben Jahr eine etwas ältere Wellington-Biographie gelesen. Noch im ausgehenden 18. Jahrhundert war es etwa in der britischen Armee vollkommen üblich sich einfach ein Offizierspatent zu kaufen. Beförderungen liefen oft nur dann, wenn der Kandidat in der Lage war das Offizierspatent eines höherrangigen Vorgesetzten, der aus dem militärischen Dienst ausschied aufzukaufen. Auf diese Weise fungierten Offizierspatente gleichzeitig als eine Art handelbare Altersvorsorge, was nach modernen Maßstäben vollkommen absurd ist, in einer vormodernen Gesellschaft aber als völlig normal galt.


Man könnte das weiter ausführen.

Wenn in den letzten beiden Jahrhunderten oder vielleicht in den letzten anderthalb Jahrhunderten, die Verhältnisse auf dem Balkan und im Osmanischen Reich von Beobachtern aus dem Westen als extrem korrupt wahrgenommen wurden, könnte es durchaus mehr damit zu tun haben, dass man es in West- und Mitteleuropa durch immer stärker ausgebaute staatliche und verrechtliche Strukturen Institutionen, Reglemments und Kontrollen schaffte, die in einer vormodernen Gesellschaft völlig normale Korruption ein wenig einzudämmen, als dass daran, das solche Korruption für das Osmanische Reich oder den Osmanischen Balkan im besonderen Maße kennzeichnend gewesen wäre.
Jedenfalls im Vergleich zu anderen vormodernen Agrargesellschaften.

An und für sich hatte das Osmanischen Reich über Jahrhunderte ein Regierungssystem, dass in seinen Grundstrukturen Korruption sicherlich weniger förderlich war, als das Europäische Feudalsystem (abseits der Stadtrepubliken, die da ein Sonderfall sind), wo wirklich alles über Personenbezieungen lief, was für Korruption nahezu unendliche Räume ließ.
Denken wir z.B. mal an an den ganz offiziellen Kauf von Stimmen zur Königswahl im Heiligen Römischen Reich oder in Polen-Litauen.
 
Der Umstand, dass ein Begriff existiert, der als "Schmiergeld" verstanden werden kann, belegt allerdings durchaus nicht, dass der Raum in dem er kursiert im Vergleich zu anderen übermäßig korrupt wäre.
Das ist wieder eine Irreführung der Leser - deshalb: Der Begriff Bakschisch kann nicht nur als Schmiergeld verstanden werden – er wird so verstanden!

Es gibt sicherlich seit dem 19. Jahrhundert in Europa vermehrt die Vorstellung eines despotischen und korrupten "Orients", die Frage ist aber, ob das tatsächlich so sehr an kulturellen Eigenarten liegt oder einfach am Blick einer immer stärker organisierten und durchstrukturieren Gesellschaft auf dem Weg in die industrielle Moderne, auf eine noch vormoderne Agrargesellschaft?
Die Frage ist schlicht: Warum hat das Osmanische Reich es nicht geschafft, “modern” zu werden, schließlich hatte er die gleichen, wenn nicht sogar größere Ressourcen und Möglichkeiten wie der sog. Westen gehabt.

Die gleiche Frage muss man auch in Bezug auf das russische Reich stellen. Ich habe eine mögliche Erklärung dafür geliefert, von dir und von @El Quijote bekomme ich aber für sie nur eine Verneinung, ohne einer eigenen Erklärung für diese Fakten, die du übrigens auch nennst:
Wenn in den letzten beiden Jahrhunderten oder vielleicht in den letzten anderthalb Jahrhunderten, die Verhältnisse auf dem Balkan und im Osmanischen Reich von Beobachtern aus dem Westen als extrem korrupt wahrgenommen wurden, könnte es durchaus mehr damit zu tun haben, dass man es in West- und Mitteleuropa durch immer stärker ausgebaute staatliche und verrechtliche Strukturen Institutionen, Reglemments und Kontrollen schaffte, die in einer vormodernen Gesellschaft völlig normale Korruption ein wenig einzudämmen, als dass daran, das solche Korruption für das Osmanische Reich oder den Osmanischen Balkan im besonderen Maße kennzeichnend gewesen wäre.

Jedenfalls im Vergleich zu anderen vormodernen Agrargesellschaften.

