Nein, ich denke, beorna hat das hier gut erfasst. Du wirfst den Historikern vor, dass sie sich Naturwissenschaftlich nicht gut genug auskennen, um eine Chronologie mit all ihren Aspekten beurteilen zu können, bzw. ggf. zu hinterfragen.
Jetzt werfe ich den Chronologiekritikern einmal im Gegenzug vor, dass sie sich nicht gut genug mit der bisher ziemlich verlässlich dokumentierten Geschichte auskennen (z.b. was die Schriften und Funde angeht), um sich ÜBERHAUPT eine Kritik anzumaßen.
Ein Germanist muss sich mit Mediävistik befassen, allerdings nur einem kleinen Teil, nämlich dem, der für die Sprachwissenschaft relevant ist. Was bedeutet, er hat zwar eine gewisse Grundkenntnis, aber mitnichten eine Kenntnis wie ein Historiker, wenn es um Quellen geht - beim Geschichtsstudium wird nämlich Quellenarbeit und die Suche nach Quellen u.A. als Schwerpunkt geführt. Als Germanist liest du zwar auch teilweise alte Schriften, jedoch weniger, um daraus historische Schlüsse zu ziehen, als vielmehr sprachwissenschaftliche.
In der Tat hat BEORNA eine umfassende Zusammenstellung der Disziplinen gemacht, deren Ergebnisse durchaus sinnvoll für historische Studien zu rezipieren wären.
Aber ich hatte den Thread nicht eröffnet, um sich gerade noch in einer allgemeinen Kritik und Gegenkritik aufzuhalten. Mir geht es vor allem um die praktischen Probleme:
Ich habe einen Historiker eines speziellen Fachgebietes vor Augen, der ein gewisses Maß an Interdisziplinarität berücksichtigen muß, aber auch pragmatische Entscheidungen treffen muß, um sich nicht mit allzuviel Details aufzuhalten, da er einen Vortrag auf einem bestimmten Symposium halten muß, und diesen auch so weit schriftlich formuliert haben soll, da eine Publikation der Beiträge in Aussicht steht.
Dieser Beispielhistoriker, wird, wie bereits angedeutet, nicht alle Meinungsverschiedenheiten innerhalb der verschiedenen Disziplinen berücksichtigen können, kann höchstens Tendenzen der Forschung benennen, sofern er die seinem Spezialfach fernstehenden Diskussionen überhaupt kennt. Angenommen, es handelt sich um brandaktuelle Frage, die in seinem Fach gerade neu diskutiert wird.
Hier wird er seinen Standpunkt vertreten, gegebenenfalls - im Gegensatz zu einer älteren Publikation von ihm oder seinem Mentor - etwas stärker berücksichtigen, Revisonen vorschlagen, oder seinen eigenen Standpunkt gegenüber einem Antipoden, der eine ganz andere Zugangsweise zu seinem Thema hat, stark konstratieren...; die Möglichkeiten sind hier unbegrenzt.
Ich muß vielleicht noch irgendart definieren, was ich eigentlich mit Historiker meine; mir ist der Abschluß völlig egal - ehrlich gesagt; ich meine damit Leute, die sich aus beruflichen Gründen, zentral mit historischen Fragen beschäftigen; so lese ich beispielsweise Ariès als Historiker, der das Fach meines Wissens nicht studiert hat oder auch die Psychohistoriker, allen voran Lloyd de Mause, der bekanntlich Psychoanalytiker war, so sehr seine historischen Arbeiten auch in Frage gestellt werden können und dessen Umgang mit Quellen, dem der Chronologiekritiker quasi an die Seite gestellt werden können. Auch sehe ich nicht, warum man Archäologen nicht im weiteren Sinne den Historikern zuordnen kann, auch wenn es fachspezifische Unterschiede gibt. Auf die feinen, interdisplinären Differenzen kommt es mir nicht an.
Ich möchte das Mal versuchen an - meinen kürzlich nachgegangenen Interessen naheliegenden - Beispielen andeuten, welche Probleme ich in der chronologischen Forschung sehe:
1. Beispiel: Der eine oder andere kennt vielleicht oder bestimmt Fragen, die mit den Altsachsen zusammenhängen; der eine hat Springer gelesen, der andere die Einführung von Capelle, ein weiterer ist mehr archäologisch interessiert und liest Böhme; manch einer (wie ich) hält sich mit älteren Autoren wie Schmidt oder gar Genrich auf. Ein letzter bevorzugt Ströbe - den ich - nebenbei bemerkt - auch endlich mal lesen sollte. Wie dem auch sei, von einem Historiker oder auch Archäologen erwarte ich - und ich denke legitimer Weise -, daß er die von den verschiedenen Autoren aufgeworfene Frage und Kontroversen kennt.
