Die Abschaffung der Sklaverei durch industrielle Revolution und europäische Aufklärung

Provokante Frage: War die Leibeigenschaft wirklich so schlimm?
Literaturtipp: Turgenew: "Aufzeichnungen eines Jägers"
Keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern eine Sammlung von Erzählungen rund um das Thema russisches Landleben inkl. Leibeigenschaft Mitte des 19. Jhdts., verfasst von jemandem, der das aus eigener Anschauung bestens kannte.
 
Geht das etwas präziser?
Die Wahrheit ist doch eher, dass Leibeigenschaft in vielen Territorien mit z.T. lächerlich geringen Rekognitionszinsen verbunden war. Leibeigenschaft war in vielen Fällen eine Reminiszenz und für Landesherrn ein Ärgernis, weil der bürokratische Aufwand nicht im Verhältnis zum Erlös stand.
Das die Leibeigenschaft in erster Linie nicht den Landesherren zu gute kam, sondern der Großteil des Profits daraus bei den Zwischengewalten hängen blieb und so der Nutzen für die Landesherren selbst begrenzt war ist klar, wobei die Frage, ob sie davon trotzdem größere Vorteile hatten, dann natürlich letztendlich von der Größe der Staatsdomäne abhing.

Besonderen "bürkoratischen Aufwand" dürfte das allerdings eher nicht versuracht haben, da dank Steuerpacht und Partimonialgerichtbarkeit in den Gutsbezirken, jedenfalls im frühneuzeitlichen Ostelbien wesentliche Aufgaben ja gerne mal "outgesourced" wurden.


Sicherlich war die Leibeigenschaft und das damit verbundene System für die Landesherren, da wo sie existierte insofern ein Ärgernis, dass sie die Macht der alten Zwischengewalten stützte und den Landesherren den vollen Zugriff und die volle Besteuerung von Teilen des eigenen Territoriums verwehrte.
Von dem her konnten Landesherren durchaus die Motivation haben das System der Leibeigenschaft und später der Feudallasten los zu werden, um die alten Grundherren und Zwischengewalten endgültig zu entmachten und an deren Stellen die eigene Staatsbürokratie zu setzen um die landesherrliche Herrschaft bis in die Provinzen hinein auszubauen und das eigene Maß an Kontrolle zu vergrößern.

So gesehen lässt sich die Abschaffung der Leibeigenschaft durchaus auch mehr als ein Projekt absolutistischer Herrschaftsbildung nach innen, als als aufklärerischer Fortschritt verstehen, zummindest so weit es von den Landesherren selbst vorrangetrieben wurde.
 
Die Leibeigenschaft schlug sich nach Andermann in mittelrheinischen Territorien zu 1,5% oder 2% an allen Abgaben und Steuern nieder. Der Rest ist nur halbrichtig und bezieht sich auf die Gutsherrschaft, die etwas qualitativ anderes war.

Leibeigenschaft ist einfach eine Reminiszenz aus der Zeit, in der die Personenbindungen überwogen und das Territorialstaatsprinzip noch nicht galt. Mit der vollen Besteuerungen hat das nichts zu tun, sondern mit der Tatsache, dass der Leibherr vor allem in territorial zersplitterten Gebieten zusätzlich Rechte usurpieren konnte, wie z.B. der Pfalzgraf. Das wollten die umliegenden Territorialherren natürlich nicht und deshalb wollten sie, dass die Leibeigenschaft abgeschafft wird. Um Profit ging es da nicht, sondern um rechtliche Zugehörigkeit. War ja auch deshalb wichtig, da es Mischehen zwischen territorialfremden Leibeigenen und freien Untertanen gab, die nicht leibeigen waren, aber dem eigenen Territorium angehörten. In der Vormoderne gilt nämlich das Prinzip der sich überlappenden Rechtskompetenzen. Kirchenherr, Grundherr, Niedergericht, Hochgericht, Leibherr, Landesherr alles verschiedene Stiefel.
 
