Jetzt zu einem Beispiel, wie Dialektik im Bereich der Geschichtswissenschaft beschrieben wird. Dazu greife ich auf ein Lehrbuch zurück, welches in der DDR das vielleicht beste, jedenfalls aber das umfangreichste war und insoweit auf Höchste der Dialektik verdächtigt werden darf. [1]
[...]
Könnte Sir Raimund mit einer derartigen Bescheibung leben? Wo sind die Knackpunkte für ihn und uns?
[1] Eckermann/Mohr (Hg.): Einführung in das Studium der Geschichte. Berlin 1969, S. 69 ff.
Das sind doch einmal Butter bei die Fische und konkrete Frage! Fern davon alles zu quoten, will ich deine ausführliche Zitierweise wenigestens etwas kürzen:
1. Die Geschichtswissenschaft hat die doppelte Aufgabe, "die Tatsachen so vollständig wie möglich zu sammeln und quellenkritisch zu verarbeiten" und "zugleich unter diesem Tatsachenmaterial richtig auszuwählen, es nach bestimmten gemeinsamen Merkmalen zu gruppieren, zu analysieren und interpretieren. ... Reißt man die beiden Seiten auseinander, dann ergibt sich tatsächlich ein unversöhnlicher und unauflöslicher Gegensatz ... der historischen Forschung, der einerseits zur bloßen Faktographie und andererseits zum Subjektivismus, zur willkürlichen Konstruktion von historischen Gesetzen oder aber zur Leugnung der Existenz der Gesetze führt. In Wirklichkeit handelt es sich um einen typisch dialektischen Widerspruch, in dem sich beide Seiten wechselseitig durchdringen und gegenseitig bedingen."
Ich könnte mir vorstellen, daß Popper gegen das hervorgehobene Adverb etwas auszusetzen hätte, weil er aus erkenntnistheoretischer Sicht kein Kriterium angeben könnte, das diese rechtfertigen könnte. Ferner beginne Erkenntnis nach Popper auch „nicht mit [...] der Sammlung von Daten oder von Tatsachen, sondern sie beginnt mit Problemen.“ (
Die Logik der Sozialwissenschaften, 1969, S.104) Daß dabei das Material neu angeordnet, analysiert und interpretiert wird, um sich einem historischen Problem etwa zuzuwenden, wird er freilich nicht in Abrede stellen wollen. Des weiteren hat er sich durchaus gegen eine (positivistische) Forschung ausgesprochen, die „eine bloße Faktographie“ als Ausgangspunkt nimmt (vgl. Dahms,
Positivismusstreit. Ffm: Suhrkamp, 1994, Kp. 4.2): „was zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Arbeit wird, ist nicht die Beobachtung als solche, sondern die Beobachtung in ihrer eigentümlichen Bedeutung – das heißt aber eben, die problem-erzeugende Beobachtung“ (ebd., S.105); freilich hätte er dem gegenüber aber nicht gegen die subjektive Problematisierung eines vermeintlich historischen Erkenntnis einzuwenden, da sich die neue vermeintliche Problemlösung dafür erst im Diskurs der rationalen Kritik zu bewähren hätte. Schließlich ist festzustellen, daß Popper (
The Poverty of Historizism/ Das Elend des Historizismus, 1965) es überhaupt abgelehnt hat, in der Geschichte Gesetze zu konstruieren, geschweige denn zu entdecken: „Ich will die von den Historizisten so oft als altmodisch angefeindete Auffassung verteidigen, daß die Geschichte durch ihr Interesse für tatsächliche, singuläre, spezifische Ereignisse im Gegensatz zu Gesetzen oder Verallgemeinerungen charakterisiert ist.“ (zit. nach Dahms, 1994, S.336, Anm.193)
Daraus folgt für mich, daß Popper also eher der in Punkt zwei genannten „bürgerlichen Geschichtsschreibung“ vorschub leisten würde:
“[...] Dazu wird sie [die Aussonderung eines Teils der Tatsachen] nur von der bürgerlichen Geschichtsschreibung gemacht, die die innere Dialektik dieses Verfahrens nicht versteht. Die Aussonderung der Tatsachen, die Hervorhebung der einen und die Vernachlässigung der anderen, muss vielmehr auf die Rekonstruktion des inneren, wesentlichen, gesetzmäßigen Zusammenhanges der Geschichte ausgerichtet sein."
