Was Markus betrifft, kann man die Frage sogleich beantworten: Eine schriftliche Darstellung der Reden und Taten des Herrn, verfasst von einem Markus, wird man wohl als "Markus-Evangelium" bezeichnen müssen. Ein solches muss also nicht nur Papias, sondern auch sein Gewährsmann, der Presbyter (eventuell Johannes) gekannt haben.
Ein ´Muss´ erscheint mir hier etwas zu forsch. Eine Identität des von Papias bzw. dem Presbyter angesprochenen Werks mit dem uns bekannten Mk kann auch im optimistischsten Fall nur als ´wahrscheinlich, aber nicht sicher´ gelten. Körtner, der pro Mk-Identität argumentiert, nimmt dafür Eusebius´ Erwähnung des Mk-Evangeliums in HE 3.39.14 zu Hilfe (Körtner S. 155), das er - wegen dieser unmittelbar vorausgehenden Erwähnung - mit den ´logia´ in ´τῶν κυριακῶν ποιούμενος λογίων´ (3.39.15) identifiziert. Diese Argumentation ist mir bei anderen Autoren aber nirgendwo begegnet, weshalb diese Verknüpfung wohl nicht so selbstverständlich ist, wie Körtner es suggeriert. Dass Eusebius in 3.39.14 von dem´Evangelium´ des Markus spricht, belegt nämlich noch nicht, dass auch der zitierte Papias bzw. Presbyter in 3.39.15 ein solches im Sinn hat. Es könnte sich, wie schon im Fall des Pres.Joh., um eine Interpretation von Eusebius handeln.
Nun zum Knackpunkt der Fragestellung, nämlich der im Fragment bemängelten ´(Un-)Ordnung´ der Markus-Niederschrift.
HE 3.39.15:
Auch dies sagte der Presbyter: Markus, der Dolmetscher des Petrus, hat alles, dessen er sich erinnerte, genau aufgeschrieben, freilich nicht der (richtigen) Reihe nach - das, was vom Herrn sei es gesagt, sei es getan worden war; er hatte nämlich weder den Herrn gehört noch war er ihm nachgefolgt. Später aber, wie gesagt, (folgte er) dem Petrus, der seine Lehrvorträge den Bedürfnissen entsprechend gestaltete, jedoch nicht, um eine zusammenhängende Darstellung der Herrenworte zu geben, so dass Markus nicht falsch handelte, als er einiges so aufschrieb, wie er sich erinnerte. Denn für eines trug er Sorge, nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder darunter etwas Unwahres zu berichten.
Zu bedenken ist zunächst einmal die - in der Forschung aber weitgehend ignorierte - Möglichkeit, dass in 3.39.15 ab "Später aber, wie gesagt, (folgte er) dem Petrus" der Text kein wörtliches Presbyter-Zitat des Papias mehr ist, sondern eine von Papias dem Zitat nachgestellte Erläuterung. Ein Indiz dafür ist das "wie gesagt" (ὡς ἔφην), das jene Möglichkeit nahelegt, wenn auch keinesfalls zwingend.
Thematisch ist vor allem ist die bemängelte Unordnung im Text des Markus. Papias oder der Presbyter - je nach Zuschreibung - entschuldigt diese damit, dass Markus, "wie er sich erinnerte", der Vortragsweise des Petrus gefolgt sei, der sich wiederum nach den Rezeptionsbedürfnissen der Hörer gerichtet habe. Die gängigen Übersetzungen, wie z.B. obenzitierte, geben die Bedeutung von
πρὸς τὰς χρείας ἐποιεῖτο τὰς διδασκαλίας
(worauf sich "der seine Lehrvorträge den Bedürfnissen entsprechend gestaltete" bezieht)
möglicherweise verfälschend wieder. Das erwähnte
χρείας kann in zwei Weisen übersetzt werden: (1) „den Bedürfnissen entsprechend“, so wie es gängigerweise geschieht, oder (2) „in Form von Anekdoten“, d.h. antiken rhetorischen Formen (´Anekdoten´) mit dem Zweck, Worte und Taten einer Person möglichst effektiv in das Gedächtnis der Hörer oder Leser einzuprägen.
Etymologisch leitet sich ´chreia´ von χρή (= Notwendigkeit, Bedürfnis) ab, hat in der Antike aber auch die Sonderbedeutung einer bestimmten rhetorischen Figur angenommen, die zu den sog. Progymnasmata gehört.
Was die ´Unordnung´ betrifft, stellt sich eine Frage, die jeder zu beantworten hat, der das Mk mit dem in 3.39.15 angesprochenen Text des Markus identifiziert, nämlich:
Woran bemisst Papias bzw. der Presbyter die Unordnung? Sekundäre Frage: Was ist damit überhaupt gemeint? Chronologische oder thematische Unordnung, oder gibt es Lücken? Wir wissen es nicht.
