Eine provokante These zur Frage nach einer Rekonstruktion der absoluten Chronologie

Muspilli

Aktives Mitglied
Vor einem Jahr bekam ich anonym eine negative Bewertung mit der Begründung:

Nö, so nicht. Wir halten uns an die Chronologie, die nach Ausweis der Quellen die wahrscheinlichste ist und distanzieren uns von pseudowissenschaftlichen Versuchen, diese umzuschreiben.
Ich will mich nicht darüber beklagen, aber seither beschäftigt mich doch die Frage, woher mein anonymer Kritiker die Sicherheit für seine Bahauptung genommen hat, daß die hegemoniale Chronologie tatsächlich die wahrscheinlichere ist, da ich bei Recherchen im letzten Jahr leider wieder gewisse Zweifel befielen. Leider zu spät schaute ich mir daher den Link von Hyokkose (http://www.geschichtsforum.de/359100-post23.html) zur Dendrochronologie an: Dendrologie.de
Wenn es stimmt, daß die Dendrochronologie gewissermaßen die hegemoniale Chronologie stützt, dann müßte sich das ja an einzelnen Beispielen gut nachvollziehen lassen. Kennt jemand hier ein konkretes Beispiel, wo ein Forscher ein Dendrodatum überzeugend mit einer historischen Begebenheit in Verbindung bringen konnte, dieses wiederum überzeugend mit einem historisch bezeugten Datum? Um ein wenig die Diskussion anzuregen, möchte ich eine These aufstellen:

Ich bezweifel, daß einem ganz normalen Fachhistoriker die Komplexität der absoluten Chronologien bewußt ist.

Ich lasse mich gerne eines besseren Belehren!
Da ich jüngst einen Historiker kennengelernt habe, werde ich ihn mal auf die Probe stellen und mir ein Datum seiner Forschungsschwerpunkte raussuchen und ihn danach fragen.
 
Die Kalendersysteme der verschiedenen Kulturen in ihren jeweiligen Zeitaltern können nur relativ sein. Wenn man diese aber kennt, nebeneinanderlegt und Anfangs- und Endpunkt bestimmt, sollte es theoretisch möglich sein, diese relativen Systeme an einem absoluten System zu eichen. (Wahrscheinlich hat man das bereits getan und ich weiß nur nicht, wo es steht.)
Die Dendrochronologie scheint ein ideales absolutes Eichsystem zu sein, wenn man die Besonderheiten richtig berücksichtigt.
https://www.uni-hohenheim.de/palaeobotanik/dendro/index2.htm

Sie funktioniert scheinbar so ähnlich wie unsere modernen Barcodes. Die Abfolge der Ringbreiten bei den einzelnen Baumarten in einer Region läßt eine eindeutige Bestimmung der Wachstumszeit zu. Auf diese Weise wurden bereits absolute Kalender für Europa teilweise bis in die Nacheiszeit erstellt.
Mit C14 und anderen Isotopenmessungen kann man den Jahresringkalender noch zusätzlich absichern.
Für Europa und andere waldreiche Weltgegenden hat diese Methode den Charme, dass man manchmal auch die spärlichen Überreste der frühen Kulturen einordnen kann, etwa wenn Holzfragmente im Boden oder in Mooren gefunden werden.
Der oberflächlich negative Eindruck von der "Kulturlosigkeit" mancher Regionen ohne "alte Steine" könnte vielleicht dadurch korrigiert werden.

Um zum Thema zu kommen, mich personlich interessiert mehr die Abfolge von Generationen / Entwicklungen und die absolute Zeit, die diese brauchten, daher würden mich z.B. die "berühmten fehlenden 300 Illig-Jahre" einfach von der Abfolge her, doch sehr stören.
Gerade im Kirchenbau werden bei romanischen und gotischen Kirchen oft die Fundamente des Vorgängerbaus erwähnt, meist waren diese im norddeutschen Raum aus Holz. Holz war eben ein beliebtes germanisches Baumaterial.
Und diese Vorgängerbaufragmente werden doch auch gefunden und sicher dendrochronologisch untersucht, genauso wie Grabbeigaben und/oder Särge aus Holz.
Da wären fehlende Jahrhunderte, bes. im frühen Mittelalter doch längst aufgefallen?