Und vielleicht wird das anderweitig zitierte Diktum von Habermas so deutlicher
wonach "der dialektische Begriff des Ganzes [...] die Grenzen formaler Logik (überschreitet), in deren Schattenreich Dialektik selber nicht anders scheinen kann als eine Schimäre."
Wie dem auch sei, komme ich zu der was Popper zu dem in Punkt 4 angesprochenen „Wesen der historischen Prozesse“sagen würde bzw. zu der Folgerung
"dass der Historiker nicht nur einfach die Feststellungen registrieren darf, die in den historischen Tatsachen enthalten sind, daß er nicht nur feststellen darf, welche Probleme die Menschen, deren Handlungen in diesen Tatsachen fixiert sind, selbst gesehen haben, sondern daß er zu Problemen vorstoßen muss, die nicht unmittelbar in den Quellen, in denen die historischen Tatsachen erfasst sind, enthalten sind.
H.-J. Dahms (1994) weist auch darauf hin, daß Popper bezüglich der Frage, wie seine Forschungslogik konkret in den Sozialwissenschaften anzuwenden sei, erst ganz am Ende seines Tübinger Referates eingeht; er spricht dabei von einer „objektiv verstehenden Sozialwissenschaft“, deren „individualistische Methode“ nennt er „Situationslogik“, die daraus hervorgehenden Erklärungen „rationale, theoretische Rekonstruktionen“ (Popper, 1969, S.120 f); als Voraussetzungen einer wissenschaftlichen Situationsanalyse gilt nach Popper die allgmeine Annahme einer „physischen Welt“ in der mit Hilfsmitteln und ggf. gegen Widerstände gehandelt wird; einer „sozialen Welt“, die sowohl andere Menschen mit eigenen Zielen als auch aus „sozialen Institutionen“ besteht, wobei die letzteren den „eigentlichen sozialen Charakter unserer sozialen Umwelt [bestimmen]“ (S.121) usw.; um eherlich zu sein: Ich finde das etwas banal, was der Herr Karl Raimund Popper dort skizziert und auch noch im Anschluß an seine zahlreichen Thesen seines Tübinger Referates seinen vielleicht eher nur scherzhaft oder provokativ eingebrachten programmatischen Vorschlag unterbreitet (Popper, 1969, S.122): als „die Grundprobleme der reinen theoretischen Soziologie könnten vielleicht vorläufig die allgemeine Situationslogik und die Theorie der Institutionen und Traditionen angenommen werden“, die zwei Einzelprobleme einschließe, nämlich eine „Theorie der quasi-Handlungen von Institutionen“ als „allgemeine Situationslogik“ individueller Handlungen sowie eine „Theorie der gewollten und ungewollten institutionellen Folgen von Zweckhandlungen“ beispielsweise als „Theorie der Entstehung und der Entwicklung von Institutionen“. Nichts desto weniger hätte Popper wohl nichts einzuwenden gegen das Vorstoßen zu Problemen, „die nicht unmittelbar in den Quellen, in denen die historischen Tatsachen erfasst sind, enthalten sind“ (Eckermann & Mohr).
