Fragen zur Entwicklung des Ruhrgebiets

Dieses Thema im Forum "Das Heilige Römische Reich" wurde erstellt von R.A., 14. April 2010.

  1. R.A.

    R.A. Neues Mitglied

    Hallo Tekker, freut mich sehr, daß Du hier wieder präsent bist.

    Klares Ergebnis!

    Sehr interessant.
    Wenn ich das richtig sehe, geht das ripuarische Kleve mit einem kleinen Ostzipfel ins westfälische rein, umgekehrt hat das Vest Recklinghausen eine kleine Westabweichung ins rheinische "Ausland" - ansonsten aber passen auch die Territorien recht gut zur alten Stammesgrenze.
    Insbesondere bei der Trennung der Grafschaften Mark (westfälisch) und Berg (rheinisch).

    Und letztere sind wohl der Knackpunkt dabei, daß aus der Region nie ein geschlossenes Territorium geworden ist.
    Intern werden ja beide Grafschaften immer wieder zwischen diversen Familienzweigen aufgeteilt und dann wieder vereinigt. Aber eben nicht über die Stammesgrenze hinweg.
    Die gräflichen Familien sind zwar eng verwandt, wie ja auch sonst die Adelsfamilien sehr oft überregional geheiratet haben.

    Aber "untendrunter" bleibt die Trennung zwischen Westfalen und Rheinländern. Selbst nach der Personalunion der beiden Territorien bleibt die Grafschaftsstrukturen getrennt - und gehen dann wieder getrennte Wege mit Brandenburg bzw. Bayern.

    Richtig. Wobei das halt schon die Spätphase ist. Als Jülich/Kleve/Berg/Mark "endlich" zusammen kommen, sind andere Territorien schon lange stabil und rechtlich (als Kurfürstentümer) oder de facto nicht mehr teilbar.

    Daß nun wegen mangelnden männlichen Nachwuchses die vereinigten Grafschaften wieder auseinander gefallen sind, das ist dann die entscheidende Weichenstellung. Was passiert wäre, wenn es eine erbfähige männliche Linie gegeben hätte, das ist wohl eines der großen "what ifs" der deutschen Geschichte.

    Wenn dieses große Herzogtum dynastisch bis zum Reichsende durchgehalten hätte, dann wäre es m. E. einer der größeren Rheinbundstaaten geworden (es gab ja viel zu säkularisieren im Umfeld) und hätte auch nach 1815 ziemlich das Gebiet des heutigen NRW erhalten.
    Umgekehrt wäre Brandenburg/Preußen ohne das Erbe Kleve/Mark schwächer gewesen, hätte vielleicht die friderizianische Expansion nicht geschafft und auf jeden Fall nach 1815 das Ruhrgebiet nicht bekommen.

    Neid!
     
  2. jschmidt

    jschmidt Aktives Mitglied

    Um mal das Pferd von hinten aufzuzäumen: Nach historischen Katastrophen wird der Veränderungsdruck häufig besonders stark empfunden, weshalb es nicht verwundert, dass nach 1918 der Gedanke einer "Ruhrprovinz" ventiliert wurde, "um die vielfachen Probleme des durch hundertjährige Verwaltungsgrenzen behinderten Industriegebietes zu lösen. Er verschwand trotz erheblichen Widerstandes von seiten der Provinzialverwaltungen, die einem vom Gegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geprägten Provinziallandtag an der Ruhr jede Möglichkeit zu fruchtbarer kommunaler Arbeit bestritten, in der Weimarer Zeit und auch später im Dritten Reich nie ganz aus der Diskussion." [1] Stattdessen kam es 1920 "nur" zur Errichtung des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk.

    Als Reaktion auf diese Pläne gingen übrigens die beiden Provinzialverbände "dazu über, die Entstehung eines eigenständigen historischen 'Landesbewußtseins' im Rheinland und in Westfalen bewußt zu fördern, das es im 19. Jh., wenn überhaupt, nur in Ansätzen gegeben hatte. Nach der Ruhrbesetzung von 1923 begann man zunehmend von 'Westfalen' und von 'Rheinländern' zu sprechen, was zuvor eher selten der Fall war." Demgegenüber warnte der Historiker Joseph Hansen davor, "von dem Charakter der 'Rheinländer' zu sprechen. Dies werde nur zu zweifelhaften Partikularismen führen." [2] Was zur Frage führt, ob die Betroffenen selbst, also "das Volk an der Ruhr", überhaupt jemals daran interessiert gewesen sind, in einem gemeinsam Territorium vereint zu sein...:grübel:

    Demnächst wieder mehr aus der Zeit davor.