Ich habe mir die neue Geo-Epoche über die Germanen gekauft, viele schöne Bilder, als Einstieg ganz nett. Da wird für die Stiftskirche in Enger das frühe 9. Jahrh. als Erstkirchenbau erwähnt, dort soll es Ausgrabungen geben.
Das ist die Zeit der Sachsenmission, die stattgefunden haben muß.
Da sollten doch dendrochronologisch eingeordnete Holzreste gefunden worden sein, mit denen man absolut belegen kann, dass die erste Kirche vor 1200 - 1300 Jahren gebaut wurde!
 
Kennt jemand hier ein konkretes Beispiel, wo ein Forscher ein Dendrodatum überzeugend mit einer historischen Begebenheit in Verbindung bringen konnte, dieses wiederum überzeugend mit einem historisch bezeugten Datum?
Der Teufel steckt in der Formulierung.
Denn es ist ja wohl Geschmackssache, was man für "überzeugend" hält und was man unter "historisch bezeugt" versteht.
Außerdem ist die Frage zu stellen, wie weit man zurückgeht. Je weiter man zurückgeht, desto nebliger werden die "historisch bezeugten Daten". In der Regel handelt es sich um mehr oder weniger schmale Zeitfenster, die über die Dendrochronologie dann weiter eingegrenzt werden.
Die Dendrochronologie geht ja von einem festen Datum aus: Dem Hier und Jetzt und zählt dann zurück
 
Ich bezweifel, daß einem ganz normalen Fachhistoriker die Komplexität der absoluten Chronologien bewußt ist.
Das ist wohl zweifellos richtig. Genausowenig, wie ein durchschnittlicher Mathematiker Dir auf Anhieb etwas über Kategorientheorie, oder ein Informatiker allzu viel über Algorithmische Geometrie erzählen könnte, wissen meines Erachtens normale Historiker (Magister-Abschluß) über Chronologie und Kalender.

Dies ist ja auch kein Wunder, waren doch die genannten Gebiete aufgrund der Komplexität der Problemstellung ursprünglich eine Domäne der Mathematiker. Ohne nun eine mathematische oder naturwissenschaftliche Grundausbildung zu besitzen (außer als Zusatz-Studium), maßen sich nun Geisteswissenschaftler, wie Historiker, an, hier richtige Aussagen zu treffen.

Das kann natürlich so nicht funktionieren.

Die Geschichte hat gezeigt, daß ein Wandel von philosophisch beliebiger arts zu einer science (im englischen Sprachgebrauch) nur funktionieren kann, wenn ein Mindestmaß an Mathematik und Naturwissenschaft die Forschung bestimmt, und in der Ausbildung berücksichtigt wird, wie es z.B. die Psychologie im vorigen Jahrhundert eingeführt hat. Die Historiker verweigern sich jedoch diesem Wandel, und verbleiben in der Narrativität und weitgehend kritiklosen Textanalyse.

Was die Dendrochronologie angeht: Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, füge ich eben mal rein exemplarisch einen Link zur Kritiischen Dendrochronologie an. In der pseudowissenschaftlichen Diskussion, oder korrekterweise Affirmation, der Historiker über naturwissenschaftliche Methoden spielt ja seit den 70er Jahren (Totalablehnung der Dendrochronologie durch die Ägyptologen) Kritik keine Rolle mehr.
Fantomzeit Print Kritische Dendrochronologie
 
Historiker betreiben gar keine Dendrochronologie. Das können sie gar nicht, schon weil sie das erforderliche Holz-Material gar nicht haben.
Das machen Fachinstitute, die die Holzproben haben und sich darauf spezialisiert haben.
Es genügt ja nicht nur die Ringe zu zählen. Das Holz muss auch aus dem gleichen klimatischen Raum stammen. Man kann ja nicht Hölzer aus Thüringen nehmen und damit Lücken in Oberbayern füllen wollen. Die Ringmuster variieren zu sehr. Das gleiche gilt auch für die Holzarten.
Aber das hat sich in den Spezialinstituten bereits herumgesprochen.
 