Bei den Punkten 5-7 wird es für mich wirklich schwierig. Popper lehnt bekanntlich jeglichen Induktivismus ab; im Kontext der Sozialwissenschaften spricht er das in bezug auf Verhältnis von Soziologie und Anthropologie an, wobei er in bezug auf letztere von eine gewissermaßen verfehlte wissenschaftlichen Methode spricht: „pseudo-naturwissenschaftliche Methode“ (Popper, 1969, S.108). Der induktiven Methode stellt Popper, ebenso bekannt, die Deduktion gegenüber, genauer: die „deduktive Logik“ als „Theorie von der Gültigkeit der logischen Schlüsse oder logischen Folgebeziehung“ (S.115) In bezug auf ein theoretisches Problem angewendet, will Popper das so verstanden wissen, daß etwas erklärt werden muß (Explikandum), wozu eine Erklärung (d. h. eine Theorie oder deduktives System) gesucht wird, die es erlaubt, das die zu erklärende Tatsache (Explikandum) „mit anderen Tatsachen (den sogenannten Anfangsbedingungen) logisch [zu] verknüpfen. Eine völlig explizite Erklärung besteht immer in der logischen Ableitung (oder Ableitbarkeit) des Explikandums aus der Theorie, zusammen mit den Anfangsbedingungen.“ (S.117) Das Grundschema noch einmal zusammengefaßt:
problematisches Explikandum => Prämisse/Erklärung + Anfangsbedingungen => logischer, deduktiver Schluß
Dieses (erkenntnis-) logische Grundschema macht wiederum nach Popper meherere Unterscheidungen möglich
a) diejenige „zwischen einer ad-hoc Hypothese und einer unabhängig überprüfbaren Hypothese“
b) diejenige „zwischen theoretischen Problemen, historischen Problemen und Problemen der Anwendung“
c) diejenige „zwischen theoretischen oder nomothetischen Wissenschaften und ideographischen oder historischen Wissenschaften“
Allerdings bleibt er für diese Unterschiedungen eine explizite Erläuterung schuldig; daher bleibt greife ich aus Verlegenheit auf Adorno zurück, der in seinem Tübinger Koreferat zu Poppers sozialwissenschaftlicher Logik immerhin auf diese Thesen, wenn auch nur im Vorbewinken, eingeht: Adorno (
Zur Logik der Sozialwissenschaften, 1969) etwa will den Begriff der Logik weiter fassen als „allgemeine Denkregeln, die deduktive Disziplin“ (S.125); ihm schwebe vielmehr „die konkrete Verfahrensweise der Soziologie vor“ (ebd.), deren Gegenstand („die Sache selbst“), wenn ich so sagen darf, „der blanken systematischen Einheit verbundener Sätze [widersteht]“ (S.126), „nicht einstimmig, nicht einfach ist, auch nicht neutral dem Belieben kategorialer Formung anheim gegeben, sondern anders, als das Kategoriensystem der diskursiven Logik von seinen Objekten vorweg erwartet. Die Gesellschaft ist widerspruchsvoll und doch bestimmbar; rational und irrational in eins, System und brüchig, blinde Natur und durch Bewußtsein vermittelt.“ (ebd.) Freilich erschließt sich das Verständnis solcher Sätze nicht so unmittelbar, noch weniger die Behauptung, daß eine Soziologie, die keine den gesellschaftlichen Verhältnissen adäquate Verfahrensweise entwickelt, sich „in den verhängnisvollsten [Widerspruch]“ gerate, nämlich den „zwischen ihrer Struktur und der ihres Objektes“ (ebd.). Es ist daran zu erinnern, daß die vorexilische kritische Theorie ein Programm hatte, das den Versuch darstellte, die gesellschaftlichen Verhältnisse auf verschiedenen Ebenen zu erklären, dabei sowohl auf grundlegenden Erkenntnissen Marxens als auch namhafter Psychoanalytiker rekurrieren konnte und in den USA dann sogar empirisch tätig wurde. Das dazu oben nur andeutungsweise und von mir dann abgebrochenene Skizze eines Popperschen Programms einer Sozialwissenschaft ist gegenüber diesem ambitionierten Versuch einer umfassenden Kulturtheorie armselig. Um so merkwürdiger ist freilioch, daß Adorno anscheinend auf keine einzige der letzten Tübinger Thesen Poppers geschweige denn dessen programmatischen Vorschlag einer Sozialwissenschaft eingegangen war. Es muß ja nicht gleich die Dialektik der Aufklärung sein, die zur Veranschaulichung von wichtigen historschen Analysen herhalten muß, sondern es reicht auch ein Blick in den Artikel „Autorität und Familie“ (1936 – wieder abgedruckt in: Horkheimer,
Traditionelle und kritische Theorie. Ffm: Fischer, 1992) oder „Egoismus und Freiheitsbewegung“ aus dem gleichen Jahre (ebenfalls wiederabgedruckt in Horkheimer, 1992), um zu sehen, daß die kritische Theorie, an der Horkheimer, Adorno u. a. gearbeitet haben, schon lange eine „Gemüsehandlung oder ein Universitätsinstitut oder eine Polizeimacht oder ein Gesetz [...] Kirche und Staat und Ehe“ (Popper, 1969) als „soziale Institution“ begriffen.
Ungeachtet dieser (meiner) Polemik gegen Popper etwa sei schließlich eingewendet, daß er den Nachweis, „historische Probleme“ seien
nur mit der „ideographischen Methode“ (Windelband) erklärbar und können prinzipiell nicht nomothetisch erklärt werden, noch schuldig geblieben – zumindest in seiner sozialwissenschaftlichen Logik von 1969.