Die Leibeigenschaft schlug sich nach Andermann in mittelrheinischen Territorien zu 1,5% oder 2% an allen Abgaben und Steuern nieder.
Auf welche Territorien genau und auf welche Zeit bezieht sich das? Und gibt es auch wörtliches Zitat dazu, was er genau gesagt hat? Wie werden Arbeitspflichten wie etwa Spanndienste dabei berücksichtigt?
 
"Spanndienste" gab es ja auch bei "Nichtleibeigenen".
Trotzdem bleibt halt die Frage, inwieweit man solche Arbeitsdienste bei Leibeigenen berücksichtigt hat. Diese Angabe mit den "1,5% oder 2% " wirkt ja so, als sei die Leibeigenschaft kaum eine Belastung für die Betroffenen gewesen, von der persönlichen Unfreiheit mal abgesehen. Deshalb ist eben wichtig zu wissen, was da genau mit was verglichen wurde, um die Frage zu beantworten, ob diese Zahl eine realistische Einschätzung der Lage der Leibeigenen erlaubt, oder ob da nicht wesentliche Elemente ausgeblendet werden.

Wichtig wäre auch zu wissen, wie viele Leibeigene es im Zeitraum, auf den sich die Zahlen beziehen, in den betroffenen Territorien eigentlich gab. Wenn es zu dieser Zeit nur (noch) wenige Leibeigene gab, dann kann die Leibeigenschaft insgesamt von geringer Bedeutung gewesen sein, für die Betroffenen aber dennoch eine große Belastung.
 
darauf gründete Turgenews literarische Karriere.
Freilich sind wir da mitten im 19. Jh. angelangt und könnten noch Ausschnitte aus Dostojevski (z.B. Fedjka in den Dämonen) und Tolstoi ergänzen, von Gogol (tote Seelen) ganz zu schweigen.
Aus den Romanen Dostojewskis und Tolstois, die ich gelesen habe, geht, jedenfalls soweit ich mich erinnere, nicht hervor, dass die beiden die Leibeigeschaft (die zur Entstehungszeit der Bücher schon abgeschafft war) für eine schlimme Sache gehalten hätten.
 
Die Leibeigenschaft schlug sich nach Andermann in mittelrheinischen Territorien zu 1,5% oder 2% an allen Abgaben und Steuern nieder.
Es wäre immernoch interessant zu wissen, auf welche Publikation du dich beziehst und von welchem Zeitabschnitt wir hier reden und nebenbei auch von welchen Territorien im Besonderen.

Das Mittelrheingebiet ist von Mittelalter bis zum Wiener Kongress ein Gebiet in dem vor allem die Stiftsgebiete der großen Bistümer und weltliche Klein- und Kleinstherrschaften nebeneinander lagen.

Das die Leibeigenschaft gerade in kleinen Herrschaften, wie etwa der Grafschaft Wied oder der Grafschaft Sayn, die keine große territoriale Ausdehnung hatten, dafür aber praktischer Weise am Rhein lagen und damit de facto große Zolleinnahmen abgreifen konnten, eine eher untergeordnete Rolle für die Finanzierung der Landesherren spielte, dürfte wenig überraschend sein.

Zumal das Gebiet eine Mittelgebirgslandschaft ist, die konventionelle Landwirtschaft* ohnehin nicht im besonderen Maße begünstigte, gleichzeitig aber mit dem zum Teil Bergbau andere wirtschaftliche Perspektiven bot und die sich für den Ausbau von verarbeitendem Gewerbe eignete, weil über den Rhein weite Absatzgebiete erschließbar waren.

*Als Sonderform begünstigt die Gegend natürlich den Weinbau, wobei man gleich bei der Frage wäre, wie genau die Berechnung zustande gekommen ist, hinsichtlich des Anteils der Leibeigenschaft an dessen Produktion und Export.


Das sind allerdings völlig andere Vorraussetzungen, als in den großen Territorialherrschaften im Osten des Reiches, wie Brandenburg, Mecklenburg oder Pommern, die maßgeblich von der Großlandwirtschaft geprägt waren und wo die Landesfürsten auch über beträchtliche Domänen verfügten, auf denen sie grundherrliche Funktionen ausübten und direkt durch die Lasten der Leibeigenschaft profitierten, nicht lediglich indirekt über die Abgaben, die die Grundherren an den Landesherren abzutreten hatten.

