M.A. Hau-Schild schrieb:
Kurz dann die Frage:
Wo finde ich denn dan Beweise oder einen Artikel über die Beweisbarkeit der Manipulation von der du redest?
Das würde mir sehr helfen dem ganzen zu folgen.
Herman Kantorowicz hat im ersten Teil (Seite 59-97) seines für den Untersuchungsauschuß des Reichstages im Jahr 1927 fertiggestellten Gutachtens die von ihm ausgewerteten Dokumente einer textkritischen Untersuchung unterzogen.
Untersucht wurden von ihm sowohl russische, französische, englische, serbische, belgische, österreich-ungarische und deutsche Dokumente. Im Gutachten sind die herangezogenen Quellen genau benannt. Bei den deutschen Quellen handelt es sich unter anderem um "Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. Vollständige Sammlung der von Karl Kautsky zusammengestellten amtlichen Aktenstücke mit einigen Ergänzungen. Hrg. von Walter Schücking und Max Montegelas, 5 Bde., Berlin 191, 3. Auflage 1927", die bei Kantorowicz mit "DD." abgekürzt wurden.
Er hat dabei auf allen Seiten zahlreiche Verfälschungen (Änderungen; Entstellungen; Streichungen; Einfügungen; Umdatierungen; Unterdrückung von Urkunden, die später nachgeschoben oder in anderen Archiven gefunden wurden, etc.) nachgewiesen und auch das Faktum der Verfälschung bei der Auswertung der Stoffsammlung berücksichtigt ("Fälschungen sind Schuldeingeständnisse"). Bei der Untersuchung der deutschen Dokumente zeigte sich, dass von 23 verfälschbaren Urkunden 18 verfälscht waren (78 % !).
In seinem Gutachten listet Kantowowicz auf den Seiten 87 - 95 die deutschen Verfälschungen auf. Ich kann das gar nicht alles wieder geben. Hier ein kleiner Ausschnitt (Seite 93):
>>Was sogar dem Chef [Jagow ist gemeint, Gandolf] zulässig schien, ergibt sich daraus, daß von Jagow nachweislich in zahlreichen Fällen sogar die für den Kaiser bestimmten Abschriften der eingelaufenen Telegramme eigenhändig verfälscht hat. Vergleicht man die beiden Fassungen, so sieht man, wie von Jagow in kleinlichster Arbeit, außer allerlei Stellen, die dem Hofmann anstößig waren, wieder und wieder das gestrichen hat, was den Kriegswillen des wankelmütigen Monarchen hätte erschüttern können, z.B. ungünstige Darstellungen der militärischen oder politischen Aussichten (DD. 117, 168, Anm. 5.), entgegenkommende Erklärungen Englands (DD. 157, Anm. 11.), maßvolle Bemerkungen der eigenen Botschafter (DD. 160), namentlich aber die Warnungen Lichnowskys vor der Haltung Englands, Frankreichs, Rußlands - der "gute" Lichnowsky, wie ihn Jagow nannte (DD. 56, vgl. DD. 6.), sollte möglichst wenig zur Geltung kommen. Auch der Kanzler ließ sich dazu herbei, in einer für den Vortrag beim Kaiser benutzten Entzifferung Streichungen vorzunehmen oder die von anderer Hand (Jagow?) vorgenommenen zu benutzen. So wurde dem Kaiser unter anderem in Lichnowskys Telegramm vom 26. Juli (DD. 236) der Schlußsatz unterschlagen: "Ich möchte dringend davor warnen, an die Möglichkeit der Lokalisierung auch fernerhin zu glauben und die gehorsamste Bitte aussprechen, unsere Haltung einzig und allein von der Notwendigkeit leiten lassen, dem deutschen Volk einen Kampf zu ersparen, bei dem es nichts zu gewinnen und alles zu verlieren hat." An den Rand des verstümmelten Telegramms konnte der Kanzler demgemäß den Randvermerk machen: "S.M. mißbilligten den Standpunkt Lichnowskys." Dann aber werden wir uns gewiß nicht über die Fälschungen der Urkunden des deutschen Weißbuches vom 3. August wundern dürfen. Denn diese Fälschungen und die ihrer würdige Denkschift waren ja nicht für seine Majestät, sondern für das deutsche Volk bestimmt. Sie waren es, die dem
Reichstag vorgelegt wurden, die die Grundlage der geschichtlichen Sitzung vom folgenden Tage bildeten, und so das deutsche Volk, dessen heiligste Gefühle hier mißbraucht wurden, in den Krieg gepeitscht haben. Damit hat der Fälscher, wer es auch sei, eine furchtbare Verantwortung auf sich geladen, die dieser Ausschuß nicht aus dem Auge verlieren darf. Juristisch lastet sie auf dem Kanzler. Aber auch seine tatsächliche Mitwisserschaft halte ich für durchaus möglich. Ich will dafür ein parlamentarisch interessantes Indiz anführen. Er wehrte sich in seiner Reichstagsrede vom 19. August 1915 mit höchster Entrüstung gegen englische Angriffe auf seine Tätigkeit gegenüber Wien. Zur Widererlangung legte er unter "großer Bewegung" des Hauses seine Instruktion an Tschirschky vom 30. Juli vor, anscheinend im Wortlaut, denn er sagte sie "laute folgendermaßen". Aus ihr las er den Satz vor: "Die Verweigerung jeden Meinungsaustausches mit St. Petersburg aber würde ein schwerer Fehler sein", unterschlug aber die peinliche und mit der Theorie vom "überfallenen Deutschland" nicht recht vereinbare Fortsetzung: "da es kriegerisches Eingreifen geradezu
provoziert, das zu vermeiden Österreich-Ungarn in erster Linie interessiert ist." Die gleiche Auslassung hatte er schon in der ersten Veröffentlichung des Telegramms in der "Westminster Gazette" vom 1. August begangen.
Auch die anderen Weißbücher der kaiserlichen Regierung von 1914 sowie, was uns hier nicht angeht, die Auslassungen ihrer zwei Nachfolger im Amte, ferner die amtlichen Äußerungen der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" enthalten schwere Fälschungen. (...)"<<
aus Hermann Kantorowicz, Gutachten zur Kriegsschuldfrage 1914, Herausgegeben von Immanuel Geiss, Europäische Verlagsanstalt, 1967, S. 93/94.
Und damit dürfte auch klar sein, dass es hier nicht um das übliche Aktenchaos geht, sondern um gezielte Verfälschungen.