An und für sich hatte das Osmanischen Reich über Jahrhunderte ein Regierungssystem, dass in seinen Grundstrukturen Korruption sicherlich weniger förderlich war, als das Europäische Feudalsystem (abseits der Stadtrepubliken, die da ein Sonderfall sind), wo wirklich alles über Personenbezieungen lief, was für Korruption nahezu unendliche Räume ließ.
So gut kann das osmanische Regierungssystem nicht gewesen sein - wäre es das, das Reich würde weiter bestehen und prosperieren wie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ich habe dazu schon in anderen Fäden einige Gründe genannt, aber das hier ist ein Faden über das russische Selbstbild, deswegen sollen wir das nicht vertiefen bzw. die Diskussion von damals nicht wiederholen.

Also, @Shinigami, erkläre mir bitte mal, warum das russische Reich die Moderne verschlafen hat. Und warum man dort weder in der zaristischen Zeit noch in der Zeit der Kommunisten und auch in der Zeit danach es nicht geschafft hat, an die Entwicklungen im Westen anzuschließen, obwohl man es in allen diesen Zeitabschnitten versucht hat.
 
Das ist wieder eine Irreführung der Leser - deshalb: Der Begriff Bakschisch kann nicht nur als Schmiergeld verstanden werden – er wird so verstanden!
Es wird vielleicht hier so verstanden, was nicht bedeutet, dass das Verständnis anderswo auch so eindeutig wäre.

Die Frage ist schlicht: Warum hat das Osmanische Reich es nicht geschafft, “modern” zu werden, schließlich hatte er die gleichen, wenn nicht sogar größere Ressourcen und Möglichkeiten wie der sog. Westen gehabt.
Den großen Ressourcen stand allerdings auch ein riesiges Reich gegenüber und dementsprechend große Kosten um das alles zu modernisieren und vor allem auch große Schwierigkeiten die Ressourcen auch aktivieren zu können. Ansonsten könnte eine Antwort durchaus einfach in den wirtschaftlichen Möglichkeiten zu sehen sein.

Die modernen Staatsapparate in Westeuropa, die Abläufe zunehmend standardisierten, reglementierten und kontrollierten, wuchsen vor allem im 19. Jahrhundert stark und das hing natürlich auch damit zusammen, dass durch die Profite der Industrialisierung auch die Staatseinnahmen aus der Besteuerung massiv anwachsen konnten, was es erst ermöglichte staatliche Apparate auszubauen, die wirklich bis in die tiefe Provinz hineinreichten und die Verkauf von Funktionen und Kooperation mit Privatleuten weitgehend überflüssig machten.

Die Leistung Europas was die Institutionalisierung und den Ausbau der Staaten betrifft besteht ganz wesentlich aus der sukzessiven Ausschaltung der Zwischengewalten, der damit verbundenen Monopolisierung von Steuereinnahmen beim Staat oder dessen Gliedern, im Aufbau eines einigermaßen breit aufgestellten Bildungssystems, dass immer auch genug Nachwuchs für die Ausbildung einer breit aufgestellten Administration liefern konnte und in einem Hervorbringen einer einigermaßen leistungsfähigen Wirtschaft, die leistungsfähig genug war um das tragen zu können.
Wenn andere Regionen die Industrialisierung als grundlage nicht so einfach nachvollziehen konnten, hängt das mitunter auch damit zusammen, dass sie zum Teil durch eine von den europäischen Mächten aufgezwungene, ruinöse Freihandelspolitik daran gehindert wurden.

Die gleiche Frage muss man auch in Bezug auf das russische Reich stellen.
Tja, warum hielt Russland vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert bei der Modernisierung nicht schritt?

Es hat durchaus immer wieder die These gegeben, dass Russlands Rückständigkeit/Innovationsfeindlichkeit zu einem erheblichen Teil schlicht der Große des Landes und seiner dünnen Besiedlung geschuldet sei.
Die Vorstellung hier wäre, dass Russlands Bevölkerung schier unendliche Möglichkeiten hatte extensiv zu wachsen, sprich wenn der Bevölkerungsdruck zu groß wurde, einfach das nächste brachliegende Stück Land unter den Pflug zu nehmen, anstatt sich Gedanken darüber zu machen, wie die Erträge des vorhandenen Landes zu erhöhen sein um damit eine größere Bevölkerung versorgen zu können.

Das könnte durchaus zu einer gewissen Geringschätzung von technischen Lösungen und Bildung beigetragen haben, jedenfalls bevor es mit der Industrialisierung richtig los ging.

