Unter Tiberius kam es ja auch zu einem Wechsel der römischen Germanienpolitik: Mit einer Abwendung von Feldzügen ins Rechtsrheinische wie sie Germanicus bis zu seiner Abberufung 17 n.Chr betrieb, hin zu einer Grenzsicherung entlang von Rhein und Donau. Ich weiß nicht, ob das nun unbedingt eine Sinnkrise darstellt, aber es hat ein Umdenken stattgefunden - weg von einer aggressiveren Germanienpolitik hin zu einer defensiveren.
 
Welches Narrativ wäre aber in Rom, für einen staatsnahen Schriftsteller oder Historiker, angesichts der Niederlage zu verkaufen, ohne als Angriff auf den Augustus verstanden zu werden?
Ganz klar: das Wetter, das unwirtliche und feindliche Germanien, die Hinterlist des Arminius, die Verblendung des Varus.

Wenn wir beim Zeitgenossen Velleius nachlesen, steht da nichts vom Wetter. Velleius hat ja kurz zuvor noch selber gegen die Germanen gekämpft und ist anscheinend mit dem unwirtlichen und feindlichen Germanien spielend fertig geworden. Diese Zutaten brauchte man für das Narrativ also nicht.

Velleius nennt kurz und knapp drei Gründe für die Niederlage: "marcor ducis, perfidia hostis, iniquitas fortunae". Also ein verschnarchter römischer Feldherr, ein cleverer und hinterlistiger Gegner - und dann kam auch noch Pech dazu.
 
Der Zeitgenosse Velleius schrieb zwar nichts vom Wetter, aber immerhin auch von Wäldern, Sümpfen und einem Hinterhalt - zu einer Zeit, als noch genügend Menschen lebten, die nähere Kenntnis von den Vorgängen haben konnten. (In der frühen Kaiserzeit stammte das militärische Führungspersonal noch aus der Mitte der römischen Gesellschaft.) Wäre das eine reine Erfindung gewesen, hätte er riskiert, der Lüge überführt und nicht ernst genommen zu werden. Also auch wenn man Cassius Dio vorwerfen will, den Schlachtbericht ausgeschmückt zu haben: Ganz als literarischen Topos abtun wird man ihn nicht können.
 
Ganz als literarischen Topos abtun wird man ihn nicht können.
Das tut ja auch niemand. Es geht um dies:
Dass wir dank Cassius Dio und den Kalkriese-Ausgrabungen eine gewisse Vorstellung davon haben, wie die Schlacht abgelaufen ist oder plausibel abgelaufen sein könnte, fällt unter den Tisch.

Cassius Dio finde ich gerade höchst unplausibel. Den Naturgewalten unterworfene Römer vs. einer Überzahl an Legolassen, die leichtfüßig, jedem Naturgesetz trotzend durch den sturmgepeitschen Wald hüpfen, während die Römer in demselben Wald von herabstürzenden Baumkronen erschlagen werden.

Und wir befinden uns auch nicht im hochalpinen Raum, sondern in Saumzonen von Mittelgebirgen und Tiefebenen.
 
Der Zeitgenosse Velleius schrieb zwar nichts vom Wetter, aber immerhin auch von Wäldern, Sümpfen und einem Hinterhalt - zu einer Zeit, als noch genügend Menschen lebten, die nähere Kenntnis von den Vorgängen haben konnten.
Durch Wälder haut der Römer Schneisen, durch Sümpfe baut er Dammwege und Brücken. Velleius schreibt von den Schneisen, die Tiberius gezogen hat, Dio von den Baumfällarbeiten der Varus-Truppen. Das Vorhandensein von Wäldern und Sümpfen erklärt noch keine Niederlage und wird für die Erklärung der Niederlage auch nicht zwingend gebraucht.

Erst Dio schreibt dem Wetter einen maßgeblichen Einfluss auf das Schlachtgeschehen zu. @El Quijote hält das für eine Konstruktion Dios, während @-muck- davon überzeugt ist, dass Dio hier einen "wahren Kern" referiert.
 
Und Sepiola hatte gefragt, wie man aufs der Ferne durch dicht nebeneinanderstehende Baumriesen schösse. Da machst du einfach aus Cassius Dio einen anderen Text.
Schwerlich, denn niemand schießt durch "Baumriesen": Die von Dir zitierte Übersetzung stellt dem Schießen das Wort 'Dickicht' voran, Karl-Wilhelm Welwei übersetzt die fragliche Passage als 'dichtes[tes] Gebüsch'. M.E.n. wird aus beiden Übersetzungen deutlich, dass es Cassius Dio nicht darum ging, es so darzustellen, als hätten die Bäume für das Kampfgeschehen eine Rolle gespielt; das Weitere beantworte ich im Folgenden.
Slapstick? Wird ignoriert.
Auf ein Neues also… Ich verwende im Folgenden Welwei und die englische Standard-Übersetzung von Earnest Cary, um Abstand zu Interpretationsschwierigkeiten im Deutschen zu gewinnen.
20 (1) Denn das Gebirge war voller Schluchten und stark zerklüftet, die Bewaldung dicht und überaus hoch, so daß die Römer auch schon vor dem Angriff der Feinde Mühe hatten, Bäume zu fällen, Wege zu bahnen und Brücken zu bauen, wie es erforderlich war.

20 (1) The mountains had an uneven surface broken by ravines, and the trees grew close together and very high. Hence the Romans, even before the enemy assailed them, were having a hard time of it felling trees, building roads, and bridging places that required it.

Du meintest, die Beschreibung erinnere Dich an die Hochalpen, was schon gegen Dios Version spreche. Ich sehe das anders. Auch Mittelgebirge können 'zerklüftet' sein, und selbst in Schleswig-Holstein gibt es Schluchten. Offenbar sollte nur ausgedrückt werden, das Gelände sei den Römern hinderlich gewesen, und den Weg für ihre Zwecke zu verbreitern, habe sie einiges an Zeit und Mühe gekostet.

Die Höhe und Dicke der Bäume wird im Kontext der Pionierarbeiten erwähnt. Sofern die Information nicht überhaupt nur der literarischen Ausgestaltung diente, weist sie also lediglich darauf hin – eben im Kontext des fraglichen Satzes –, dass all das Bäumefällen und Wegebahnen besonders anstrengend und zeitraubend war, weil man sich in einem mächtigen Wald befand und es nicht bloß mit ein paar Krüppelkiefern zu tun hatte.