Was die Dendrochronologie angeht: Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, füge ich eben mal rein exemplarisch einen Link zur Kritiischen Dendrochronologie an. In der pseudowissenschaftlichen Diskussion, oder korrekterweise Affirmation, der Historiker über naturwissenschaftliche Methoden spielt ja seit den 70er Jahren (Totalablehnung der Dendrochronologie durch die Ägyptologen) Kritik keine Rolle mehr.
Fantomzeit Print Kritische Dendrochronologie

Historiker betreiben gar keine Dendrochronologie. Das können sie gar nicht, schon weil sie das erforderliche Holz-Material gar nicht haben.
Das machen Fachinstitute, die die Holzproben haben und sich darauf spezialisiert haben.
Es genügt ja nicht nur die Ringe zu zählen. Das Holz muss auch aus dem gleichen klimatischen Raum stammen. Man kann ja nicht Hölzer aus Thüringen nehmen und damit Lücken in Oberbayern füllen wollen. Die Ringmuster variieren zu sehr. Das gleiche gilt auch für die Holzarten.
Aber das hat sich in den Spezialinstituten bereits herumgesprochen.

;) Aber wenn doch die Spezialinstitute den armen Dendrochronologie-Kritikern nichts von ihrem Holz abgeben.........:cry:
Sorry, ich würde mich wirklich ärgern, wenn dieses Thema nun auch mit dem Chronologiegegnervokabular zugeschüttet würde.
Der Sinn des anfangs zitierten Satzes von @palenque entzieht sich mir vollständig, kann mir den jemand übersetzen? :winke:
 
Historiker betreiben gar keine Dendrochronologie.
Das habe weder ich noch der Threadersteler behauptet. Gerade darin liegt ja das Problem, daß sich normale Historiker mit mathematischen und naturwissenschaftlichen Methoden zu wenig auskennen, um hier mitreden, geschweige denn mitgestalten zu können.
 
Was bitte schön ist denn ein normaler Historiker? Liegt das nur am Abschluß? Ein Mag.-Historiker der sich für Dendrochronologie nicht interessiert ist normal, ein Dr. oder Prof. der das auch nicht tut ist was? Auch normal?
Wie ist das denn mit Chronologiekritikern, die von Geschichte keine Ahnung haben und mal eben 300 Jahre streichen wollen?
Was muß man denn als richtiger Historiker drauf haben?
Dendrochronologie ist also schon mal wichtig. Um stellare Konstellationen einzuordnen dann wahrscheinlich auch Astronomie und wir hörten es bereits, Mathematik für die Abgleichung von Kalendern. Damit wir das weltumspannend tun können, sind natürlich Sprachen wichtig. Für die Lektüre sekundärer Quellen neben Deutsch, Englisch, Französisch, Japanisch, Chinesisch, Spanisch, Arabisch und Russisch. Für primäre Quellen Lateinisch, Griechisch, Alt- und Mittelägyptisch, Hebräisch, Aramäisch, Hethitisch (also Nasili z.B.) Urartäisch, Churritisch, Altpersisch, Akkadisch, Babylonisch, Sanskrit, Aztekisch,......Ein Archäologiestudium wäre auch wichtig, zum Bestimmen von Bodenfunden. Allerdings gibt es natürlich viele Prozesse, die eine Einlagerung von Fundstücken im Boden beeinträchtigen. Ich schlage also vor, man sollte doch schon ein Geologiestudium oder wenigstens Geographiestudium vollendet haben. Da Pollen- und genetische Analysen unbedingt wichtig sind, ist ein Biologiestudium natürlich unbedingt wichtig, zum Verständnis der chemisch-physikalischen Vorgänge ist aber auch ein Chemie- oder Physikstudium nicht unwichtig. Hab' ich was vergessen?
Vielleicht sollten wir mal in den Kultusministerien einen Antrag auf Umstellung des Lehrplans stellen und vielleicht auch eine Verlängerung der Regelstudienzeit anmahnen, so 524 Semester vorschlagsweise.
Illig & Co. sind vermutlich derart beschlagen, was können die gleich aufweisen?
 
Was bitte schön ist denn ein normaler Historiker? Liegt das nur am Abschluß? Ein Mag.-Historiker der sich für Dendrochronologie nicht interessiert ist normal, ein Dr. oder Prof. der das auch nicht tut ist was? Auch normal?
Wenn das nicht einmal mit dem Textverständnis auf Deutsch klappt, dann macht es überhaupt keinen Sinn, irgendwelche (der vielen von Dir erwähnten) Fremdsprachen lernen zu wollen...
</p>
 
Wenn das nicht einmal mit dem Textverständnis auf Deutsch klappt, dann macht es überhaupt keinen Sinn, irgendwelche (der vielen von Dir erwähnten) Fremdsprachen lernen zu wollen...