Zu einer Spezialfrage gehört in der Sachsenforschung etwa die Frage: Welche Quelle, Tacitus oder Ptolemaios gibt den früheren Blick auf die Germanensitze in Nordwestdeutschland in der frühen Kaiserzeit? Die Spezialisten, die einen Standpunkt wie Von Capelle vertreten und das ist die vor einigen Jahrzehnten etablierte Auffassung, sehen im Anschluß an die Quelle Ptolemaios Sachsen bereits im 2. Jh. n. Ztr. im westlichen Schleswig Holstein ansässig. Forscher, die Springers These hingegen für überzeugend halten, haben das Problem, daß es bis zur Völkerwanderungszeit plötzlich Sachsen gibt, von denen man nicht weiß, woher sie genau kommen.
Daß es hier noch keinen Konsens gibt, macht mich - ehrlich gesagt - ramdösig, treibt mich zur Verzweiflung.
Da hilft leider auch keine Lektüre der archäologischen Forschung weiter, weil die Deutung des archäologischen Materials gewissermaßen von der Geschichtsschreibung abhängt. Aber die Auseinandersetzung mit der archäologischen Forschung warf für mich dann das folgende Problem auf:
2. Beispiel
In einem Thread über Drehscheibenkeramik habe ich eine Frage vormuliert, die mir scheinbar als nicht gelöst erscheint. Es geht dabei zusammengefaßt um einen Fundplatz nahe Hannover, der nach ein jüngeren Publikation über archäologische Fundplätze in die Völkerwanderungszeit fallen soll. Der Zufall hat es gewollt, daß ich diesbezüglich eine ältere Studie zum Nachschlagen vorliegen hatte, in der ein Drehscheibengefäß dieses Fundplatzes abgebildet war und besprochen wurde, das nicht in das Profil paßte, das die besporochene völkerwanderungszeitlichen Keramik repräsentiert, sondern dem Augenschein und eher einem Fundgut entspricht, das ein anderer Autor eher ins 2. Jh. datiert hat. Diese Information konnte ich noch der Autorin entnehmen und ebenso den Hinweis, das eine jüngst in einer Publikation angegebene Datierung des in Frage stehenden Fundplatzes ins 2. Jahrhundert fehlerhaft sei. Die Lektüre dieses Literaturhinweises hat freilich gezeigt, daß dem Autoren, dem dieser angebliche Fehler unterlaufen ist, keine neuere Studie zum Fundplatz vorlag, nicht einmal die Studie die mir wiederum vorlag und maßgeblich für diesen Fundplatz die Datierung datiert, sondern nur der Grabungsbericht. Es sei nur nebenbei bemerkt, daß für einen Laien wie mich, die Literatursuche begrenzt ist, was ich aber an Literatur zum Thema Hannoversche Drehscheibenkeramik einsehen konnte, scheint mir in keinster Weise eindeutig datierbar; von dem von mir in Augenschein genommenen Fundplatz stammt aber wenigstens ein anderes Drehscheibengefäß, das wohl tatsächlich eher in die Völkewanderungszeit zu datieren ist. Meiner Ansicht nach hängt die Angabe der Laufzeit des Bestattungsplatzes bei Hannover jetzt von der Entscheidung ab, ob das andere Drehscheibengefäß nun möglicherweise eher ins zweite Jahrhundert oder eben doch ins vierte. Um das für mich zu entscheiden, weil die Forschung das leider nicht interessiert - zumindest nicht die Autorin, die mich auf dieses Problem überhaupt gebracht hat -, müßte ich jetzt also versuche, die Datailstudie zu dem gewissen Keramiktypen irgendwie in die Hände zu bekommen, mich mit der Datierung von Fibeln beschäftigen, da eine ganz bestimmte Fibel bei einem ganz bestimmten Autor ein ganz bestimmtes Gefäß in eine ganz bestimmte datiert hat.
Ich gebe zu, die Autorin, der ich meine ganz spezielle Frage überhaupt zu verdanken habe, ihre umfangreiche Studie über zahlreiche Fundplätze wahrscheinlich nicht zum Abschluß hätte bringen können, wenn sie bei jedem Fundplatz, der nur in der Peripherie ihres Arbeitsbereiches lag, eine gründliche Fundaufnahme gemacht hätte. Aber für einen Laien wie mich, der selbst kein Forscher ist, ist es ärgerlich, daß es hier eine nicht unbedeutende chronologische Frage gibt, der zur Zeit kein Forscher nachgeht!