Ein anderes Problem, was das Wirtschaftliche betrifft, dürfte in der traditionellen russischen Dorfgemeisnchaft liegen, die Grund und Boden zum Teil tatsächlich als Kollektivbesitz verwaltete, was zu periodischen Umverteilungen von Land innerhalb der Gemeinschaft führte.
Das war möglicherweise ein sozial einigermaßen gerechts System, weil es den Lebensumständen der Mitglieder der Gemeinschaft einigermaßen flexibel Rechnung tragen konnte allerdings unterminierte rigider Flurzwang und der Mangel an Eigentum dabei natürlich jede Form von Eigeninitiative und Modernisierungstendenz.
Warum die Qualitäten eines Stücks Boden verbessern, wenn man es demnächst möglicherweise wieder abtreten muss? Wie neue Kulturpflanzen einführen und vielleicht Fruchtfolgen auf den Feldern verbessern, wenn es durch den Flurzwang und die verordnete gemeinsame Abgabenlast, die bestimmte Produkte forderten, weitgehend verboten war?

Ein anderes Problem war sicherlich die Weite des Landes.
Das bedeutete extrem lange Nachrichtenwege, in unheilvolleer Kombination mit einem zentralistischen System. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, wo ich das gelesen habe, könnte bei Hildermeier gewesen sein:
Bis weit ins 19. Jahrhundert dauerte allein die Übermittlung von Verordnungen und Anweiseungen des Zaren bis in die Provinzhauptstädte hinein Wochen bis Monate.
Muss man natürlich etwas relativieren, weil im weit entfernten Sibirien kaum jemand lebte und andere Wege so lang dann nicht waren, nichts desto weniger dauerte es verglichsweise lange und genau so lange natürlich auch die Kommunikation in die andere Richtung.

Die großen Entfernungen machten auch den Bau und Unterhalt von besseren Straßen und Kommunikationsinfrastruktur enorm kostspielig.
Wollte man etwa eine Verkehrsverbindung von St. Petersburg, via Moskau nach Kasan errichten, waren das Luftlinie mal eben an die anderthalbtausend Kilometer und wenn man günstiges Terrain für Bau und Streckenführung berücksichtigte, wahrscheinlich doppelt so viel.
Und das ganze natürlich unter extrem widrigen Klimabedingungen.
Versuch z.B. mal eine Straße oder eine Eisenbahnlinie unter den Bedingungen eines russischen Winters oder der Rasputiza das ganze Jahr über dauerhaft passierbar zu halten. Da brauchst du, wenn es überhaupt möglich ist Heerscharen von Personal um das bewältigen zu können, die sich mit nichts anderem mehr beschäftigen konnten.

Wenn aber immer wieder hohe Instandhaltungskosten anfallen, bleibt wenig an Mitteln für Modernisierung und wenn die Kommunikationswege elendig lang sind und immer wieder unterbrochen werden, ist es natürlich sehr schwer eine funktionierende Administration zu schaffen, im Besonderen wenn man ein zentralistisches System bevorzugt und es darin ausschließt den Provinzen selbst viel Spielraum zu geben.
Langsame Verkehrswege etc. machen natürlich auch jede Form von Inspktionswesen ineffektiv.
Wenn Nachrichten mit Anweisungen schon wegen widriger Bedingungen nur sehr langsam durchkommen, gilt das natürlich auch für Inspektoren, die überwachen sollen, ob Anweiseungen tatsächlich befolgt werden.
Und wenn mit regelmäßiger Inspektion nicht zu rechnen ist, weil die mangelhafte Infrastruktur das ohnehin sehr erschwert, verleitet das natürlich dazu nicht genehme Anweisungen aus dem Zentrum nicht oder nur sehr zögerlich tatsächlich umzusetzen.
 
So gut kann das osmanische Regierungssystem nicht gewesen sein - wäre es das, das Reich würde weiter bestehen und prosperieren wie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit.
Dieses Reich prosperierte bis ins 17. jahrhundert hinein, vor allem im 18. und 19. jahrhundert wurde es dann allmählich abgehängt.
Das war aber eben die Zeit, in der sich in Europa das Modell des Absolutismus durchsetzte und das Feudalwesen verdrängte.
Gegenüber diesem System, dass die Zwischengewalten sukzessive ausschaltete und einen Immeediatzugriff des Staates auf den einzelnen Untertanen immer stärter durchsetzte, geriet das System des Osmanischen Reiches ins Hintertreffen. Gegenüber dem alten Feudalsystem, war es durchaus im Vorteil.