Nein, ich denke, beorna hat das hier gut erfasst. Du wirfst den Historikern vor, dass sie sich Naturwissenschaftlich nicht gut genug auskennen, um eine Chronologie mit all ihren Aspekten beurteilen zu können, bzw. ggf. zu hinterfragen.
Jetzt werfe ich den Chronologiekritikern einmal im Gegenzug vor, dass sie sich nicht gut genug mit der bisher ziemlich verlässlich dokumentierten Geschichte auskennen (z.b. was die Schriften und Funde angeht), um sich ÜBERHAUPT eine Kritik anzumaßen.
Ein Germanist muss sich mit Mediävistik befassen, allerdings nur einem kleinen Teil, nämlich dem, der für die Sprachwissenschaft relevant ist. Was bedeutet, er hat zwar eine gewisse Grundkenntnis, aber mitnichten eine Kenntnis wie ein Historiker, wenn es um Quellen geht - beim Geschichtsstudium wird nämlich Quellenarbeit und die Suche nach Quellen u.A. als Schwerpunkt geführt. Als Germanist liest du zwar auch teilweise alte Schriften, jedoch weniger, um daraus historische Schlüsse zu ziehen, als vielmehr sprachwissenschaftliche.

Wenn du also den Historikern vorwirfst, sie würden stur auf ihrer Forschung beharren, statt die Naturwissenschaften miteinzubeziehen, möchte ich dich fragen, warum du nict den Chronologiekritikern vorwirfst, dass sie nicht einmal die Quellenarbeit richtig machen (wie z.B. das bereits in einem anderen Thread von mir genannte Kriterium des QUERLESENS einer Quelle, bei dem alle Informationen, die NICHT zur eigenen These passen einfach gar nicht erst registriert werden).
MODERNE Geschichtswissenschaft legt übrigens Wert auf Fremdsprachenkenntnisse und die Zusammenarbeit mit Fachleuten anderer Gebiete. Das fällt mir bei den Chronologiekritikern nicht auf, zumal du als einzige Quelle immer wieder eine Seite breittrittst, die zwar immer gut bestückt ist mit Artikeln, jedoch keine Quelle darstellt, sondern ein Sammelsurium an Aufsätzen von Leuten, die nur rudimentäre Kenntnisse haben und dann ihre Theorien eine breiten Publikum mitteilen.


Würdest du mir einen einzigen Chronologiekritiker nennen, der alle die von dir geforderten Kenntnisse besitzt und mithilfe dieser argumentiert, dann würde ich mich eventuell erweichen, mir seine These durch den Kopf gehen zu lassen. Fakt ist jedoch, dass die meisten Chronologiekritiker Fachfremde sind, die schlicht Geld verdienen wollen oder Langeweile haben. Denn ein Herr Illig, ein Herr Fomenko und wie sie alle heißen: auch Sie haben kein 300 Jahre dauerndes Studium hinter sich, haben nicht alle Sprachen gelernt, die notwendig sind, um sich solche Theorien anhand von Quellen zu beweisen und sie haben mit Sicherheit nicht die notwendigen Fachkenntnisse in den Naturwissenschaften, um ihre Thesen zu untermauern, sonst wäre vielleicht dem Einen oder Anderen aufgefallen, dass das Argument "an dieser oder jener Stelle gibt es keine Funde, also war da auch nichts" auf sehr schwachen Füßen steht.

Ich sage es noch mal: und wenn ich tausende Seiten lang immer wieder beteuere, die Erde ist eckig, habe ich damit noch lange nicht Recht. Durch Wiederholungen wird der Wahrheitsgehalt nicht größer.

Wenn also jemand behauptet, 300 Jahre wären erfunden, weil es keine Funde aus dieser Zeit an diesem oder jenen Ort gibt, dann empfehle ich im Normalfall einen Besuch im regionalen historischen Museum oder zeige der Person gleich einen Vogel. Je nach dem.
 
Wenn also jemand behauptet, 300 Jahre wären erfunden, weil es keine Funde aus dieser Zeit an diesem oder jenen Ort gibt, dann empfehle ich im Normalfall einen Besuch im regionalen historischen Museum oder zeige der Person gleich einen Vogel. Je nach dem.