Leibeigenschaft ist einfach eine Reminiszenz aus der Zeit, in der die Personenbindungen überwogen und das Territorialstaatsprinzip noch nicht galt.
Das ist sicherlich richtig, allerdings ist dein Schluss daraus falsch.

Die Leibeigenschaft ist eine Institution aus alter Zeit die auf Personenbeziehungen und nicht auf dem Territorialstaatsprinzip beruhte. Und genau deswegen stand sie der Ausbildung voller Territorialherrschaften ja im Wege, weil es innerhalb derer durch die Leibeigenschaft noch Herrschaftsverhältnisse gab, die der Landesherr de facto nicht kontrollierte, nur weil er den äußeren Landesausbau und die territoriale Arrondierung seines Territorialstaats vollzogen hatten.
Deswegen hat das durchaus etwas mit Steuern und Einnahmen zu tun. Je mehr Territorium ein Landesfürst hinzu gewann, in dem die Leibeigenschaft existierte und die Abgaben und Arbeitsleistungen der Leibeigenen an die Zwischengealten und nicht an den Landesherren ging und je kleiner die Staatsdomänen waren, auf denen der Landesherr selbst Grundherr war, desto geringer waren seine Einnahmen aus der Besteuerung der Bevölkerung und um so mehr war er als Einnahmequelle auf Zölle, Eigenwirtschaft, Ämterverkauf etc. angewiesen.

Die Auflösung der Strukturen der Leibeigenschaft ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert lief also vor allem auch darauf hinaus den Zugriff der Grundherren auf die Leistungen der Leibeigenen zu beenden und sie durch die Lösung vom Grundherren näher dem Staat als direkte Untertanen zu unterstellen um somit Steuern und Abgaben nicht mehr in die Schatullen der Grundherren, sondern in die Staatskasse fließen zu lassen.

Das wollten die umliegenden Territorialherren natürlich nicht und deshalb wollten sie, dass die Leibeigenschaft abgeschafft wird. Um Profit ging es da nicht, sondern um rechtliche Zugehörigkeit.
Du übersiehst dass auch das im Zusammenhang mit dem Ausbau von Territorialherrschaften und Ausschaltung von Zwischengewalten steht.

Die Usurpierung von Rechten, die die Herrschaftsgrundlagen kleiner Fürsten systematisch unterhöhlten, waren ein Mittel diese in Abhängigkeit größerer Fürsten zu bringen und lief in letzter Konsequenz auf deren Unterwerfung, Mediatisierung und Herabdrückung von regierenden Fürsten zu bloßen Titularfürsten und Grundherren hinaus.

Dabei ging es mehr oder weniger um das Gleiche, nur eine Stufe höher, nämlich um den Ausbau zunehmend zentralisierter Territorialherrschaften.

Der erste Schritt war das Schlucken bislang unabhängiger Herrschaften durch größere Fürsten und die Mediatisierung der vormaligen kleineren Fürsten, der zweite Schritt war die Brechung der wirtschaftlichen Macht der Grundherren, zu denen die Mediatisierten dann mehr oder weniger mit dazu gehörten zu Gunsten des Füstlichen Herrschaftsausbaus.

Kirchenherr, Grundherr, Niedergericht, Hochgericht, Leibherr, Landesherr alles verschiedene Stiefel.
Was den Landesherren zunehmend nicht in den Kram passte, weil es ihren Zugriff auf die von ihnen regierten Territorien beschnitt und zummindest für die größeren Landesherren Motivation war, diese Strukturen aufzubrechen.
 
Trotzdem bleibt halt die Frage, inwieweit man solche Arbeitsdienste bei Leibeigenen berücksichtigt hat. Diese Angabe mit den "1,5% oder 2% " wirkt ja so, als sei die Leibeigenschaft kaum eine Belastung für die Betroffenen gewesen, von der persönlichen Unfreiheit mal abgesehen.
Nein, das übersieht einfach, dass die von Leibeigenen erbrachten Leistungen in erster Linie nicht dem Landesherren sondern dem Grundherren zu gute kamen.