Also, @Shinigami, erkläre mir bitte mal, warum das russische Reich die Moderne verschlafen hat. Und warum man dort weder in der zaristischen Zeit noch in der Zeit der Kommunisten und auch in der Zeit danach es nicht geschafft hat, an die Entwicklungen im Westen anzuschließen, obwohl man es in allen diesen Zeitabschnitten versucht hat.
Die Vorstellung, dass man es, jedenfalls im späten Zarenreich oder in Form der Sowjetunion nicht geschafft habe, würde ich so nicht teilen.

Das ausgehende Zarenreich war durchaus auf dem Sprung in die industrielle Moderne, entsprechende Entwicklungen dahin liefen spätestens seit den 1890er Jahren spührbar, nur wurde das Gannz durch den Ersten Weltkrieg und den folgenden Russischen Bürgerkrieg abgewürgt und stark zurück geworfen, was mitunter damit zusammen hing, dass Russland den Zugriff auf die wirtschaftlich am Besten entwickelten Gebiete in den Westprovinzen und der Ukraine mindestens zeitweise verlor.

Die Sowjetunion schafft ja den Sprung in die industrielle Moderne und ich weiß auch nicht, ob dieses Land als besonders korrupt gelten kann. Es war sicherlich in seinem Wirtschaftssystem ineffizient, was verschiedene Gründe hatte:

- Zu hohe Militäraufsgaben die Kapital banden, dass zur fortlaufendenn Modernisierung von Infrastruktur und Wirtschaft eigentlich bnötigt worden wäre.
- Repressives System, dass Verantwortliche, die das Plansoll nicht erfüllten zeitweise als Saboteure verfolgte, was die Bereitschaft erhöhen musste die Zentrale aus Selbstschutz oder Karrieregründe mit Falschinformationeen dahingehend zu versorgen, was die Fehlplanung begünstigte.
- Ausschalten von Marktmechanismen, was es schwer bis unmöglich machte realen Bedarf in bestimmten Bereichen festzustellen.
- Weitgehendes Unverständnis für oder mangelnde Kompatibilität des wirtschaftlichen Systems mit den Bedürfnissen einer modernen Konsumgesellschaft. Die Konsumwünsche der zweiten Hälfte des 20. jahrhunderts kamen ja in den Theorien und Doktrinen, denen das System verhaftet war kaum vor.
Allerdings woher hätte es auch kommen sollen? Lenin und Stalin hatten ihrerzeit mit diesem Problem nicht zu tun, weil es das schlicht noch nicht oder ldiglich in den Anfängen gab. Die maßen Erfolg noch darin, wie viele Tonnen Stahl erzeugt, wie viele Eisenbahnkilometer gebaut und wie viele Fabriken errichtet wurden.
Da ging es vor allem noch um Deckung von Grundbedürfnissen und Erzeugung einfacher Industrieprodukte, was in ihrer Zeit sinnnvoll war. Das Problem dürfte hier einfach die durch den Terror versstärkte Tendenz zur Orthodoxie gewesen sein, denn wenn man jeden politisch repressiert, der Doktrinen und wertmaßstäbe infrage stellt, die mal von Leuten ersonnen wurden, die bereits seit Jahrzehnten tot sind und daher neueren Veränderungen nicht Rechnung tragen kann, arbeitet man eben qua Ideologie ein gutes Stück weit an den aktuellen Problemen vorbei.


Das dürften im Vergleich aber völlig andere Probleme gewesen sein, als im Osmanischen Reich und ich denke auch nicht, dass es besonders viel mit Korruption zu tun hat.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das heißt auch: Iwan IV. und seine Nachfolger haben die Methoden des Regierens von den Tataren und Mongolen bis ins 19. Jahrhundert – und darüber hinaus – übernommen.

Ich schrieb schon: Diktatorisches Regieren beinhaltet weitgehende Rechtlosigkeit weiter Kreise der Bevölkerung, die schon froh sein müssen, genug zu essen zu haben. Und auf der anderen Seite eine Klasse privilegierter, die sich auf Kosten des Staates bereichern und ihr Reichtum im Westen (bis vor 2 Jahren) verprassten. Nur heißen sie nicht mehr Fürsten, wie im 19. Jahrhundert, sondern Oligarchen.
Du denkst zu stark von der Moderne her.

Die Vorstellung, dass die breite Bevölkerung irgendwelche politischen Rechte gehabt hätte, hätte man in der Zeit Ivan IV. schlicht für absurd gehalten.
In der Moderne ist es ein Merkmal diktatorischer Regimes politische Grundrechte ihrer Bürger zu negieren oder zu missachten, in einer Zeit, in der kaum jemand auf die Idee gekommen wäre, dass es solche Rechte überhaupt gäbe und sie nirgendwo vorkamen, konnte das allerdings kein Unterscheidungsmerkmal sein.