Ich hatte von Dir nichts anderes erwartet (warum hat das nur so lange gedauert ? ;-) Ich würde Dir aber höflicherweise keinen Vogel zeigen, obwohll Du das im Eingangsbeitrag angesprochene Problem offensichtlich nicht erfaßt hast, und einen Off-Topic-Beitrag abgeliefert hast.
 
Kennt jemand hier ein konkretes Beispiel, wo ein Forscher ein Dendrodatum überzeugend mit einer historischen Begebenheit in Verbindung bringen konnte, dieses wiederum überzeugend mit einem historisch bezeugten Datum?

Ich weiß ja nicht, ob du das meinst (da ich den Satz nicht so richtig verstehe:red:), aber wie wäre es damit:

Wenn ich am Limes Fundmaterial finde, dass ich über die bestehende Chronologie (hegemoniale Chronologie find ich als Begriff absolut daneben:motz:) datiere, dann einen Teil der Limespalisade dendrochronologisch untersuche und zu einem Datum komme, das zu der anderen Datierung wunderbar passt, wäre damit etwas gegeben, was du haben willst?

Ansonsten hab ich mir sagen lassen, dass Holzuntersuchungen in Xanten durchaus auch Ergebnisse bringen, die auch sonst mit den Datierungen in Xanten zusammenpassen.
 
Nein, ich denke, beorna hat das hier gut erfasst. Du wirfst den Historikern vor, dass sie sich Naturwissenschaftlich nicht gut genug auskennen, um eine Chronologie mit all ihren Aspekten beurteilen zu können, bzw. ggf. zu hinterfragen.
Jetzt werfe ich den Chronologiekritikern einmal im Gegenzug vor, dass sie sich nicht gut genug mit der bisher ziemlich verlässlich dokumentierten Geschichte auskennen (z.b. was die Schriften und Funde angeht), um sich ÜBERHAUPT eine Kritik anzumaßen.
Ein Germanist muss sich mit Mediävistik befassen, allerdings nur einem kleinen Teil, nämlich dem, der für die Sprachwissenschaft relevant ist. Was bedeutet, er hat zwar eine gewisse Grundkenntnis, aber mitnichten eine Kenntnis wie ein Historiker, wenn es um Quellen geht - beim Geschichtsstudium wird nämlich Quellenarbeit und die Suche nach Quellen u.A. als Schwerpunkt geführt. Als Germanist liest du zwar auch teilweise alte Schriften, jedoch weniger, um daraus historische Schlüsse zu ziehen, als vielmehr sprachwissenschaftliche.

In der Tat hat BEORNA eine umfassende Zusammenstellung der Disziplinen gemacht, deren Ergebnisse durchaus sinnvoll für historische Studien zu rezipieren wären.
Aber ich hatte den Thread nicht eröffnet, um sich gerade noch in einer allgemeinen Kritik und Gegenkritik aufzuhalten. Mir geht es vor allem um die praktischen Probleme:
Ich habe einen Historiker eines speziellen Fachgebietes vor Augen, der ein gewisses Maß an Interdisziplinarität berücksichtigen muß, aber auch pragmatische Entscheidungen treffen muß, um sich nicht mit allzuviel Details aufzuhalten, da er einen Vortrag auf einem bestimmten Symposium halten muß, und diesen auch so weit schriftlich formuliert haben soll, da eine Publikation der Beiträge in Aussicht steht.
Dieser Beispielhistoriker, wird, wie bereits angedeutet, nicht alle Meinungsverschiedenheiten innerhalb der verschiedenen Disziplinen berücksichtigen können, kann höchstens Tendenzen der Forschung benennen, sofern er die seinem Spezialfach fernstehenden Diskussionen überhaupt kennt. Angenommen, es handelt sich um brandaktuelle Frage, die in seinem Fach gerade neu diskutiert wird.
Hier wird er seinen Standpunkt vertreten, gegebenenfalls - im Gegensatz zu einer älteren Publikation von ihm oder seinem Mentor - etwas stärker berücksichtigen, Revisonen vorschlagen, oder seinen eigenen Standpunkt gegenüber einem Antipoden, der eine ganz andere Zugangsweise zu seinem Thema hat, stark konstratieren...; die Möglichkeiten sind hier unbegrenzt.
Ich muß vielleicht noch irgendart definieren, was ich eigentlich mit Historiker meine; mir ist der Abschluß völlig egal - ehrlich gesagt; ich meine damit Leute, die sich aus beruflichen Gründen, zentral mit historischen Fragen beschäftigen; so lese ich beispielsweise Ariès als Historiker, der das Fach meines Wissens nicht studiert hat oder auch die Psychohistoriker, allen voran Lloyd de Mause, der bekanntlich Psychoanalytiker war, so sehr seine historischen Arbeiten auch in Frage gestellt werden können und dessen Umgang mit Quellen, dem der Chronologiekritiker quasi an die Seite gestellt werden können. Auch sehe ich nicht, warum man Archäologen nicht im weiteren Sinne den Historikern zuordnen kann, auch wenn es fachspezifische Unterschiede gibt. Auf die feinen, interdisplinären Differenzen kommt es mir nicht an.

