Die Zurückhaltung Bismarcks trat ja auch erst nach den Eroberungen 1866 bzw. 1870/71 auf.
Ich halte die großzügige Verteilung Afrikas, bzw. die Mitwirkung daran nach Varzin'scher Gutsherrenart jetzt nicht unbedingt für besonders zurrückhaltend. Wenn mir heute jemand ne Einladung zu einer Konferenz bezüglich der Aufteilung eines Kontintes und der Ausbeutungsrechte an den dort befindlichen Ländereien und Völkern zustellen würde, würde ich ihn mit Verdacht auf Größenwahn und völligen Realitätsverlust an einen Nervenarzt weiterempfehlen.
Das war nicht zurückhaltend, nichtmal besonders uneigennützig. Es war ledigich kooperativere Aggression, als dass dann später unter Wilhelm dem Letzten der Fall war.
Aha, Deutschland hätte aggressiver Kolonien erbeuten sollen um die dadurch auftretenden Konflikte mittels der Verhandlungsmasse zu lösen?
Wenn wir mal die moralische von der funktionalen Ebene trennen, wäre das für die Verhandlungsposition seiner Nachfolger möglicherweise von Vorteil gewesen. Natürlich hätten sich diese Nachfolger auch einfach damit zufrieden geben können, dass sie nicht die erste Geige in der Welt spielen können.
Das wäre ex post anständiger und wünschenswert gewesen, hätte aber wohl kaum den zeitgenössischen Auffassungen entsprochen.
Auch Bismarcks tendenzielle Zurückhaltung bezüglich krassen Egoismusses, entsprach ja nicht einer heheren Vorstellung von Moralität, sondern war dann wohl eher taktischer Natur, denn sonst hätten sich die dennoch unter Reichsschutz gestellten "Schutzgebiete" oder ein Zusammenarbeiten mit Gestalten wie Herrn Peters wohl auch verbeten.
Deutschland war doch nicht diplomatisch isoliert, es hatte nur zu wenige militärische Verbündete, trieb die Briten in Belgien in ein militärisches Eingreifen und hat bei den verschiedenen Konflikten zu selten mit Kompromissen eine Entschärfung angestrebt. Frankreich hat das geschafft: Faschoda -> Entente.
Ich zähle militärische Bündnisse durchaus zur dpilomatischen Sphäre mit dazu und da sah es einmal recht mau aus. Mit Österreich konnte man noch rechnen, Italien und Rumänien mussten bereits als unsichere Kantonisten angesehen werden und das wars. Rein auf Österreich gestützt war eine Bündnispolitik à la Bismarck definitiv nicht mehr möglich.
Inwiefern der Eintritt Großbritanniens tatsächlich durch den Einmarsch in Belgient intendiert wurde ist meines Wissens nicht vollends geklärt. Sicherlich war es politisch alles andere als klug, wie ex post auch der ganze Fokus auf den Westen nicht klug war, aber das ist dann wieder ein anderes Thema.
Im Fall Belgiens ist das Problem aber weniger der generelle Politikstil des Wilhelminischen Deutschland, sondern der übermäßige Einfluss der militärischen Planer auf die Außenpolitik. Selbiges kann man sicher auch im Fall Tirpitz konstatieren, nur taugt es nicht als Paradebeispiel an und für sich der wilhelminischen Politik. Ist ja nicht so, als wäre man alle 2 jahre in irgendeinem Nachbarland einmarschiert.
Was die Franzosen angeht: Eben. Faschoda.
Faschoda war aber eben auch nur deswegen möglich, weil die Franzosen ein adäquartes Kolonialreich besaßen von dem aus sie den Briten auch tatsächlichen Ärger machen konnten.
Davon einmal abgesehen bestand zu diesem Zeitpunkt bereits die Französisch-Russische Allianz. bei einer Eskalation hätten die Briten sich also nicht nur mit den Franzosen in Afrika auseinandersetzen müssen, sondern gleichzeitig möglicherweise noch mit den Russen in Asien.
Diese Ausgangslage zwang Britannien, wie ich das sehe zu gewissen Kompromissen und derlei war das Wilhelminische Deutschland nicht in der Lage aufzubieten.
Deswegen ist der Vergleich mit Frankreich eigentlich eine Bestätigung dessen, was ich schreibe und kein ernsthaftes Gegenargument.