Auch passt die Gleichsetzung von Fürsten mit Oligarchen nicht. Fürsten waren zum Teil legitime Träger der Regierungsgewalt, Oligarchen sind das in der Regel nicht.

Was den heutigen russischen Oligarchen vom früheren niederadligen Gutsbesitzer unterscheidet, ist dass ein guter Teil der russischen Oligarchen heute tatsächlich die Funktion ausführt Staatsbesitz zu verwalten und in Teilen nur zu einem geringen Maße tatsächlich im alleinigen Besitz der Quellen seines Reichtums ist.


Man muss sich was die Vormoderne angeht, allerdings zwingend vor Augen führen, dass es einen Unterschied zwischen der Oberherrschaft an einem Gebiet und dem Eigentum daran und an seinen Ressourcen gab und dass aus einer ausgedehnten Oberherrschaft nicht resultierte, dass der Staat selbst innerhalb dieses Gebietes viel besaß, was er an Ressourcen mobilisieren konnte.

Die Abgabenlasten, die die einfache Bevölkerung zu erbringen hatte, waren gemessen an ihrem Gesamteinkommen in der Vormoderne in Teilen nicht so viel größer als heute, der Unterschied bestand vor allem darin, dass der Löwenanteil dieser Abgaben dem Grundherren und nicht dem Herrscher oder dem Staat gegenüber zu leisten waren.
Der vormoderne Staat in der FNZ, hatte nurZugriff auf einen realtiv geringen Anteil am Gesamtabgabenaufkommen des Gebiets, der Löwenanteil ging entweder an die Grundherren oder an die Geistlichkeit

Dementsprechend gering waren die Möglichkeiten des Herrschers/Staates tatsächlich einen raumgreifenden Verwaltungsapparat zu schaffen und zu unterhalten.
Der Unterschied zur Moderne ist, dass es in der FNZ überhaupt nicht als illegitim oder als Missverhältnis galt, dass die Lokale Verwaltung, die Niedergerichtbarkeit etc. nicht beim Herrscher, sondern bei den lokalen Grundbesitzern lag, ganz einfach weil die Vorstellung, dass es sich dabei um öffentliche Angelegenheiten handelte, für die der Staat zu sorgen habe und aufkommen müsse, nicht unbedingt zum Mindset der damaligen Zeitgenossen gehörte.

Den Anspruch die lokale Verwaltung, Rechtspflege, was die Niedergerichtbarkeit und Zivilsachen angeht, als öffentliche Angelegenheit und Aufgabe des Staates zu betrachten, hat sich der Staat erst im Zuge des Absolutismus angeeignet und darauf die Rechtfertigung für die sukzessive Ausschaltung des lokalen Adels und der anderen Zwischengewalten, so wie den Aufbau eines eigenen Apparates und die Aneignung eines Großteils der Abgabenlast begründet.
Es hat in Sachen Verwaltung und Rechtspflege bis ins 19. in Sozialfragen bis ins 20. Jahrhundert gedauert, diesen Anspruch überhaupt durchzusetzen.
Die Vorstellung der Staats sei irgendwie dafür verantwortlich, ist eine sehr moderne. Der vormoderne Staatsapparat der frühen Neuzeit hatte im Prinzip 3 Aufgabenfelder:

1. Landesverteidigung 2. Friedenssicherung nach innen 3. Wahrnehmung der hohen Gerichtbarkeit (sprich vor allem Kapitaldelikte).

Für irgendwas anderes war der staatliche Apparat in den Augen der damaligen Zeitgenossen nicht da und deswegen war es unter diesen Vorstellungen auch folgerichtig ihn auf einem sehr bescheidenen Niveau mit bescheidenen Mitteln zu halten.

Das sich die Grundherren und der Adel im Allgemeinen einen großen Teil der Abgaben aneigneten und dem Herrscher und dem Staat so viel davon nicht blieb, war insofern die lokalen Großen einen erheblichen Teil der Aufgaben erledigten, die sich heute der Staat angeeignet hat und insofern das grundsätzlich auch akzeptiert war, dass es sich damit so verhielt, nicht unbedingt ein Misstand/Missbrauch.