Ich möchte das Mal versuchen an - meinen kürzlich nachgegangenen Interessen naheliegenden - Beispielen andeuten, welche Probleme ich in der chronologischen Forschung sehe:

1. Beispiel: Der eine oder andere kennt vielleicht oder bestimmt Fragen, die mit den Altsachsen zusammenhängen; der eine hat Springer gelesen, der andere die Einführung von Capelle, ein weiterer ist mehr archäologisch interessiert und liest Böhme; manch einer (wie ich) hält sich mit älteren Autoren wie Schmidt oder gar Genrich auf. Ein letzter bevorzugt Ströbe - den ich - nebenbei bemerkt - auch endlich mal lesen sollte. Wie dem auch sei, von einem Historiker oder auch Archäologen erwarte ich - und ich denke legitimer Weise -, daß er die von den verschiedenen Autoren aufgeworfene Frage und Kontroversen kennt.
Zu einer Spezialfrage gehört in der Sachsenforschung etwa die Frage: Welche Quelle, Tacitus oder Ptolemaios gibt den früheren Blick auf die Germanensitze in Nordwestdeutschland in der frühen Kaiserzeit? Die Spezialisten, die einen Standpunkt wie Von Capelle vertreten und das ist die vor einigen Jahrzehnten etablierte Auffassung, sehen im Anschluß an die Quelle Ptolemaios Sachsen bereits im 2. Jh. n. Ztr. im westlichen Schleswig Holstein ansässig. Forscher, die Springers These hingegen für überzeugend halten, haben das Problem, daß es bis zur Völkerwanderungszeit plötzlich Sachsen gibt, von denen man nicht weiß, woher sie genau kommen.
Daß es hier noch keinen Konsens gibt, macht mich - ehrlich gesagt - ramdösig, treibt mich zur Verzweiflung.
Da hilft leider auch keine Lektüre der archäologischen Forschung weiter, weil die Deutung des archäologischen Materials gewissermaßen von der Geschichtsschreibung abhängt. Aber die Auseinandersetzung mit der archäologischen Forschung warf für mich dann das folgende Problem auf:

2. Beispiel
In einem Thread über Drehscheibenkeramik habe ich eine Frage vormuliert, die mir scheinbar als nicht gelöst erscheint. Es geht dabei zusammengefaßt um einen Fundplatz nahe Hannover, der nach ein jüngeren Publikation über archäologische Fundplätze in die Völkerwanderungszeit fallen soll. Der Zufall hat es gewollt, daß ich diesbezüglich eine ältere Studie zum Nachschlagen vorliegen hatte, in der ein Drehscheibengefäß dieses Fundplatzes abgebildet war und besprochen wurde, das nicht in das Profil paßte, das die besporochene völkerwanderungszeitlichen Keramik repräsentiert, sondern dem Augenschein und eher einem Fundgut entspricht, das ein anderer Autor eher ins 2. Jh. datiert hat. Diese Information konnte ich noch der Autorin entnehmen und ebenso den Hinweis, das eine jüngst in einer Publikation angegebene Datierung des in Frage stehenden Fundplatzes ins 2. Jahrhundert fehlerhaft sei. Die Lektüre dieses Literaturhinweises hat freilich gezeigt, daß dem Autoren, dem dieser angebliche Fehler unterlaufen ist, keine neuere Studie zum Fundplatz vorlag, nicht einmal die Studie die mir wiederum vorlag und maßgeblich für diesen Fundplatz die Datierung datiert, sondern nur der Grabungsbericht. Es sei nur nebenbei bemerkt, daß für einen Laien wie mich, die Literatursuche begrenzt ist, was ich aber an Literatur zum Thema Hannoversche Drehscheibenkeramik einsehen konnte, scheint mir in keinster Weise eindeutig datierbar; von dem von mir in Augenschein genommenen Fundplatz stammt aber wenigstens ein anderes Drehscheibengefäß, das wohl tatsächlich eher in die Völkewanderungszeit zu datieren ist. Meiner Ansicht nach hängt die Angabe der Laufzeit des Bestattungsplatzes bei Hannover jetzt von der Entscheidung ab, ob das andere Drehscheibengefäß nun möglicherweise eher ins zweite Jahrhundert oder eben doch ins vierte. Um das für mich zu entscheiden, weil die Forschung das leider nicht interessiert - zumindest nicht die Autorin, die mich auf dieses Problem überhaupt gebracht hat -, müßte ich jetzt also versuche, die Datailstudie zu dem gewissen Keramiktypen irgendwie in die Hände zu bekommen, mich mit der Datierung von Fibeln beschäftigen, da eine ganz bestimmte Fibel bei einem ganz bestimmten Autor ein ganz bestimmtes Gefäß in eine ganz bestimmte datiert hat.