Die noch anzusprechende Darstellung des Geländes deute ich nicht so, als hätten die Germanen, als sie ihre Speere schleuderten, noch Bäume zwischen sich und den Römern gehabt. Warum sonst hätte Dio betonen sollen, dass ihnen Dickichte im Weg waren, aber die Bäume unerwähnt lassen sollen? Ohnehin – wie stellt sich unsereins ein natürlicher Wald dar, was blockiert unsere Sicht in die Tiefe des Waldes hinein? Nicht die Bäume.
(2) Sie führten auch wie im Frieden viele Wagen und Lasttiere mit; ferner folgten ihnen nicht wenige Kinder und Frauen und zahlreiche Troßknechte; auch dies trug zur Auflösung der Marschordnung bei. (3) Noch dazu wurde die Kolonne durch heftigen Regen und Sturmwind weiter auseinandergezogen; der Boden war an den Wurzeln und Enden der Stämme ziemlich schlüpfrig geworden, so daß sie immer wieder ausglitten; vom Sturm zerborstene Baumkronen stürzten auf sie nieder und brachten sie in Verwirrung.

(2) They had with them many waggons and many beasts of burden as in time of peace; moreover, not a few women and children and a large retinue of servants were following them — one more reason for their advancing in scattered groups. (3) Meanwhile a violent rain and wind came up that separated them still further, while the ground, that had become slippery around the roots and logs, made p45 walking very treacherous for them, and the tops of the trees kept breaking off and falling down, causing much confusion.

Weiter heißt es, die Marschkolonne sei durch den Tross behindert worden. Beide Übersetzungen lassen die Deutung zu (die im weiteren Text bekräftigt wird), Teile des Trosses wären zwischen die kämpfenden Teile geraten; wäre der Tross an einer Stelle der Heersäule konzentriert gewesen, hätte er nur die folgenden Teile behindert. Eine solche Vermischung verlangsamt oder verhindert aber die Entfaltung des Heeres.

Während des Marsches soll dann ein Sturm mit reichlich Niederschlägen aufgekommen sein und den Römern zusätzliche Hindernisse in den Weg gelegt haben. Cary schreibt allgemeiner als Welwei (bei dem die Römer gleich immer wieder ausrutschen) – und so äußert sich auch die von Dir zitierte Übersetzung –, der Weg sei tückisch geworden, ohne in Details zu gehen. Welwei übersetzt wörtlich, Cary sinngemäß.

Ich interpretiere das nicht so (und halte eine solche Interpretation auch nicht für zwingend), dass die Römer keinen Schritt mehr hätten machen können, ohne beinahe durcheinanderzupurzeln, und es den Germanen ebenso hätte ergehen müssen. Ich lese nur, dass die Römer buchstäblich einen schlechten Stand hatten und nur langsam und unsicher vorankamen. Niemand würde auf solchem Terrain kämpfen wollen.

Was das anlangt, sagte ich bereits, dass ich die Beschreibung für plausibel halte, dass der Wind und der Regen den Römern mehr zu schaffen machten als den im Hinterhalt liegenden Germanen. In einem naturnahen Wald bin ich selbst auf einem noch so schmalen Weg dem Wetter eher ausgesetzt als unter den Bäumen, die sich gegenseitig stützen und beeinflussen, wie viel Regen den Boden erreicht. Das Gleiche gilt für den Windbruch.

Wenn nicht gerade ein Tornado durch den Wald fegte, wäre man unter dicht beieinander stehenden Bäumen sicherer vor Windbruch als an Stellen, wo der Wind mehr Angriffsfläche findet – wie eben auf einem Waldweg. Ohnehin hätten die feststeckenden Römer nicht die Bewegungsfreiheit der angreifenden Germanen gehabt, die sich ihre Stelle zum Zuschlagen aussuchen konnten. Das Wort 'Verwirrung' ist m.E.n. in den Kontext militärischer Notwendigkeit zu stellen.
(4) Während die Römer sich in dieser schwierigen Lage befanden, umstellten die Barbaren sie plötzlich auf allen Seiten, indem sie aus dem dichtesten Gebüsch hervorbrachen, da sie ja jeden Pfad kannten; anfangs warfen sie aus der Ferne ihre Speere, dann aber, als niemand sie abwehrte und viele Römer schon verwundet waren, gingen sie zum Nahkampf über;

(4) While the Romans were in such difficulties, the barbarians suddenly surrounded them on all sides at once, coming through the densest thickets, as they were acquainted with the paths. At first they hurled their volleys from a distance; then, as no one defended himself and many were wounded, they approached closer to them.

Die Ausgangslage: Die Römer seien durch mannigfache Schwierigkeiten abgelenkt und mit sich selbst beschäftigt gewesen, die Germanen hätten sie in der Folge umzingeln können. Kommen wir also zu den Baumriesen, bzw. Dickichten, und den Speeren. Welwei und Cary beginnen ihre Beschreibung so, dass die Germanen sich in einer gewissen Entfernung zu den Römern befunden hätten.

Als Nächstes wären sie aus den Dickichten, die sie anscheinend von den Römern trennten, hervorgebrochen und hätten ihre Speere geschleudert. Die Distanz hätten sie also verkürzt, aber nicht komplett überwunden, da sie den Nahkampf noch scheuten; sie hätten sich immer noch im Wald befinden können und wären dort, wie ich behaupte, vor Wind und Regen besser geschützt gewesen.

Bei alledem, so Dio, habe ihnen ihre Ortskenntnis geholfen. Ich interpretiere diesen Punkt so, dass es ihnen gelungen sei, überraschend an Stellen zu gelangen, von denen sie viel Schaden stiften konnten. Andernfalls wäre der Verweis auf die den Germanen bekannten Pfade überflüssig.

Die folgende Passage ('als niemand sie abwehrte') wirkt freilich unglaubwürdig, falls für bare Münze genommen; irgendwer würde schon Widerstand geleistet haben. Streiten muss man sich darum aber nicht. Die Angegriffenen waren – da überrascht, unorganisiert und punktuell einem feindlichen Übergewicht ausgesetzt – nicht in der Lage waren, konzertierten Widerstand zu leisten.

(Weiter im folgenden Beitrag wegen Zeichenbegrenzung.)
 
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Darauf deutet auch das Weitere:
(5) da die Römer nicht in einer einigermaßen geordneten Formation vorrückten, sondern die Kolonne mit Wagen und Unbewaffneten bunt gemischt war, konnten sie nicht ohne weiteres dicht aufschließen, und ihre einzelnen Abteilungen waren jeweils zahlenmäßig schwächer als die angreifenden Feinde; so erlitten sie erhebliche Verluste, ohne den Barbaren etwas anhaben zu können.