    [1] Behr, in: Westfälische Geschichte, Bd. 2, S. 146
    [2] Ribhegge, Preußen im Westen, Münster 2008, S. 391
     
  3. R.A.

    R.A. Neues Mitglied

    Sehr interessant!
    Damit wird ja der Idee der historischen Kontinuität des Gegensatzes Westfalen-Rheinland widersprochen.

    Wobei ich ein bißchen skeptisch bin. Wieso hätten die Preußen 1815 die Landesbereiche nach historischen Bezügen gliedern sollen, wenn die Leute vor Ort kaum noch ein Landesbewußtsein gehabt haben?

    Mit scheint ein anderer Hintergrund plausibler: Die meisten heutigen Einwohner im Ruhrgebiet haben ja von ihrer Herkunft weder mit Rheinländern noch mit Westfalen zu tun. Die Bevölkerungszahl der Region hat sich während der Industrialisierung verzehnfacht, die Bevölkerungsmehrheit bestand aus Einwanderern. Und denen war natürlich die historisch gewachsene Regionalidentität der Alteinwohner erst einmal egal.

    Das wird anders, wenn sich die Leute integrieren. Wenn sich also die Kinder oder Enkel einer aus Oberschlesien eingewanderten polnischen Familie nicht mehr als Polen, sondern als Deutsche sehen, dann fühlen sie sich natürlich auch als Bürger "ihrer" Stadt und Region. Und wenn dann die Bezugsregion nicht das Ruhrgebiet insgesamt ist, sondern sie sich dann in Dortmund als Westfalen und in Duisburg als Rheinländer sehen - dann werden sie das von den Alteingesessenen übernommen haben, nicht vom Provinzialverband.
     
  4. rena8

    rena8 Aktives Mitglied

    Da aktuell von der jüngeren Geschichte der Abgrenzung Rheinland/Westfalen oder auch nicht, die Rede ist, paßt Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen während des 19. und 20. Jahrhunderts. Selbstverständnis und Fremdwahrnehmung im Raumverbund - H-Soz-u-Kult / Tagungsberichte vielleicht ganz gut.
    Auch dort scheint es keine einfache Antwort zu geben, höchtens die Tendenz, dass das Ruhrgebiet als ganzes vielleicht schon wieder zu groß und schichtenuneinheitlich für die Ausprägung einer regionalen Identität ist und deshalb mit den kleinräumigen Bezügen auf die alten Westfalen/Rheinlandgrenzen zurückgegriffen wurde. Das würde zu RAs Aussage über die Integration der Ruhrgebietseinwanderer in die Bezüge der unmittelbaren Nachbarschaft passen.
     
  5. Tekker

    Tekker Aktives Mitglied

    Ich auch, denn...

    ...hier stellt sich imho die Frage, ob Huhn oder Ei. Und diese ist dabei m.M.n. leicht zu beantworten, denn ohne vorhandene Regionalidentität kein Regionalverband o.ä., nicht umgekehrt.


    Öhm, das möchte ich so nicht unterschreiben wollen, ohne die Grenze über die Jahrhunderte hinweg eingehender untersucht zu haben. Du mußt ja auch beachten, daß die Karte von ~1000 die Gaugrenzen evtl. nicht genau genug bezeichnet. Dazu kommt, daß zwar Siedlungen dem sächsischen oder lothringischen Bereich zugeordnet werden können, nicht aber die unbesiedelten Wald- Moor- und Sumpflandschaften. (Was dort zu der Zeit zu finden war, kann ich aber auch nicht sagen.) So ist vielleicht um 1000 an einer Stelle nur ein "gerader Strich" zu finden, wo heute oder 1789 durch den "Siedlungsfortschritt" eine verwinkelte Grenze anzutreffen ist.
    Mitunter gibt es aber auch tatsächliche Abweichungen. So ist bspw. schon die Grenze des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zum Rheinland offenbar nicht mit der westf. Provinzgrenze identisch, guckst du hier.

    Zustimmung. Jedoch kommt man wohl nicht umhin, einzelne Ortschaften des gesamten Grenzraumes genau unter die Lupe zu nehmen. Dazu hatte ich gestern nochmal diverse Karten durchgesehn, am Bsp. Werden schienen sich die Geister schon zu scheiden, ob es nun noch lothringisch sei oder schon sächsisch.

    Im oldenburgischen gibt es auch derartige Feinheiten. Die landsmannschaftliche Identität ist dort mittlerweile leider weitestgehend "aberzogen", noch in den 70ern allerdings gab es Bestrebungen zur Eigenständigkeit. Aber das ist ein anderes Thema.


    Falls du was Brauchst oder suchst, sag einfach Bescheid. Weiteres gern per PN. ;)
     
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  6. R.A.

