Natürlich ist Naturrecht eine Fiktion, aber eine notwendige, während Gerechtigkeit ein praxisbezogenes Ideal ist. Die Idee des Naturrechts ist eine Säkularisierung der christlichen Idee vom Menschen als Ebenbild Gottes. Für die Fundierung des positiven Rechts ist die Idee eines Naturrechts eine zureichende und notwendige Grundlage. Selbst Rousseau gibt zu, dass der Mensch "frei geboren" ist, dass die Freiheit also seiner wahren Natur entspricht. "Freiheit" ist aber - juristisch gesehen, nicht philosophisch! - eine Fiktion, jedoch auch ein Ideal und funktioniert vernunftgemäß nach dem Prinzip "Du kannst tun und lassen, was du willst, solange es das Wohl anderer Menschen nicht beeinträchtigt" - analog zu Kants Kategorischem Imperativ. Kant nennt die Bejahung der Existenz von "Freiheit" eine "regulative Idee", sie ist also - rechtsphilosophisch, nicht ontologiephilosophisch gesehen - eine Fiktion, aber eine notwendige, und insofern sie ein praktisches Postulat ist, ein Ideal.
Wenn man aber den Begriff der Freiheit so weit fasst, ist er komplett vom natürlichen oder nicht natürlichen Zustand losgelöst. Denn auch in einer nicht mehr natürlichen, sondern zivilisatorisch organisierten Gesellschaft hat der Mensch immer eine Wahl und wenn es nur die Freiheit ist sich von der nächsten Brücke zu stürzen oder nicht oder selbst in eiener Gefängniszelle zu suizidieren oder nicht (zynisch ausgedrückt).
Wenn man den Begriff Freiheit so weit fasst, kann Freiheit nicht genommen werden und deswegen auch nicht die Notwendigkeit naturrechtlicher Kategorien begründen.
"Gerechtigkeit" gilt als Tugend, ist also ein Verhaltens-Ideal (ähnlich wie "Freiheit"). Daher sind Sprüche wie "Es gibt keine Gerechtigkeit" irrig, weil sie unterstellen, dass Gerechtigkeit unabhängig von menschlicher Praxis bestehen könnte oder sollte. Gerechtigkeit zu definieren ist sehr schwer, erstens wegen unterschiedlicher Kontexte (gerecht im Rahmen des positiven Rechts oder eines moralischen Rechts), zweitens wegen der angewandten Kriterien, über die kein Konsens bestehen kann, und drittens wegen der Nichterkennbarkeit des vollständigen Zusammenhangs von Taten oder Urteilen, deren Gerechtigkeit zu bewerten ist. Dennoch ist dieses Ideal gesellschaftlich unverzichtbar.
Sie ist keine Tugend, sondern eine inhaltsleere Plattitüde, denn sonst müsste sie unbestreitbar auf konkrete Fälle in der Praxis anwendbar sein. Wäre sie das, würden wir keine Debatten darüber führen ob Gesetze angemessen sind oder nicht, denn dann wären sie eo ipso angemessen, weil Gerechtigkeit dann messbar wäre und es gleichsam Humbug wäre sich nicht nach einer messbaren Größe zu richten.
So, ist Gerechtigkeit einfach eine unausgefällte Hülle, die jeder mit den Vorstellungen füllt, die ihm zu dem Thema gerade durch den Kopf schießen. Daher ist "Gerechtigkeit" eine höchst subjektive Kategorie.
Kurz: Gerechtigkeit ist keine Fiktion, sondern ein - wenn auch nur annäherungsweise erreichbares - praktisches Ideal. Sie eine Fiktion zu nennen, würde ihre ethische Kraft unterminieren.
In ihrer Eigenschaft, als allgemeingültigkeit beanspruchende Rechtskategorie ist sie in meinen Augen genau das, weil sie inhaltlich unbestimmbar ist.
Um wieder auf das Thema zu kommen, bin ich der Meinung, dass
@El Quijote das wesentliche bereits benannt hat.
Grundsätzlich kann die Politik am Recht orientiert oder das Recht zu Gunsten der Politik gebeugt werden. Letzterer Ansatz wurde im Ausgangszitat mehr oder minder klar angesprochen und dieser ist als restaurativ/reaktionär/antiaufklärerisch zu bezeichnen, da er das Recht an und für sich als eine zu vernachlässigende Größe ansieht, die nur dann von Bedeutung ist, wenn sie in der Lage ist die angestrebte Maßnahme zu rechtfertigen, während sie sonstigenfalls ihrer Bedeutung enthoben wird.
Das steht der Programmatik einer am Recht orientierten Gesellschaftsordnung, die sich über die Willkühr des Ancien Régime erhebt, wie sich das Seitens der Aufklärer gewünscht wurde, diametral entgegen.
Die "Gleichheit vor dem Gesetz" wird aus dem Naturrecht abgeleitet und gehört zu den Grundrechten, ist also kein positives Recht, welches die Grundrechte zur Basis hat und an diesen gemessen und kontrolliert wird.[/QUOTE]