(5) For the Romans were not proceeding in any regular order, but were mixed in helter-skelter with the waggons and the unarmed, and so, being unable to form readily anywhere in a body, and being fewer at every point than their assailants, they suffered greatly and could offer no resistance at all.
[21 (1) Die Römer schlugen notgedrungen ihr Lager auf, und brachen anderntags in besserer Ordnung auf, nachdem sie ihren Tross zurückgelassen oder verbrannt hatten.]​
21 (2) Als sie von dem zuletzt genannten Standort aufgebrochen waren, gerieten sie wieder in Waldgebiete; sie setzten sich zwar gegen die Angreifer zur Wehr, hatten aber gerade hier schwere Verluste; denn wenn sie auf engem Raum dicht zusammenrückten, um in geschlossener Formation zugleich mit der Reiterei und den schwerbewaffneten Legionssoldaten die Feinde anzugreifen, brachten sie sich in dem Gedränge vielfach gegenseitig zu Fall oder glitten auf den Baumwurzeln aus.

21 (2) Upon setting out from there they plunged into the woods again, where they defended themselves against their assailants, but suffered their heaviest losses while doing so. For since they had to form their lines in a narrow space, in order that the cavalry and infantry together might run down the enemy, they collided frequently with one another and with the trees.

"Slapstick" lese ich hier nicht, nur die Beschreibung eines Heeres, das auf ungeeignetem Gelände die falsche Taktik anwendet. Es ist kein Platz zur Entfaltung, Reiterei und Fußvolk behindern sich gegenseitig, und der Untergrund macht das Vorrücken in geschlossener Ordnung unmöglich. Plausibel, denn Kavallerie kann in Wäldern kaum und Infanterie nur in aufgelockerter Ordnung agieren. Fraglich ist natürlich, ob die Römer diese Fehler begangen haben könnten.

Aber auch hier sehe ich keinen Grund zur Diskussion, denn es liegt kein innerer Widerspruch vor. Dios Schilderung (wie auch der Konsens der Wissenschaft, wie ich ihn deute) beruht darauf, dass die römische Führung viele Fehler machte und die Römer früher oder später nicht mehr in der Lage waren, das taktisch Notwendige zu tun. Und dabei ist es durchaus glaubhaft, dass sie in der Bedrängnis auf ihren "Drill" zurückgreifen wollten, selbst wenn er sich als kontraproduktiv erweisen sollte.
(3) So brach der vierte Tag ihres Marsches an, und sie gerieten erneut in einen strömenden Regen mit heftigem Sturm, der sie nicht nur daran hinderte, vorzurücken oder einen festen Stand zu gewinnen, sondern auch den Gebrauch der Waffen nahezu unmöglich machte, denn sie konnten weder ihre Bogen noch ihre Wurfspeere oder auch nur ihre Schilde richtig verwenden, da diese Waffen völlig durchnäßt waren. (4) Für die Feinde hingegen war die Nässe kaum ein Hindernis, da sie ja größtenteils leichtbewaffnet waren und so die Möglichkeit hatten, ohne Gefahr anzugreifen oder sich zurückzuziehen.

(3) They were still advancing when the fourth day dawned, and again a heavy downpour and violent wind assailed them, preventing them from going forward and even from standing securely, and moreover depriving them of the use of their weapons. For they could not handle their bows or their javelins with any success, nor, for that matter, their shields, which were thoroughly soaked. (4) Their opponents, on the other hand, being for the most part lightly equipped, and able to approach and retire freely, suffered less from the storm.
Hier die Stelle, die Dich am meisten umtreibt. Man kann natürlich auf der wörtlichen Übersetzung beharren, dann nimmt sich die Passage in der Tat seltsam aus. Aber: Wie wahrscheinlich ist es, dass Cassius Dio wirklich behaupten wollte, Orkanwinde hätten niemanden mehr einen Fuß vor den anderen setzen lassen?

Ist es nicht naheliegender, den Text im Licht der bisher geschilderten Ereignisse zu interpretieren (siehe auch das Verb 'vorzurücken') –, dass also der Wind und der strömende Regen die Fortbewegung als taktische Einheit behinderten? Und das in einer Situation, in der es darauf angekommen wäre, um aus der Falle zu entkommen?

Dass die Römer ihre Wurfspieße und Pfeile nicht gebrauchen konnten, ist bei Wind und Regen glaubwürdig; der Wind ist im ballistischen Sinne ein Hindernis, und nasse Bogensehen verlieren ihre Zugleistung. Hier könnte man einwenden, dass es den Germanen ähnlich ergangen sein müsse, allerdings steht da nichts von germanischen Pfeilen und germanischen Spießen, vielmehr begann laut Dio der Nahkampf.

(Wenn ich mich recht erinnere, hast Du eingewandt, dass die schwere und durchnässte Ausrüstung der Römer diese nicht hätte behindern dürfen, schließlich hätten sie sie ja abwerfen können. Allein wer würde bei Gefahr seinen besten Schutz zu früh ablegen wollen? Würde man nicht lieber bis zum letzten Moment abwarten?

Und selbst wenn es ihnen gelungen wäre, sie rechtzeitig abzulegen, hätten sie dann zu diesem Zeitpunkt nicht immer noch mehrere Tage Marsch mit ebendieser Ausrüstung in schlechtem Wetter und bei mangelnder Erholung hinter sich gehabt, und wären also in einer schlechteren Verfassung gewesen?)

Impliziert wird vielmehr, dass die Germanen im Sinne von "hit and run" der in Chaos versunkenen Kolonne der Römer mit leichteren Waffen hundert Nadelstiche versetzten. Legt man die militärtheoretischen Grundbegriffe seiner Zeit zugrunde, was hätte Cassius Dio als "leichte" Waffe gegolten? Speere, Keulen – simple Waffen eben.

Und nochmals: Wenn die Germanen sich nicht oder nur ansatzweise auf die Fläche vorwagten, auf denen die Römer ihre Verteidigung zu organisieren versuchten, wären sie von Wind und Wetter weniger betroffen.