Ich sage ja nicht, dass ich mir ein imperialistisches Deutschland gewünscht hätte. Nur bin ich der Meinung, Deutschland auf eine zu imperialistische Rolle zu reduzieren alleine, wird der Sache nicht gerecht.
Deutschland hätte sich eine derart imperialistische Rolle diplomatisch möglicherweise leisten können, wenn es im 19. Jahrhundert die territoriale Basis dazu gelegt hätte.
Insofern war das Wilheminische Deutschland zu imperialistisch, als dass es nicht dauernd durch feindseliges Gehabe aufgefallen wäre und zu wenig imperialistisch, als dass es damit irgendwem ernsthaft Angst hätte einjagen können und das ist eine gefährliche Mischung.
Ich sehe, auch wenn das hypothetisch ist, auch für ein imperialistischeres deutschland bessere Chancen Arrangements herbei zu führen, als für das tatsächliche.
Das vollkommen unabhängig davon, dass ein saturiertes Deutschland ohne derartige außenpolitische Ambitionen natürlich wünschenswerter und ebenfalls fridensfähiger gewesen wäre.
Bismarck hat sich mit seiner Zurückhaltung im Bereich egomanischer Alleingänge seinerzeit viel diplomatischen Einfluss "erkauft", dadurch, dass es aber keine territoriale Ausweitung Deutschlands in dem Maßstab gab, wie dass bei den drei Großen der Fall war, beraubte er seine Nachfolger damit auch nachhaltig der Möglichkeit über die koloniale Peripherie als Verhandlungsmasse diplomatische Probleme zu lösen oder einzufrieren.
Sicherlich wäre das wie gesagt kein Problem gewesen, wenn KWII und Konsorten mäßiger aggiert hätten. Aber wenn wir ehrlich sind, aggierte auch Bismarck zu aktiver Zeit nicht "mäßig", sondern lediglich weniger offensichtlich eigennützig.
Bismarck konnte kompromisse vermitteln, weil er auf Aktionsmöglichkeiten machtpolitischer verzichtete, seine Nachfolger konnten es nicht, weil sich derartige Optionen für sie nicht mehr boten. Die Welt war so weit verteilt, dass man nicht mehr einfach expandieren konnte und für die anderen wirklich interessante Verhandlungsobjekte hatte man kaum inne.
Nun war aber Bismarck zu seiner Hochzeit nicht irgendein Hinterbänkler der europäischen Politik, sondern in Teilen ihr Moderator. Ihn einfach nur in die Rolle eines saturierten Kompromisslers zu schreiben erscheint mir da zu kurz gegriffen.
Und eben diese Möglichkeit, die europäische Politik an sich zu ziehen und zu dominiren um auch wirklich Kompromisse zu schaffen, sehe ich bei seinen Nachfolgern nicht mehr und das hat nur bedingt etwas mit der Persönlichkeit zu tun, sondern vor allem damit, das das Deutsche Reich außer im subsaharischen Afrika und in Shandong im Grunde nirgendwo wirklich präsent war und ergo von den präsenten Mächten auch nicht in die Abmachungen einbezogen werden musste und wurde.
An je weniger Regelungen man aber teil hatte, desto weniger konnte man auch um des friedens Willen abschenken.
Und aus eben diesem Grund war ein Politikstil à la Bismarck, in der Form, dass man zur Konferenz trommelt und den europäischen Friden dadurch sichert, dass man den anderen Mächten großzügig die Annexion, errichtung von Protektoraten und diverse Einflussphären außerhalb Europas bewilligt nicht mehr machbar, denn die waren eben unter Mitwirkung Bismarcks schon verteilt worden.
Österreich und Russland haben sich noch 1908 zulasten der Hohen Pforte einigen können.
Das war allerdings eine sehr zähneknirschende Einigung mit sehr viel Säbelgerassel und darüber hinaus der Situation zwischen beiden Mächten sehr abträglich.
Einerseits, weil Österreich bekam, was es wollte und in der Folge nicht mehr auf das russische Wohlwollen im Bezug auf Bosnien und die Herzegowina angewisen war, zum anderen weil in Russland infolge dessen alle Slawophilen und Panslavisten erst recht gegen Österreich auf die Barrikaden gingen.