Richard J. Evans erwähnt in seinem Buch "Das Europäische Jahrhundert, ein Kontinent im Umbruch 1815-1914" eine Untersuchung, die an Hand eines (ich meine niederösterreichsichen) Bauern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufzeigt, dass die Belastungen durch Abgaben, Naturalleistungen und Hand- und Spanndienste, die die bäuerliche Bevölkerung zu erbringen hatte, durchaus mit modernen Steuern und Abgabenlasten vergleichbar war.

Nur schuldeten sie diese eben nicht ihrem Fürsten und Landesherren, sondern ihrem Grundherren, die davon einen lächerlich geringen Teil an den Landesherren weitergaben.
Das heißt ein Bauer oder Leibeigener konnte durchaus, die Hälfte seines Einkommens (wenn man den Wert der Hand- und Spanndienste und die Naturalabgaben mal monetär berechnet) an Abgaben an seinen Herrn berappen, während davon allerdings nur lächerlich geringe Teile direkt in die Staatskasse flossen.

Das die landesherrliche Staatskasse daran anteilig relativ wenig abgreift, lag zum einen an den noch vorhandenen Steuerprivilegien/-Bevorzugungen der adligen Grundherren zum anderen liegt es aber auch an der Art und Weise wie sich Steuer und Abgabensysteme entwickelten.

Der Fürstenstaat der frühen Neuzeit, war weitgehend noch ein Domänenstaat, der sich weitgehend über den Verkauf der auf Staatsdomänen produzierten Güter, Zölle und Ämter- und Titelverkauf finanzierte, in relativ geringem Maße über direkte Besteuerung und Abgaben.

Wolfgang Reinhard bezeichnet in seinem kleinen Überblickswerk "Geschichte des modernen Staates" den Schritt vom "Domänen-" zum "Steuerstaat", der sich irgendwann zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert vollzieht, mehr oder weniger als wichtige Wegmarke in der Herausbildung moderner Staatlichkeit, weil das die Finanzierung des Staates auf eine völlig andere Grundlage stellte.

Allerdings, lief die Umstellung auf Besteuerung als finanzielle Grundlage in sehr großem Maße nicht über den Weg direkter Steuern, sondern über den Weg indirekter Konsumsteuern.

Das es etwa im Zusammenhang mit der französischen Revolution zu extremem Unmut über die Praxis der Besteuerung kam, lag vor allem daran, dass das System der Abgaben so zugeschnitten war, dass es vor allem auf Konsumsteuern, wie etwa der verhassten "Gabelle", der Salzsteuer beruhte die vor allem die einfache Bevölkerung trafen, während große Vermögen und Einkommen des Großbürgertums, des Adels und der Kriche nicht oder kaum durch direkte Steuern betroffen waren, wohingegen Adel und Kirche entgegen populärer Vorstellungen durchaus nicht vollständig steuerfrei waren, weil sie die Konsumsteuern auf verschiedene Waren genau so bezahlen mussten, wie der Rest der Bevölkerung.
Nur war eben deren Anteil am Gesamtkonsum des Landes und somit auch ihr Steueraufkommen relativ gering.

Das gewohnheitsmäßig das Steuersystem zu immer größeren Teilen auf direkte Steuern hin umgebaut und damit deutlich progressiver wird (ich weiß nicht, ob es sowas früher in den Stadtrepubliken schonmal gab), ist im Wesentlichen eine Entwicklung die erst mit der Ausdehnung staatlicher Funktionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herum kommt. und zum Teil auch erst nach dem Ersten Weltkrieg kommt:



"Völlig neu hinzu kam die Umsatzsteuer, die bisher im Steuersystem unbekannt war. Von besonderer Bedeutung war jedoch die Einkommensteuer. Ihr war hauptsächlich die Funktion zugedacht, den enorm gestiegenen Finanzbedarf des Reiches zu decken.[6] Während im Kaiserreich die von den Ländern und Gemeinden erhobene Einkommensteuer maximal 4 % umfasste, stieg sie nun auf einen maximalen Spitzensatz von 60 %.[6] Zur Erhebung wurde die Lohnsteuerkarte und der direkte Lohnsteuerabzug eingeführt. Eine der umstrittensten Abgaben war das Reichsnotopfer.[7] "

Deswegen ist auch die populäre mit der Vormoderne verbundene Vorstellung staatlicher Steuereintreiber, die bei der Einfachen Bevölkerung an die Tür klopfen um sie um die Hälfte ihres Einkommens zu erleichtern und zu bedrücken falsch.
Nicht dass das da niemand an die Türe geklopft hätte um hohe Abgaben einzufordern, aber das war halt nicht der Staat oder der Landesfürst, sondern der Grundherr.
Der Landesherr sah im Zweifel relativ wenig von diesen Einnahmen.
Übrigens wahrscheinlich mit ein Grund dafür, warum die einfache Bevölkerung lange durchaus bereit war, an den guten Fürsten, König, whatever zu glauben, denn der belastete sie in wirtschaftlicher Hinsicht im Gegensatz zum Grundherren relativ wenig.


Das also Abgaben aus dem System der Leibeigenschaft, relativ wenig direkt* zu den landesherrlichen Einnahmen beitrugen ist für Teile der FNZ durchaus plausibel und steht nicht im Widerspruch zu den drückenden wirtschaftlichen Verhältnissen der Leibeigenschaft.

*indirekt dürfte der Anteil höher gewesen sein, weil auf Teile der von Leibeigenen hergestellten Produkte später noch Konsumsteuern und Zölle fällig wurden, die einen Großteil der Steuerlast/Abgabenlast ausmachten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Aus den Romanen Dostojewskis und Tolstois, die ich gelesen habe, geht, jedenfalls soweit ich mich erinnere, nicht hervor, dass die beiden die Leibeigeschaft (die zur Entstehungszeit der Bücher schon abgeschafft war) für eine schlimme Sache gehalten hätten.
In den bösen Geistern (Dämonen) entsteht dem alten Werchowenski einiges Ungemach wegen seiner Schacherei (Verkauf von Land und Leibeigenen), was dann u.a. zur Nebenfigur Fedjka und dessen "Karriere" führt - da kommt die Leibeigenschaft nicht gut weg.
 
Aus den Romanen Dostojewskis und Tolstois
Naja, Tolstoj kam auch aus dem russischen Adel, der von der Leibeigenschaft ja erheblich profitiert hatte.

Ich würde aber meinen, sein literarisches Werk, was das Thema Leibeigenschaft angeht nicht völlig frei von Kritik ist, sondern dass sie zwischen den Zeilen durchaus durchklingt.

Ich würde da jetzt jetzt konkret an "Krieg und Frieden" denken, konkret, an die Passagen, in denen Pierre, als neuer Fürst Besuchow und Erbe des sagenhaften Vermögens des alten Besuchow in einem Anfall von halbreligiösem Modernisierungsergeiz seine Güter bereist, den Verwaltern die Umsetzung aller möglichen philantropischen Ideen und Projekte aufträgt, mit dem Ergebnis, dass die Verwalter einen Teufel tun, das umzusetzen und ihm bei seinem nächsten Besuch Potemkinsche Dörfer zeigen, für deren Aufbau, den Leibeigenen Bauern noch zusätzliche Leistungen abverlangt wurden.
Wenn ich mich richtig erinnere ging es da unter anderem um ein Schulgebäude, dass die Leibeigenen eines Gutes errichten mussten, ohne dass es de facto jemals als Schule verwendet wurde und im Sinne Pierres den Bauern zu gute gekommen wäre.