Ich gebe zu, die Autorin, der ich meine ganz spezielle Frage überhaupt zu verdanken habe, ihre umfangreiche Studie über zahlreiche Fundplätze wahrscheinlich nicht zum Abschluß hätte bringen können, wenn sie bei jedem Fundplatz, der nur in der Peripherie ihres Arbeitsbereiches lag, eine gründliche Fundaufnahme gemacht hätte. Aber für einen Laien wie mich, der selbst kein Forscher ist, ist es ärgerlich, daß es hier eine nicht unbedeutende chronologische Frage gibt, der zur Zeit kein Forscher nachgeht!
 
@Pal, du hast vermutlich nicht gestern Abend die Germanen-Dokumentation auf arte gesehen.

Dort wurde gezeigt, wie die Römersiedlung Waldgirmes dendrochronologisch datiert wurde. Das Holz aus einem Brunnenschacht wurde 4 v. Chr. geschlagen und im Folgejahr (Fehlen von Trockenrissen im Holz, also keine jahrelange Lagerung des Holzes) verbaut.

War eine Überraschung, man hätte nach Historikerquellen über die innergermanischen Zustände eher um 1-5 nach Chr. erwartet. Wir reden also über max. 8 Jahre scheinbare Differenz und nicht 300. Das nach 2000 Jahren.

Wer sich in die Dendrochronologie als Laie einlesen möchte: Ceram: Die ersten Amerikaner.

Dieser Beispielhistoriker...
...kann, wie nun schon dargestellt, nicht alles abdecken. Wissenschaft ist heutzutage Teamwork, die Zeit der Universalgenies ist schon lange Geschichte. Das CERN in Genf betreibt kein einzelner Physiker.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich weiß ja nicht, ob du das meinst (da ich den Satz nicht so richtig verstehe:red:), aber wie wäre es damit:

Wenn ich am Limes Fundmaterial finde, dass ich über die bestehende Chronologie (hegemoniale Chronologie find ich als Begriff absolut daneben:motz:) datiere, dann einen Teil der Limespalisade dendrochronologisch untersuche und zu einem Datum komme, das zu der anderen Datierung wunderbar passt, wäre damit etwas gegeben, was du haben willst?

Ansonsten hab ich mir sagen lassen, dass Holzuntersuchungen in Xanten durchaus auch Ergebnisse bringen, die auch sonst mit den Datierungen in Xanten zusammenpassen.

Ja in etwa meinte ich meine Frage beispielhaft; auch in der populärveröffentlichten Literatur wird gelegentlich auf solche Hinweise verwiesen, freilich nicht unbedingt mit konkreten Literaturhinweisen. Ich halte es für sinnvoll, einmal den ganzen Komplex einer speziellen Datierungen an einem konkreten Beispiel durch zu gehen, d. h. ein nachweisliches Dendrodatum für einen bestimmten Fundplatz, der möglichst in einer historischen Quelle erwähnt wird. Außerdem würde ich mir den optimalen Fall wünschen, daß ein ebenfalls datierte Fibel in einem bestimmten Terrakottagefäß aus dem Fundzusammenhang gefunden wurde, das ebenfalls Vergleichsdatierungen zuläßt. Daß es sich außerdem um einen gut publizierten Fundplatz handelt. Seitdem ich mich wieder etwas mehr mit archäologischer Literatur befaßt habe, bezweifel ich zwar, daß es einen so optimalen Fundplatz, vielleicht auch noch mit Radiokarbondatierung, gibt. Gäbe es einen solchen optimalen Fall eines Fundplatzes, wünschenswerter Weise vielleicht auch mit einer gewissen aussagekräftigen Laufzeit und einem Fundstück, das einen Bezug zu einem historischen Ereignis hat. Ich würde mir außerdem wünschen, daß es zu allen Datierungen, die im optimalen Fall tatsächlich konvergieren weder relative noch absolutchronologische Unklarheiten lassen.

