Golden Haggah,Spanien,1320
Die Frauen müssen offenbar beim Trommeln auf die ›Tafel‹ schauen, die sie zur Regelmäßigkeit des Rhythmus mahnt, was sie sich beim Musizieren offenbar nicht gewohnt waren (im Gegensatz zu uns). Zur Verdeutlichung des Taktes hält sogar die eine Frau der beiden hinteren Damen rechts den vierten Finger der anderen. Es geht also definitiv um die Vier.
@Mashenka das ist aus heutiger Perspektive sozusagen automatisch richtig gedacht (drei Rhythmusinstrumente, zwei Tänzerinnen*) (?), eine Laute), aber gemessen an dem, was man sicher über die Geschichte der Notation weiß, wird es fragwürdig: im 11. Jh. mit Guido von Arrezzo beginnt eine systematische Notation der Tonhöhen der "Stammtonreihe" (mit farblicher Fixierung der Halbtonschritte h-c und e-f), dazu als praktische Handhabung die Solmisation, ab Mitte des 12. Jhs. kam eine rudimentäre Notationsweise für gerade mal sechs Rhythmen (orientiert an griech. Vermaßen) hinzu, die Modalnotation, und im 13. Jh. dann Franco von Köln (1280) mit der rhythmisch komplexeren Mensuralnotation (nun mit Noten
werten & -aufteilungen) Letztere wurde erst deutlich später für Instrumentalmusik, zunächst nur für kirchliche Vokalmusik - Ars Nova - grundlegend. Wenn wir jetzt die Jahreszahl 1320 unreflektiert betrachten, dann könnten wir schlußfolgern: die Damen haben da womöglich eine Modalnotation, damit sie halbwegs im Takt bleiben
oder wenn wir uns vorstellen, sie seien ultra up to date, dann könnten sie schon ein Mensuralnotation a la Franco von Köln verwenden und besser im Takt bleiben
...die Sache hat nur leider ein paar Haken:
- wir haben fast nichts über die weltliche Musik des Mittelalters, wissen nur aus Analogieschlüssen, dass sie improvisatorisch funktionierte, wofür Guidos Tonhöhen/Notenlinien und Francos Tondauern (Ganze, Halbe als
Maxima, Longa, Brevis, Semibrevis, Minima, Semiminima) weniger hilfreich waren: es gibt vor der Ars Nova - und die kaprizierte sich auf mehrstimmige Motetten (kirchliche Vokalmusik!) - keine Tonhöhen- und Tondauernnotationen rein instrumentaler Musik - aber genau das bildet die Illustration ab...
- die Innovationen der Notationsweisen betrafen leider nur die "Kirchenmusik", also befanden sich in klerikalem Kontext: schmucklos (kein weltliches Instrumenten-tschingbum), kunstvoll (mehrstimmig), ad gloriam dei nur im liturgischen Brimborium (Mönchschöre), kurzum in der Kirche. Ohne Laute, Kastagnette, Tamburin und schon gar nicht von der Damenwelt aufgeführt
Das ist ein Dilemma!
Zunächst ein Dilemma des sicherlich klerikalen Illustrators, der vor dem Problem stand, etwas eigentlich ungehöriges (tanzende, singende, musizierende Frauen) darzustellen, weil es nun mal in der Heiligen Schrift so stand (Gottes Wort). In diesem Sinn, also vor dem Hintergrund dessen, was man über die Musik und Musizierpraxis des frühen 14. Jhs. wissen kann, ist die Illustration natürlich hochinteressant, weil der klerikale Illustrator das abbildet, was er für religiös vertretbar und quasi realistisch für weltliches Musizieren hält. Deswegen sind die abgebildeten Instrumente natürlich eine spannende Quelle**) - - - und was ist das
viereckige Ding?
Da bin ich unentschieden:
(1) - einerseits beschleichen mich Zweifel, dass es sich da um eine eigentlich nur der kirchlichen Vokalmusik vorbehaltene Notation handeln könnte, die 1320 sozusagen hochmodern war***)
(2) - andererseits weiß ich, dass die mittelalterlichen klerikalen Illustratoren oft genug raffiniert, frech, überraschend, humorig, hochgelehrt und in Sachen Ornamentik brillant sein konnten, und es würde mich auch nicht wundern, wenn die heiligen Damen aus der Bibel da aus der Reihe tanzend für weltliches Tschingbum ein eigentlich dem Kirchengesang vorbehaltenes "Notenheft" haben dürfen
für (2) spricht das, was
@El Quijote sehr richtig über die Blickrichtungen der musizierenden Damen demonstriert hat!
gegen (2) spricht, dass die fein gekleideten Damen eigentlich keine Ausbildung in Mensuralnotation haben konnten...
Ein tolles Bild!
______________
*) dass die beiden "Fingerhaklerinnen" da gerade Solmisation a la
https://de.wikipedia.org/wiki/Guidonische_Hand abfummeln, glaube ich nicht
**) wobei ich gestehen muss, dass ich diese Kombination lieber nicht hören möchte...
***) wo ist diese Illustration gefertigt worden?