Man könnte mir nun vorhalten, dass ich zu viel "Eigenarbeit" leisten muss, um Zweifel an Dios Beschreibung der Schlacht auszuräumen. Doch man könnte Dir vorhalten, dass Du Dich einer sinngemäßen Interpretation unmäßig verweigerst, um Deine Zweifel zu erhärten. Der Unterschied besteht darin – ich wiederhole –, dass es mir nie um absolute Wahrheit ging, nur um die Darstellung in den Quellen im Vergleich zu 'Barbaren'.

Und damit ist von meiner Seite eigentlich alles gesagt. Denn das hier sieht mir sehr nach Haarspalterei aus.
 
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Wenn nicht gerade ein Tornado durch den Wald fegte, wäre man unter dicht beieinander stehenden Bäumen sicherer vor Windbruch als an Stellen, wo der Wind mehr Angriffsfläche findet – wie eben auf einem Waldweg.
Wenn Äste herabfallen oder ganze Bäume umknicken, ist es abseits eines Weges genauso unberechenbar und lebensgefährlich wie auf einem Waldweg. Es weiß ja niemand, wo es welches Gehölz wie zu Boden bringt - und viele Bäume bergen ein größeres Gefahrenpotential. Wenn die Römer Probleme hatten, dann müssten die Germanen auch welche gehabt haben. Daher erscheint mir ElQs Argumentation plausibel. Ich kann auch nicht nachvollziehen, wie man auf den Gedanken kommt, bei Sturm und Regen sei es auf Wegen gefährlicher als abseits davon in einem dichten Wald.

Ohne Schietwetter kann ich mir ein germanisches Hit&Run hingegen auch vorstellen.
 
Das mag ja alles sein, die Frage ist hier aber: Stimmt das, was Dio schreibt, oder stimmt es nicht?

Bei Dio haben wir:

"Baumriesen dicht nebeneinander", und zwar so dicht, dass die Römer sogar Bäume fällen mussten, um überhaupt durchzukommen.
Und dann kommt der Angriff, ausgerechnet da, wo der Wald am dichtesten ist: "Zuerst schossen sie nur aus der Ferne, dann aber, als niemand sich wehrte und viele verwundet wurden, rückten sie näher an die Gegner."

Welche physikalischen Eigenschaften müssten Fernwaffen haben, die Dios Darstellung plausibel machen könnten?

Anhang anzeigen 20419

„Baumriesen“, was ist das eigentlich? Ab wann sind Bäume riesig? Und stehen große Bäume nicht tendenziell eher weiter voneinander entfernt? und bei Dio heißt es dass man mit dem Fällen von Bäumen beschäftigt war, so als ob dies für die Fortbewegung nötig gewesen wäre, was aber aleine auf Grund eines Hudewaldes sicher unnötig gewesen wäre. Andererseits wird von dem Bau von Dämmen gesprochen. Vielleicht sollten damit Dämme gebaut werden? Dann wären wir in einem ausgedehnten Sumpfgebiet, welches allerdings eher in Nordrichtung zu finden ist. Damit stellt sich die relevante Frage wo wollten die Römer eigentlich im Jahre 9 hin? In welche Richtung also wären die Römer marschiert? Oder gab es nach Westen hin genau so breites Sumpfgebiet?
 
Wenn Äste herabfallen oder ganze Bäume umknicken, ist es abseits eines Weges genauso unberechenbar und lebensgefährlich wie auf einem Waldweg. Es weiß ja niemand, wo es welches Gehölz wie zu Boden bringt - und viele Bäume bergen ein größeres Gefahrenpotential. Wenn die Römer Probleme hatten, dann müssten die Germanen auch welche gehabt haben. Daher erscheint mir ElQs Argumentation plausibel. Ich kann auch nicht nachvollziehen, wie man auf den Gedanken kommt, bei Sturm und Regen sei es auf Wegen gefährlicher als abseits davon in einem dichten Wald.
Der erste Google-Treffer für "Gefahren durch Wind im Wald" von www.ökologisch-unterwegs.de:
Wenn man überrascht wird:
Wald - insbesondere Nadelwald - schnell verlassen. Auf Lichtungen Abstand vom Waldrand > 1 Baumhöhe halten. Falls das nicht geht, Lichtung nicht betreten, weil an Waldrändern Windverwirbelungen auftreten und Bäume eher umkippen als im Wald.
Ich bin oft im Wald auf Jagd, auch bei Wind und Wetter, und habe diese Erfahrung selbst gemacht. Vielleicht ist Deine Vorstellung geprägt durch die vorherrschenden Wirtschaftswälder, in denen die Bäume oft als Monokultur gereiht stehen. In einem naturnahen Wald jedoch sind die Abstände der Bäume geringer.

Ihre oftmals ineinandergreifenden Baumkronen stützen sich gegenseitig. Außerdem stehen verschiedene Arten von Bäumen verschiedener Größen beieinander, was – ebenso wie das Zusammenwirken des Wurzelwerks unterschiedlicher Wurzlertypen – ihren Stand weiter verstärkt und verbessert.

Dies zu vertiefen ist müßig. Dass naturnahe Wälder Stürme mit geringeren Sturmschäden überstehen als Wirtschaftswälder oder aufgelockertes Waldland, ist eine Tatsache, der Naturschützer und Waldbesitzer durch Maßnahmen Rechnung tragen, um unsere Wälder für die Folgen des Klimawandels zu rüsten.

Überall werden Waldflächen aus der Nutzung genommen und Monokulturen aufgebrochen, was wichtig ist, weil in Wirtschaftswäldern die Bäume zugänglich bleiben müssten. Reine Laub- oder Nadelwälder werden durch Umwandlung in Mischwälder gestärkt, Aufforstungen mit geringeren Abständen durchgeführt.

Hast Du einen gesunden Mischwald in der Nähe, besuche ihn einfach nach dem nächsten Sturm. Du wirst sehen, dass Windbruch hauptsächlich an den Waldrändern und überall dort stattfindet, wo durch fehlenden Baumbestand der Wind eine Angriffsfläche findet, oder einzelne Bäume über das Kronendach hinausragen.

Aber nochmals: Dieses Detail ist wenig relevant und ich verstehe immer weniger Euer Insistieren. Ihr schätzt meines Erachtens nach die Lage in Euer Bewertung falsch ein, weil Römer und Germanen in der von Dio geschilderten Situation nun mal unterschiedlichen taktischen Herausforderungen ausgesetzt waren.

Nehmen wir für den Moment an, dass – was ich stark bezweifle – die Germanen, die sich tiefer im Wald befanden, ebenso durch Windbruch gefährdet waren wie die Römer. Welche Rolle spielt das?