Das unterscheidet sich ganz grundlegend von einem heutigen Oligarchen, der im Staatsbesitz befindliche Unternehmen oder Strukturen verwaltet und dadurch Einnahmen zu unterschlagen oder Gelder für private Zwecke abzuzweigen faktisch in die Staatskasse greift und damit verhindert, dass dem Staat die Mittel zukommen, die er für die Erledigung der eigenen Aufgaben eigentlich benötigen würde.
 
Das widerspricht ein wenig dem, was @Scoprpio in einem anderem Faden sagte:

Das heißt auch: Iwan IV. und seine Nachfolger haben die Methoden des Regierens von den Tataren und Mongolen bis ins 19. Jahrhundert – und darüber hinaus – übernommen.
Ja, die Mongolen haben Terror als politische Waffe eingesetzt – wenn es darum ging, ihre Botmäßigkeit durchzusetzen. Das ändert aber nichts daran, dass sie große Teile Russlands nicht direkt beherrschten, keine direkte mongolische Verwaltung errichteten, große Teile Russlands nicht kolonialisierten und schon gar nicht mongolisierten. Der durchschnittliche russische Untertan hatte im Alltag mit dem lokalen russischen Adel, der lokalen orthodoxen russischen Geistlichkeit, allenfalls seinem Fürsten zu tun. Die mongolische Präsenz bekam er zu spüren, wenn es die Mongolen wieder einmal für nötig hielten, ihre „Rechte“ geltend zu machen und ihre Vorherrschaft durchzusetzen. Ansonsten waren von der mongolischen Herrschaft vor allem die Fürsten selbst betroffen, deren Souveränität stark eingeschränkt war, die die Mongolen stets spüren ließen, dass sie nur von ihren Gnaden regierten, und die stets Gefahr liefen, von Rivalen, die beim Khan erfolgreich gegen sie intrigierten, ausgebootet zu werden.
 
Ich werde, @Shinigami, zu deinen Ausführungen zum Osmanischen Reich nichts mehr sagen, weil es in diesem Faden nur um Russlands Selbstbild gehen sollte.

Also meine Frage war, wie “sich die Anfälligkeit zu diktatorischen Regierungsformen und der damit zusammenhängenden weitgehenden Rechtlosigkeit, der Korruption und der Mangel an allgemeinen Wohlstand” Russlands erklärt.

Diese Frage wurde trotz der vielen Worte von dir nicht befriedigend beantwortet. Es wurden zwar die Weite des Landes, die geringe Bevölkerungsdichte und die schwierige physische Erreichbarkeit und damit schwierige Kontrolle durch den Staat genannt, aber mit diesem Problem haben auch andere Staaten zu kämpfen gehabt – siehe z.B. USA – und haben dennoch den Weg in die Moderne gefunden. Die USA haben diesen Weg Ende des 18. Jahrhundert sogar initiiert und wurden damit ein Vorbild für Europa.

Auch Japan war noch Mitte des 19. Jahrhunderts ein rückständiger Staat, der von der Moderne nichts wissen wollte, sich gegen das Ausland total abschottete - und dennoch den nötigen Sprung binnen eines Jahrhunderts schaffte, ohne dabei seine Identität zu verlieren: Das Land ist immer noch anders als Europa oder USA. Das gleiche gilt auch für Südkorea und Taiwan, um damit in Asien zu bleiben, wo auch der größte Teil der Russischen Föderation liegt.

In Russland dagegen wird gesagt, das Land würde seine Identität verlieren, würde es sich nach westlichem Muster organisieren. Das klingt ganz nach japanischen Einwänden bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch Japaner sagten das, bevor sie eine Modernisierung des Staates starteten, Russen aber haben diese Modernisierungen schon mehrfach versucht durchzuführen - und scheiterten jedes Mal, zuletzt unter Gorbatschow, Jelzin und Putin.

Das Land scheint außerstande, die eigenen Defizite zu erkennen, oder es erkennt sie, aber schafft es nicht, entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen, oder es ergreift sie, aber sie sind nicht von Dauer. Nach kurzen Phasen der Liberalisierung und der Rechtsstaatlichkeit, verfällt das Land in einen Zustand, der dem unter Zaren ähnelt. Und wenn der neue Zar erkennt, das wird wieder nichts mit der Moderne, wird diese Moderne unter Mithilfe der Kirche erst verteufelt und dann offen bekämpft. Der Schuldige für die eigene Misere wird, wie immer bei Diktatoren, im Ausland gesucht, und wer diesem Narrativ widerspricht, wird als vom Ausland gesteuert betrachtet und ins Gefängnis gesteckt. Und das Volk schweigt.
 
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