Ich würde das schon als Kritik am System der Leibeigenschaft auffassen nur eben mit der Stoßrichtung dahin, dass sie sich weniger gegen die Fürsten und Grundherren, als mehr gegen die angeblich korrupten und böswilligen Verwalter vor Ort richtet, die sicherlich in der Realität oft genug auch tatsächlich korrupt waren.
Das er mit der Person von Pierre die Klasse der Grundbesitzer vielleicht etwas zu sehr reinwäscht und sie als aufgeklärter darstellt, als sie in weiten Teilen sicherlich waren, würde ich nicht als grundsätzliche Absage an Kritik gegenüber der Leibeigenschaft betrachten.
 
Pierre ist ja nicht als Prototyp des Grundbesitzers gezeichnet, eher im Gegenteil.
Da werden Institution nicht verurteilt und nicht gutgeheißen; nur dargestellt, zu welchen Wirklichkeiten sie führen. Bewerten mag dann der Leser.
 
Pierre ist ja nicht als Prototyp des Grundbesitzers gezeichnet, eher im Gegenteil.
Da werden Institution nicht verurteilt und nicht gutgeheißen; nur dargestellt, zu welchen Wirklichkeiten sie führen. Bewerten mag dann der Leser.
Das lese ich ein wenig anders.

"Krieg und Frieden", ist 1868/1869 herausgekommen, also im Kontext der liberalen Reformära unter Alexander II.

Pierre ist vielleicht der Prototyp des Grundbesitzers der Napoléonischen Zeit, aber man kann ihn als Archetypen der liberalen Oberschichten um die Mitte des 19. Jahrhunderts und als Vorreiter einer von diesen längst als überfällig empfundenen Reformära und ein Stück weit als Sympathieerklärung daran lesen.

Figuren, denen liberale Reformen wichtig sind oder Szenen in denen die bedeutung liberaler Reformen angesprochen werden, tauchen in Tolstojs Werk ja immer wieder auf, z.B. auch in "Anna Karenina" wo sich Ljewin Kritik einfängt, weil er sich als Gutsbesitzer wenig für die Arbeit in der Zemstvo interessiert.
Jedenfalls wird liberaler Kritik bei Tolstoj einiges an Raum eingeräumt.

Das vieles im Bereich von Andeutungen bleibt, dürfte damit zu tun haben, dass es in Russland bis 1917 keine vollständige Abschaffung der Zensur gab.
Das Kritik unter Bedingungen der Zensur an bestimmten Dingen mehr auf Basis von Andeutungen zwischen den Zeilen betrieben wird, als durch klare Ausformulierung betrieben wird, ist ja etwas, dass man etwa aus der Geschichte des deutschen Vormärz durchaus kennt.
 
Zuletzt bearbeitet:
Pierre ist vielleicht der Prototyp des Grundbesitzers der Napoléonischen Zeit, aber man kann ihn als Archetypen der liberalen Oberschichten um die Mitte des 19. Jahrhunderts und als Vorreiter einer von diesen längst als überfällig empfundenen Reformära und ein Stück weit als Sympathieerklärung daran lesen.
Wenn in der ersten Zeile "ist vielleicht nicht der" gemeint ist, bin ich damit schon einverstanden.
 
Die Leibeigenschaft ist eine Institution aus alter Zeit die auf Personenbeziehungen und nicht auf dem Territorialstaatsprinzip beruhte. Und genau deswegen stand sie der Ausbildung voller Territorialherrschaften ja im Wege, weil es innerhalb derer durch die Leibeigenschaft noch Herrschaftsverhältnisse gab, die der Landesherr de facto nicht kontrollierte, nur weil er den äußeren Landesausbau und die territoriale Arrondierung seines Territorialstaats vollzogen hatten.

Das würde ich so nicht sehen, da es ja auch Territorialherren gab, die die Leibeigenschaft benutzten, um in andere Territorien hineinzuregieren, z.B. die Pfalzgrafen. Das sind Pauschalvorstellungen die der Vormoderne so nicht gerecht werden. Die Leibeigenschaft war nicht nur ein Problem der Zwischengewalten, sondern ein interterritoriales. Denn nicht überall gab es geschlossene Territorialstaaten Marke Brandenburg-Preußen. Das Problem der Steuerlasten würde ich auch nicht a priori an den Grundherren festmachen. Dazu waren die Verhältnisse zu verschieden.
 
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