Anders als die Römer waren sie in Dios Szenario nicht auf einer engen Fläche zusammengedrängt und keiner Bedrohung durch römische Waffen ausgesetzt. Sie hatten Bewegungsfreiheit, konnten Hindernisse umgehen und unvorhergesehenen Gefahren wie Windbruch viel eher ausweichen.

Und falls die Germanen durch Windbruch Verluste erlitten, was dann? Nach Dios Darstellung waren die Römer schon durch die taktische Ausgangslage so benachteiligt, ganz unabhängig von den angeblichen Wetterverhältnissen, dass sie schwere Verluste erlitten und keinen ernstlichen Widerstand leisten konnten.

Was macht es den Germanen, wenn hier und da ein Krieger durch einen Ast erschlagen wird, während unter den Römern gerade ein veritables Massaker ohne effektive Gegenwehr stattfindet?
 
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Cassius Dio beschreibt ein Gelände. Und in diesem Gelände werden die Römer von den Germanen überfallen.

Zum Slapstick: Du hast diese Stelle zwar zitiert, aber die damit verbundene Szene weiterhin ignoriert: Was macht den Slapstick zum Slapstick? Dass die Römer wie willenlose Kugeln blind gegeneinander oder gegen Bäume prallen.
 
Aber nochmals: Dieses Detail ist wenig relevant und ich verstehe immer weniger Euer Insistieren. Ihr schätzt meines Erachtens nach die Lage in Euer Bewertung falsch ein, weil Römer und Germanen in der von Dio geschilderten Situation nun mal unterschiedlichen taktischen Herausforderungen ausgesetzt waren.

Nehmen wir für den Moment an, dass – was ich stark bezweifle – die Germanen, die sich tiefer im Wald befanden, ebenso durch Windbruch gefährdet waren wie die Römer. Welche Rolle spielt das?
Hier versuchst du zu bagatellisieren. Dazu komme ich gleich noch mal. Du hast oben gewissermaßen ein Argumentum ad Verecundiam versucht, du als Jäger würdest ja "richtige" Wälder kennen, während deine Kritiker wahrscheinlich bloß Wirtschaftswälder kennten.
Nehmen wir - wie in deinem Ursprungsbeitrag - Kalkriese (ohne hier eine neuen Kalkriese-Diskussion starten zu wollen) und Cassius Dio zusammen, müssen wir feststellen, dass wir es dort mit einer vor 2000 Jahren zwar spärlich besiedelten, aber eben besiedelten und auch bewirtschafteten Gegend zu tun haben. Also wir müssten auch damals eigentlich Wirtschaftswälder annehmen, auch wenn diese ganze anders aussahen, als unsere Baumplantagen. (Aber niemand von uns wird eine Baumplantage im Kopf haben, wenn er an Wald denkt.) Nun will ich nicht von Kalkriese die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Cassius Dio abhängig machen. Und alle Autoren - selbst Florus - sind sich einig, dass die Schlacht in Wäldern und Sümpfen stattgefunden hat oder zumindest das Schlachtfeld (bzw. die Reihe von Schlachtfeldern nur durch Wälder und Sümpfe zu erreichen war. Was bei Cassius Dio problematisch ist, ist nicht dies, sondern seine Hinzuerfindungen. Wetter, Götter, tumbe Slapstick-Römer und federleichte Legolas-Germanen und eben, dass die Physik eben nur für die Römer gilt. Hier komme ich wieder auf den Bagatellisierungsvorwurf zu sprechen. Du fragst, welche Rolle das Wetter spiele:
Zunächst einmal: Auch ein Urwald (wenn wir denn akzeptieren, dass die Schlacht in einem solchen stattfand) ist nicht überall gleich beschaffen. Da gibt es dichtere und lichtere Zonen. Gerade weil es ein Urwald ist. Da stürzt auch mal ein Baumriese um und plötzlich kann sich das junge Gemüse entfalten. Da schlägt mal ein Blitz ein und es kommt zu einem kleinen Waldbrand. Da ist mal eine Mulde, in der das Wasser steht und der Boden übersäuert....

So, nun befinden sich deine theoretischen Germanen in deinem theoretischen Urwald bei Sturm. Sie wollen die Römer angreifen. Dazu müssen sie an die Römer heran. Du sagst: Wo alles dicht ist, stört Windbruch nicht, weil die Kronen sich gegenseitig stützten... Demnach mussten die Germanen also ganz genau aufpassen, dass sie immer nur durch den dichtesten Wald liefen und bloß auf keine Lichtung kamen?

Und die Germanen konnten auf die Römer "schießen" - wie nah mussten sie dazu heran? - aber die Römer konnten ihre Fernwaffen nicht einsetzen? (behauptet Cassius Dio) Sorry, aber es war mir nicht bekannt, dass eine germanische hasta bei Regen fliegt, aber ein römisches pilum nicht.

Und falls die Germanen durch Windbruch Verluste erlitten, was dann?
Meinst du nicht, sie hätten sich erstmal, anstatt sich dem Sturm auszusetzen, sich zurückgezogen?

Nach Dios Darstellung waren die Römer schon durch die taktische Ausgangslage so benachteiligt,
Dazu benötigen wir aber Cassius Dio nicht.
Die Kritik an der Darstellung von Cassius Dio - ich wiederhole es (nicht) gerne - betrifft nicht die Dinge, wo er mit den anderen Autoren im Einklang steht, sondern die, wo er 200 Jahre nach der Schlacht Dinge hinzuerfindet, die zum Teil im Widerspruch zur Physik stehen oder, wenn man sich die Szenen mal vor Augen führt, Slapstick sind.
Du wirst Cassius Dio doch auch nicht glauben, dass Caesar von einem Schiff ins Meer fiel, sich im Wasser seines Mantels entledigte, an die Küste schwamm und dabei das Wunder vollbrachte, seine Schriftstücke trocken ans Land zu bringen, oder? Warum glaubst du ihm also, dass die Germanen sich in einem zufälligerweise Ideal für den Guerillakrieg gewachsenen Wald befanden, wo Baumkronen nur die Römer erschlugen, und die Germanen immer in so dichtem Wald sich befanden, dass die Bäume sich gegenseitig stützten? (Ich antizipiere, du wirst das mit Ortskenntnis erklären und dass die Germanen immer ganz genau wussten, wo sie durch den Wald laufen mussten.)

