Hier geht Harald Haarmann noch genauer auf die alteuropäische Schrift ein:
»Die traditionsreiche Lehrmeinung, wonach die Schrift um 3200 v. Chr. von den Sumerern erfunden worden sei, hält sich hartnäckig bis heute, obwohl in Ägypten inzwischen Schriftfunde gemacht worden sind, die noch älter sind. […] Aber auch diese Lehrmeinung trifft nicht mehr zu, seit die alten Kulturschichten Südosteuropas mit Hilfe der Dendrochronogie neu datiert worden sind. Zeiträume, die nach einfachen Radiokarbonmessungen (C 14-Datierung) nur wenige Jahrhunderte umfassten, weiten sich jetzt auf Jahrtausende aus. Der Zeitrahmen der neuen Kulturchronologie bietet so manche Überraschung, wozu auch eine der großen Sensationen der Schriftgeschichte gehört. Die ältesten Schriftfunde der Welt stammen aus dem Gebiet der Donauzivilisation (Abb. 9). Angesichts der erstaunlichen Kulturleistungen der Donauzivilisation und ihres Reichtums an visuellen Motiven kann es nicht verwundern, dass dort auch schon früh Schrift in Gebrauch war, also jene Technologie, durch die sich jede Hochkultur auszeichnet. Unter den zahlreichen Fundstücken sind solche, die eine eigene Gruppe bilden. Diese Gegenstände fallen dadurch auf, dass sich auf ihnen Sequenzen eingeritzter Zeichen befinden. Die Art und Weise, wie Beschriftungen auf den Statuetten platziert sind, unterscheidet sich deutlich von der Anordnung der Ornamente oder dekorativen Motive. Der ornamentale Dekor der Statuetten wird von einer rigiden Symmetrie dominiert, wohingegen die Platzierung von Schriftzeichen zum Ausdruck von Wortketten keinem symmetrischen Prinzip unterliegt. Die Zeichenfolge ist am Inhalt der Mitteilung orientiert, nicht an den Normen einer ästhetischen Symmetrie von Motiven im Schmuckdekor. […] Schrift war vor den Klimaschwankungen des 7. und 6. Jahrtausends v. Chr. nicht gebräuchlich. Allerdings sind die mit Ritzzeichen versehenen Objekte der Donauzivilisation nach der neuen Kulturchronologie viel älter als bisher angenommen. Die ältesten Objekte stammen aus der Periode zwischen 5500 und 5000 v. Chr., aus einer Zeit also, als es die sumerische Zivilisation noch gar nicht gab. […] Forscher, die sich intensiv mit den Fundstücken befasst haben, sind sich einig, dass es sich bei den Zeichen weder um dekorative Motive noch um magische Symbole handelt. In ihrer Vielfalt weichen diese außerdem von den religiösen Grundsymbolen Alteuropas ab, so dass als Identifizierung dieser Zeichengruppen nur eine alternative Deutung bleibt: es handelt sich um Schrift. Dies bedeutet, dass die Anfänge der Schriftgeschichte weit zurückverlegt werden müssen. Die alteuropäische Schrift ist rund zweitausend Jahre älter als die sumerische. […] Die Existenz von Schrift in Alteuropa wird heute nicht mehr prinzipiell in Frage gestellt. Bis in die 1980er Jahren jedoch kamen gewisse Berührungsängste darin zum Ausdruck, dass die Skeptiker in der Schriftforschung, also antieuropäische 'Schrift' im Deutschen Balkan 'scriptt' im Englischen und 'écriture' néolithique im Französischen. Inzwischen nimmt die Zahl der Befürworter beständig zu, und eine Schreibung ohne Anführungszeichen setzt sich immer mehr durch. […] Was die Forscher beeindruckt, aber zu falschen Schlussfolgerungen verleitet hat, sind auffällige Parallelen zum Zeichensatz der altsumerischen Piktographie, also desjenigen Schriftsystems, dass bei den Sumerern vor der Entwicklung der Keilschrift im Gebraucht war. […] Es sind inzwischen mehr als 230 Einzelzeichen als Inventar der antieuropäischen Schrift identifiziert worden.« (Haarmann, Harald: Geschichte der Sintflut. Auf den Spuren der frühen Zivilisation, 2005, S. 95ff.)
Die Wissenschaft geht heute davon aus, dass es sich bei der antieuropäischen Schrift wirklich um ein Schriftsystem handelt. Nur die Entzifferung ist bisher nicht gelungen.