Ich weiß, daß ich dabei sehr hohe Erwartungen formuliere, die sich der eine oder andere Forscher als optimale Vorraussetzung seiner Arbeit wünscht, aber sich vielleicht aufgrund wissenschaftsbetrieblicher Rahmenbedingungen als unerfüllbar erweisen.

Die Limesforschung ist dabei vielleicht sogar ein guter Ansatzpunkt, aber ich würde mir wünschen, wenn man es nicht beim Hörensagen beläßt...
 
@Pal, du hast vermutlich nicht gestern Abend die Germanen-Dokumentation auf arte gesehen.

Dort wurde gezeigt, wie die Römersiedlung Waldgirmes dendrochronologisch datiert wurde. Das Holz aus einem Brunnenschacht wurde 4 v. Chr. geschlagen und im Folgejahr (Fehlen von Trockenrissen im Holz, also keine jahrelange Lagerung des Holzes) verbaut.

War eine Überraschung, man hätte nach Historikerquellen über die innergermanischen Zustände eher um 1-5 nach Chr. erwartet. Wir reden also über max. 8 Jahre scheinbare Differenz und nicht 300. Das nach 2000 Jahren.

Habe ich auch nicht gesehen, genauso wenig, wie ich auf dem Schirm habe, ob Waldgirmes ein lokalisiertes Kastell mit lateinisch überliefertem Namen ist. Mich würde an diesem Beispiel im Zusammenhang des Threads interessieren der Fundzusammenhang: gibt es in dem Gebäude Siedlungsspuren mit datierten Münzen, Fibeln, Terra sigillata oder ähnliches, die mit diesem Dendrodatum - oder habe ich da etwas falsch verstanden konvergieren?
Überhaupt, handelt es sich es sich um ein absolut oder relativ-chronologisches?
 
Es war eine zivile Siedlung, kein Kastell. Die Einzige rechtsrheinisch, planmäßig angelegt.
Funde gibt es massenhaft, sie belegen friedliche Kontakte zwischen Römern und Germanen. Ob die Datierung absolut oder relativ erfolgte, wurde in der Doku nicht erwähnt, nur die Methode vorgestellt.
Es gibt keine antiken Quellen, die diese Siedlung explizit erwähnen - nur Allgemeinposten über ruhige und "zivilisierte" Verhältnisse vor dem Jahr 9 liegen vor.
Römisches Forum Lahnau-Waldgirmes ? Wikipedia
Mit der Suchfunktion des GF und Google kannst du mehr erfahren.
 
Es war eine zivile Siedlung, kein Kastell. Die Einzige rechtsrheinisch, planmäßig angelegt.

Es gibt keine antiken Quellen, die diese Siedlung explizit erwähnen - nur Allgemeinposten über ruhige und "zivilisierte" Verhältnisse vor dem Jahr 9 liegen vor.
http://de.wikipedia.org/wiki/Forum_von_Waldgirmes

Ich fand die Vorstellung von Waldgirmes interessant.
Natürlich sind Fragen offen , besonders die fehlende Quellenlage, @bb,
ist abzuwägen gegen die Darstellung , Waldgirmes wäre sozusagen als
Hauptverwaltungsort der german. Provinz rechts des Rheins vorgesehen gewesen.
Augustus hat also solcherlei Geplantes nicht in Rom verlauten lassen -
das fand ich als störend - weil wir ja einiges über linksrheinische Zentren
wissen , zB. Mainz oder Xanten als Gegenteil.
Und ob der Ort freiwillig aufgegeben und von den abziehenden
Römern selbst in Brand gesteckt wurde ?
Vorher noch die Augustus-Statue in mehrere hundert Teile zersplittern
und weitflächig verteilen ?
Sowas sieht doch eher nach feindseliger Zerstörung aus....
 
Zurück
Oben