Was macht es den Germanen, wenn hier und da ein Krieger durch einen Ast erschlagen wird, während unter den Römern gerade ein veritables Massaker ohne effektive Gegenwehr stattfindet?
Bis es zu dem "Massaker ohne Gegenwehr" kam, vergingen drei Tage. Zunächst beschreibt uns Cassius Dio durchaus ein Heer, dessen Funktionalität bestehen bleibt. Es werden noch Lager gebaut, irgendwann werden die Wagen aufgegeben (und angeblich verbrannt - wenn das stimmt, war das taktisch sehr ungeschickt, man hätte lieber auf die Habgier der Germanen setzen sollen, als man die Wagen zurückließ, dass diese sich um die Plünderung der zurückgelassenen Wagen bemühten und ggf. um Beuteanteile stritten). Insofern, wenn wir bei deiner These blieben und fragten, was machte es den Germanen: Zunächst einmal gab es die Aussicht, evtl. von einem Baum erschlagen zu werden, bevor überhaupt sicher war, dass es Beute (oder was immer auch das Einzelmotiv gewesen sein mag) geben würde.
 
Hast Du einen gesunden Mischwald in der Nähe, besuche ihn einfach nach dem nächsten Sturm.
Ich lebe direkt bei einem Nationalpark, der Teil eines UNESCO-Erbes ist wegen seines Mischwaldbestandes. Was meinst du denn was passiert, wenn bereits abgebrochene Baumkronenteile die von anderen Bäumen gestützt werden von einer Sturmböe erfasst werden? Glaubst du abgebrochene Äste verrotten alle in großer Höhe? Auch bereits umgeknickte Bäume, die von anderen Bäumen noch mehr oder weniger oben gehalten werden, können bei einem Sturm zu Boden gehen.
Bei uns wird bei Sturmgefahr vernünfigerweise regelmässig der Mischwald-Nationalpark und auch der angrenzende Naturpark gesperrt und das nicht nur für Wanderer auf Wanderwegen sondern auch für Jäger, die sich sonst teilweise abseits der Wege bewegen.

Sie hatten Bewegungsfreiheit, konnten Hindernisse umgehen und unvorhergesehenen Gefahren wie Windbruch viel eher ausweichen.
Die Bewegungsfreiheit ist in einem stürmischen Wald logischerweise sehr eingeschränkt, weil man eben "uffpassen muss". Niemand weiß bei Windbruchgefahr, wann und wo einem etwas auf die Füße bzw. auf den Kopf fallen könnte. Vielleicht hast du da eher das Bild eines Jagdreviers in einem Wirtschaftswald im Kopf, bei denen gleichalte Bäume der selben Sorte in Reih und Glied stehen und man noch relativ gute Sicht hat, wo etwas runterkommen könnte.
 
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Unabhängig davon, wie glaubwürdig bzw. in der Detaildarstellung plausibel die vorhandenen Quellen sind UND unabhängig davon, ob eine heutige Film/Serienproduktion eine plausible Darstellung der historischen Ereignisse leistet UND unabhängig von erbitterten (haarspalterischen?) Diskussionspositionen: der Gegenstand übt eine große Faszination aus. Den unzivilisierten "wilden" Barbaren gelingt es, den technisch und zivilisatorisch überlegenen Invasoren eine empfindliche Schlappe zu bereiten. In diesem Sinn ist die Varusschlacht quasi der motivische Prototyp von jeglichem "nationalen" Freiheitskampf (19. Jh. Deutung) und jeglichem "eingeborenen" Sieg gegen Kolonialmächte (a la little big horn, Varus/Custer versus Arminius/Sitting Bull) Die Folie ist die dem Prototyp inneliegende spezielle Diskrepanz (der laut Typisierung eigentlich schwächere "unzibilisierte" besiegt den stärkeren, kulturell & technologisch "überlegenen" - später, nach dem Religionswechsel im Imperium fügt sich das David-Goliath Motiv*) hinzu)

Zu fragen ist, ob die selbstredend a posteriori einsetzende Deskription (lat. Quellen) schon die Struktur des "Narrativs", also des Prototyps konstruiert, oder ob wir (bzw. momentan ich) diese Typisierung hineinlesen. Ich neige zu ersterem und halte die diskutierte Witterung, das diskutierte Gelände, die diskutierten milit. Taktiken, den diskutierten Verrat für die motivischen Versuche, sich dem unerhörten (die hochgerüsteten, siegverwöhnten drei Legionen werden fatal aufgemischt) zu nähern, Erklärungsmodelle anzubieten. Literarisch gedacht: nicht Erklärungen zu postulieren, sondern Modelle - auch widersprüchliche - anzubieten.

Mir selber erscheint das Erklärungsmodell Verrat des Armimius am plausibelsten, wobei ich annehme, dass Arminius' Truppen militärisch den gedrillten Legionen relativ nahe kamen (d.h. die erzählerische Diskrepanz Römer-Barbaren war auf militär. Ebene nicht so hoch, wie dieses Motiv es nahelegt)

Nebenbei: noch in Hebels Kalendergeschichten spukt ironisch der narrative Prototyp hinein: Weltumsegler Cook wurde "von den Wilden ein bisschen totgemacht".
__________
*) zwar ist das David-Goliath Motiv aus dem Alten Testament älter, aber die "europäische" Rezeption setzte erst in der Spätantike ein.
 
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unabhängig von erbitterten (haarspalterischen?) Diskussionspositionen
Lass doch Muck und mir das Haare spalten, da tun weder er noch ich uns gegenseitig ein Unrecht.

Den unzivilisierten "wilden" Barbaren gelingt es, den technisch und zivilisatorisch überlegenen Invasoren eine empfindliche Schlappe zu bereiten. In diesem Sinn ist die Varusschlacht quasi der motivische Prototyp von jeglichem "nationalen" Freiheitskampf (19. Jh. Deutung) und jeglichem "eingeborenen" Sieg gegen Kolonialmächte (a la little big horn, Varus/Custer versus Arminius/Sitting Bull) Die Folie ist die dem Prototyp inneliegende spezielle Diskrepanz (der laut Typisierung eigentlich schwächere "unzivilisierte" besiegt den stärkeren, kulturell & technologisch "überlegenen" - später, nach dem Religionswechsel im Imperium fügt sich das David-Goliath Motiv*) hinzu)

Zu fragen ist, ob die selbstredend a posteriori einsetzende Deskription (lat. Quellen) schon die Struktur des "Narrativs", also des Prototyps konstruiert, oder ob wir (bzw. momentan ich) diese Typisierung hineinlesen. Ich neige zu ersterem und halte die diskutierte Witterung, das diskutierte Gelände, die diskutierten milit. Taktiken, den diskutierten Verrat für die motivischen Versuche, sich dem unerhörten (die hochgerüsteten, siegverwöhnten drei Legionen werden fatal aufgemischt) zu nähern, Erklärungsmodelle anzubieten. Literarisch gedacht: nicht Erklärungen zu postulieren, sondern Modelle - auch widersprüchliche - anzubieten.