Es muss für diese Einschätzung jedenfalls entweder ein Vergleichstext vorliegen (z.B. Mt, Joh oder Lk), oder sie ist rein subjektiv ohne Verwendung externer Kriterien.
Letztere Möglichkeit wird in der Fachwelt kaum ernsthaft diskutiert, umso mehr aber die Möglichkeit, dass Papias bzw. der Presbyter Zugriff auf (mindestens) eines der kanonischen Evangelien hatten. Lk ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuscheiden, da es von Eusebius im Papias-Kontext nicht genannt wird und auch in anderen Papias-Fragmenten Papias-bezogen nicht erscheint. Manche Exegeten plädieren zwar für Lk, was aber eine schwache Hypothese ist. In Sachen Joh ist die Lage kaum besser. Die angeblich auf eine Joh-Kenntnis des Papias hinweisenden Fragmente, in diesem Thread schon partiell thematisiert, sind keine Indizien, die rundum überzeugen können. Was das Mt betrifft, ist ebenfalls unsicher, ob Papias es kannte - worauf ich nachher noch eingehe.
Nun hängt die Identität des Mk mit dem in 3.39.15 thematisierten Text stark von der Antwort auf obengestellte Frage ab,
woran dessen Unordnung von Papias/Presbyter bemessen wird. Ohne Benennung eines Vergleichstextes sinkt die Wahrscheinlichkeit der Identität nämlich in den Keller. Warum? Weil das uns bekannte Mk unter keiner evidenten Unordnung seines Materials leidet. Aber selbst wenn Papias/Presb. ein anderes Evangelium gekannt haben sollten, kann es kaum als Vergleichstext herhalten, der den Unordnungsvorwurf stützt, da Mt und Lk im Prinzip die gleiche Struktur wie Mk aufweisen und das Joh vom Mk strukturell so stark abweicht, dass man hier Äpfel mit Birnen vergleichen würde.
Fazit: Nichts Genaues weiß man nicht. Davon, dass man - laut Sepiola - die angesprochene Niederschrift des Markus als Markus-Evangelium "wird bezeichnen müssen", kann keine Rede sein, zumal er vorsichtigerweise ein "wohl" hinzufügt, welches das "müssen" aufweicht.
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Nun zur Frage, ob Papias das Mt kannte.
Hier ist zunächst zu klären, was unter den ´logia´ in HE 3.39.16 zu verstehen ist oder höchstwahrscheinlich verstanden werden sollte.
Ist mit "Logien" nur eine Spruchsammlung gemeint? Da Papias' eigenes Werk den Titel "Darlegung der Logien des Herrn" trägt, es dort aber keineswegs nur um die Sprüche des Herrn geht, wird eine allzuenge Auslegung des Begriffs "Logien" nicht angebracht sein.
In HE 3.39.16 heißt es:
(…) Ματθαῖος μὲν οὖν Ἑβραΐδι διαλέκτῳ τὰ λόγια συνετάξατο (…)
(= Matthäus hat die Logien also in hebräischer Sprache zusammengestellt)
Zu unterscheiden ist zwischen Worten/Reden (griech. Plural ´logoi´, Sing. ´logos´) und Orakeln (griech. Plural ´logia´, Sing. ´logion´). Sowohl im Buchtitel des Papias als auch in 3.39.16 geht es um Orakel, und das heißt im antiken Kontext: um Sprüche einer divinen Person. Ein ´logion´ ist also ein Götterspruch, wovon im biblischen Kontext z.B. bei den von Moses empfangenen Geboten und in Römer 2 sowie im Hebräerbrief 5,12 die Rede ist. ´Logia´ können von daher keine narrativen Elemente beinhalten. Diesen Begriff also so zu deuten, dass er mehr als eine Spruchsammlung umfasst, ist rein spekulativ und philologisch nur umständlich zu rechtfertigen.
Was dein Argument betrifft, es gehe im Buch des Papias nicht nur um "Sprüche des Herrn" (womit du belegen möchtest, dass ´logia´ bei Papias nicht ausschließlich Sprüche bedeuten), so ist dazu zu sagen, dass die narrativen Elemente bei Papias den Zweck haben könnten, das Verständnis der Herrensprüche zu fördern. Zur ´Auslegung/Darlegung/Erklärung´ der Herrensprüche können nämlich auch die Taten und Erlebnisse des ´Herrn´ dienen, deren Schilderung durch Papias also keineswegs zwingend bedeuten, dass er mit ´logia´ mehr meint als nur (divine) Sprüche.
So viel für heute. Den Mt-Teil werde ich natürlich noch ergänzen.