Mir selber erscheint das Erklärungsmodell Verrat des Armimius am plausibelsten, wobei ich annehme, dass Arminius' Truppen militärisch den gedrillten Legionen relativ nahe kamen (d.h. die erzählerische Diskrepanz Römer-Barbaren war auf militär. Ebene nicht so hoch, wie dieses Motiv es nahelegt)

Nebenbei: noch in Hebels Kalendergeschichten spukt ironisch der narrative Prototyp hinein: Weltumsegler Cook wurde "von den Wilden ein bisschen totgemacht".
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*) zwar ist das David-Goliath Motiv aus dem Alten Testament älter, aber die "europäische" Rezeption setzte erst in der Spätantike ein.

Bzgl. des Narrativs "unzivilisiert": Wir wissen ja nur sehr unzureichend, wie die Germanen in der Varusschlacht gerüstet waren. Wir können annehmen, dass es sich wenigstens teilweise um römische Hilfstruppen handelte, die auch entsprechend ausgerüstet und taktisch geschult waren.

Bzgl. des Narrativs "David gegen Goliath": Dieser Narrativ funktioniert immer. Dieser Narrativ wird auch gerne missbraucht, indem man sich oder denjenigen, für den man aus welchen Gründen auch immer Partei ergreift, zum David stilisiert, der gegen die gemeine, böswillige Übermacht (eben Goliath) Widerstand leistet. Sehe ich hier allerdings nicht. Da, bis auf Orosius (VI, 21), eigentlich keiner der Geschichtsschreiber, der uns über die Varusschlacht berichtet hat, biblisch gebildet gewesen sein dürfte, im Mittelalter gibt es eine einzige vage Erinnerung an die Varusschlacht bei Otto von Freising (Weltchronik III, 4), die dieser von Orosius übernimmt und in Perlach lokalisiert, ist eigentlich keine Folierung des David-Goliath-Mythos auf die Varusschlacht vor dem 15. Jhdt. erkennbar.
 
Lass doch Muck und mir das Haare spalten, da tun weder er noch ich uns gegenseitig ein Unrecht.
:) Das ist mir klar. Und ich lese das sehr gerne und mit Gewinn, wenn die Argumente gleichsam wie Truppen aufgestellt und in Marsch gesetzt werden :D und das "Schlachtenglück" mal die eine, mal die andere Position wie Varus Legionen aussehen lassen will ;):D
Bzgl. des Narrativs "unzivilisiert": Wir wissen ja nur sehr unzureichend, wie die Germanen in der Varusschlacht gerüstet waren. Wir können annehmen, dass es sich wenigstens teilweise um römische Hilfstruppen handelte, die auch entsprechend ausgerüstet und taktisch geschult waren.
Ich hätte mich präziser ausdrücken sollen bzw deutlicher kenntlich machen sollen, dass ich weniger über die Quellen selber als über die Rezeption und Rezeptionsgeschichte derselben zu schreiben versucht hatte. "unzivilisiert" versus "zivilisiert" ist sozusagen das populär gewordene Bild, die populär gewordene neuere Vorstellung von "Barbaren" versus "Römer", was dann in das antikolonialistische Bild weiter reicht (die wenigen Siege der "Wilden" gegen Kolonialtruppen). Im 19. Jh. gesellten sich dazu völkisch-nationale bis rassistische Beinoten, z.B. die wenig edlen kleinen "Welschen" und "Griechlein mit ihren Massageten und Hunnen" wider die edlen nordischen blonden großgewachsenen Goten (Felix Dahn u.a.)
Die römischen Quellen (nicht nur zur Varusschlecht, viele andere auch) verwenden ja das Narrativ, die Chiffre Barbaren versus Imperium. --- Mein Verdacht ist, dass die Anrainer-Barbaren gar nicht so furchtbar barbarisch waren, und das führt mich zu einem weiteren Verdacht: wenn Naturgewalten als Erklärungsmodell verwendet werden, steckt darin weniger negative Kritik an Augustus, Tiberius & Co. - wenn darauf insistiert wird, dass die Gegner barbarisch waren, steckt darin negative Kritik (Wer sich von Barbaren abmetzgern lässt, kann ja nur ein Versager sein)
Bzgl. des Narrativs "David gegen Goliath": Dieser Narrativ funktioniert immer. Dieser Narrativ wird auch gerne missbraucht, indem man sich oder denjenigen, für den man aus welchen Gründen auch immer Partei ergreift, zum David stilisiert, der gegen die gemeine, böswillige Übermacht (eben Goliath) Widerstand leistet. Sehe ich hier allerdings nicht.
schon klar, dass in Spätantike und Mittelalter keine Überlieferungskontinuität a la Armin/David vorlag, Tacitus etc musste ja erst wiederentdeckt werden; und klar ist, dass das David-Goliath Motiv erst nach der Christianisierung im europäischen Kulturraum Verwendung fand - freilich im 18. & 19. Jh. durchaus recht gehäuft eben auch in der Verquickung Germanen versus Römer / Armin vs Varus etc.
 
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Ich hätte mich präziser ausdrücken sollen bzw deutlicher kenntlich machen sollen, dass ich weniger über die Quellen selber als über die Rezeption und Rezeptionsgeschichte derselben zu schreiben versucht hatte. "unzivilisiert" versus "zivilisiert" ist sozusagen das populär gewordene Bild, die populär gewordene neuere Vorstellung von "Barbaren" versus "Römer", was dann in das antikolonialistische Bild weiter reicht (die wenigen Siege der "Wilden" gegen Kolonialtruppen). Im 19. Jh. gesellten sich dazu völkisch-nationale bis rassistische Beinoten, z.B. die wenig edlen kleinen "Welschen" und "Griechlein mit ihren Massageten und Hunnen" wider die edlen nordischen blonden großgewachsenen Goten (Felix Dahn u.a.)
Ja, du hattest ja auch selber darauf hingewiesen, dass du der Auffassung seist "dass Arminius' Truppen militärisch den gedrillten Legionen relativ nahe kamen (d.h. die erzählerische Diskrepanz Römer-Barbaren war auf militär. Ebene nicht so hoch, wie dieses Motiv es nahelegt)", aber als ich an der Stelle ankam, hatte ich meinen Sermon schon verzapft. Sorry.

Mein Verdacht ist, dass die Anrainer-Barbaren gar nicht so furchtbar barbarisch waren, und das führt mich zu einem weiteren Verdacht: wenn Naturgewalten als Erklärungsmodell verwendet werden, steckt darin weniger negative Kritik an Augustus, Tiberius & Co. - wenn darauf insistiert wird, dass die Gegner barbarisch waren, steckt darin negative Kritik (Wer sich von Barbaren abmetzgern lässt, kann ja nur ein Versager sein)
Das glaube ich nicht. Das Motiv, dass Arminius Varus verraten habe, kommt ja bereits in den frühesten Quellen vor, wenn auch nur in einigen Quellen ausgestaltet. Aber keineswegs ist Varus immer als der tumbe Tor dargestellt, der sich verraten ließ, manchmal ist er auch einfach das Opfer der Gerissenheit und Falschheit des Arminius. Also ob man Varus zum Schuldigen für die Niederlage stilisiert oder nicht, da kann man auch bei der Verratsgeschichte schrauben und das haben die antiken Historiographen getan.
 
Lass doch Muck und mir das Haare spalten, da tun weder er noch ich uns gegenseitig ein Unrecht.
Er kann es sogar ganz Dir überlassen, denn ich ziehe mich aus diesem doch recht sinnlosen Unterfangen jetzt zurück. ;)
Bzgl. des Narrativs "unzivilisiert": Wir wissen ja nur sehr unzureichend, wie die Germanen in der Varusschlacht gerüstet waren. Wir können annehmen, dass es sich wenigstens teilweise um römische Hilfstruppen handelte, die auch entsprechend ausgerüstet und taktisch geschult waren.

Bzgl. des Narrativs "David gegen Goliath": Dieser Narrativ funktioniert immer. Dieser Narrativ wird auch gerne missbraucht, indem man sich oder denjenigen, für den man aus welchen Gründen auch immer Partei ergreift, zum David stilisiert, der gegen die gemeine, böswillige Übermacht (eben Goliath) Widerstand leistet. Sehe ich hier allerdings nicht. Da, bis auf Orosius (VI, 21), eigentlich keiner der Geschichtsschreiber, der uns über die Varusschlacht berichtet hat, biblisch gebildet gewesen sein dürfte, im Mittelalter gibt es eine einzige vage Erinnerung an die Varusschlacht bei Otto von Freising (Weltchronik III, 4), die dieser von Orosius übernimmt und in Perlach lokalisiert, ist eigentlich keine Folierung des David-Goliath-Mythos auf die Varusschlacht vor dem 15. Jhdt. erkennbar.
In dem Zusammenhang fühle ich mich an jene Kommentare erinnert, die ich neulich schon zitierte: Die Römer mögen Kinder an Kreuze nageln und sind dennoch Sympathieträger. Das Salz in der Suppe der Varusschlacht ist vielleicht der Umstand, dass die Römer in der Wahrnehmung der Nachwelt zu den "Guten" gehören.

Die Nachwelt verdankt Rom ein Gutteil ihrer Identität, und römische Sitten sind selbst uns Deutschen näher als die der Germanen. Hätten wir die Wahl gehabt und wären nicht gerade Sklaven gewesen, hätten sich viele von uns als Zeitgenossen Varus' wohl für ein Leben in Rom und gegen eines in Germanien entschieden.

Selbst 'Barbaren' kommt um dieses Narrativ nicht herum. Die Germanen der Serie haben zwar verständliche Motive, doch ersetzen die kalkulierte Grausamkeit der Römer durch Mordlust. Wo die Römer planvoll vorgehen, tun sie es emotional. Sie sind dreckig, verräterisch, schänden sogar noch die Leichen ihrer Feinde.
 
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Selbst 'Barbaren' kommt um dieses Narrativ nicht herum. Die Germanen der Serie haben zwar verständliche Motive, doch ersetzen die kalkulierte Grausamkeit der Römer durch Mordlust. Wo die Römer planvoll vorgehen, tun sie es emotional. Sie sind dreckig, verräterisch, schänden sogar noch die Leichen ihrer Feinde.
Ist durchaus etwas, was wir bei Velleius Paterculus und Tacitus lesen können:
Varus Leiche wurde ausgegraben und geschändet, sein Kopf an Marbod gesandt (Velleius: Vari corpus semiustum hostilis laceraverat feritas; caput eius abscisum latumque ad Marboduum).
Die Römer, welche die Waffen streckten, wurden zu Tode gemartert (Vellius: auctor deditionis supplicio quam proelio mori maluit. [...] Cum in captivos saeviretur a Germanis) - im Widerspruch dazu(?) Tacitus und Seneca, die über versklavte Römer sprechen (Seneca als Mahnung, dass man seine Sklaven gut behandeln solle, Tacitus spricht über die Befreiung von Sklaven).
Der 15 angelegte Grabhügel wurde auseinandergeworfen (Tacitus).

Velleius ist aber auch durchaus fair. Er schreibt, dass die Römer die Germanen bei früheren Gelegenheiten wie Vieh geschlachtet hätten (quem ita semper more pecudum trucidaverat).


Also, wie auch immer man die Quellenstellen bewerten will, die Serie hält sich da genau an die Vorgabe der Quellen.
 
Und die Germanen konnten auf die Römer "schießen" - wie nah mussten sie dazu heran? - aber die Römer konnten ihre Fernwaffen nicht einsetzen? (behauptet Cassius Dio) Sorry, aber es war mir nicht bekannt, dass eine germanische hasta bei Regen fliegt, aber ein römisches pilum nicht.
Torsionsgeschütze: Römische Horrorwaffen im Wettertest Ausgegraben
"Es begann mit den Bolzenfunden von Kalkriese", erzählt Historiker Christoph Schäfer von der Universität Trier im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Das Gebiet im Osnabrücker Land gilt als möglicher Schauplatz der Varusschlacht, in der drei römische Legionen mit rund 20.000 Mann von den Germanen unter Arminius aufgerieben wurden. An den dort entdeckten Geschossen konnten die Wissenschaftler erkennen, welch schreckliche Waffen die Römer aufgefahren hatten: Torsionsgeschütze, auch "Scorpiones" genannt."
Torsionsgeschütze sind gemeint.
 
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