    R.A. Neues Mitglied

    Oh ja!
    Die scheinen genau diese Themen sehr fundiert besprochen zu haben. Leider ist nur diese Zusammenfassung verlinkt. Vielleicht schreibe ich mal hin, ob man auch die ausführlichen Texte haben kann.
     
  7. jschmidt

    jschmidt Aktives Mitglied

    Aus Bequemlichkeit: Die Verwaltungsgrenzen und -einrichtungen von der Kreisebene abwärts waren ja vorhanden und hatten sich "bewährt" - warum also um 1815, d.h. vor Einsetzen der grundstürzenden Industrialisierung, etwas daran ändern?
    "Preußen am Rhein" war ja 1815 eh' nur zweite Wahl gewesen, die Staatsführung hätte viel lieber Sachsen eingesackt...

    Aus Sicht von heute oder von 1920 ist das auf jeden Fall richtig.

    Vielen Dank für den Link! Vielleicht hat jemand noch andere neuere Publikationen zur Hand, z. B. Zimmermann: Die Erfindung des Ruhrgebiets (Essen 2000) oder den zweibändigen Ausstellungskatalog Vergessene Zeiten: Mittelalter im Ruhrgebiet (Essen 1990).

    Im 19. Jh. ist viel in dieser Richtung geforscht worden; bin gerade dabei, mich da einzulesen.
     
  8. R.A.

    R.A. Neues Mitglied

    Du hast völlig recht. Die Darstellung frühmittelalterlicher "Grenzen" kann sehr mißverständlich sein.

    Leider funktioniert der Link bei mir nicht :-(
     
  9. Tekker

    Tekker Aktives Mitglied

  10. R.A.

    R.A. Neues Mitglied

    Sehr schön, vielen Dank.
    Da gibt es tatsächlich einige kleinere Abweichungen, vor allem beim Vest Recklinghausen.
    Ansonsten aber paßt das erstaunlich gut.
     
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  11. jschmidt

    jschmidt Aktives Mitglied

    Jetzt müssen wir nur noch "die andere Seite" daneben legen, nämlich die Karte von 1789 aus dem Geschichtlichen Atlas für die Rheinprovinz.

    Ich erwähne die deshalb, weil Wilhelm Fabricius 1898 dazu 700-seitige "Erläuterungen" verfasst hat, worin jedes noch so kleine Territorium genau beschrieben wird - leider nur für die Zeit von 1600 bis 1794, d.h. für die Zeit davor und danach müssen wir uns eigene Gedanken machen... Hat jemand die Neuauflage des Atlas'?
     
  12. jschmidt

    jschmidt Aktives Mitglied

    So richtig beantwortet haben wir die Ausgangsfrage ja noch nicht. Hier mein Erkenntnissstand, bezogen auf die bisher vorgelegten Thesen:

    Das ist auf jeden Fall relevant für die Zeit, in der ein sächsisches und ein lothringisches Stammesherzogtum existierten. (Siehe auch Beiträge #10 und #25.) Es ist interessant zu sehen, wieviele Arbeit noch im 19. Jh. darauf verwendet wurde, nachzuweisen, dass der rheinfränkisch-ribuarische Raum niemals "richtig" lothringisch gewesen sein kann.

    Das Problem ergab sich, natürlich, aus der Tatsache der verschiedenen Reichsteilungen im 9. Jh. [1]. Mein Geschichtsatlas zeigt allerdings, dass die berühmte Stammes-Demarkationslinie nicht immer die gleiche blieb. Nach dem Vertrag von Verdun (843) bildete im Kölner Gebiet der Rhein die Grenze Lotharingiens [2]. Nach Mersen (870) verschwand L. für ein Vierteljahrhundert von der Landkarte und tauchte dann knapp vor der Jahrhundertwende als eigenständiges Territorium Lothringen wieder auf - und siehe da, jetzt wird der Rhein bei Köln in breiter Front überschritten [3]. Die "Wiedergeburt" Lothringens ist eine Geschichte für sich; siehe etwa den Versuch von Zwentibold, sich zwischen West- und Ostfränkischem Reich eine eigene Machtbasis zu schaffen.

    Interessant auch die Karte von Parisot [4]: Dort ist auch die Rheingrenze abgebildet; die Gaue Tucinchowe (östlich von Köln) und Avalgowe (beiderseits der Sieg) sind sozusagen im Niemandsland zwischen Ost- und Westreich.

    Mir leuchtet dieses Argument nach wie vor ein, wenngleich der Einwand von rena8 auf Braunschweig und Hannover (#12) noch im Raume steht. Die "Prälatendichte" (Köln, Werden, Münster, Paderborn usw.) war vielleicht doch zu hoch und deren territoriale Präsenz zu stark, so dass die Hürde für einen "Großraum-Bildner" zu hoch war.

    Von Berg, also von Westen scheinen tatsächlich kaum Vereinigungs-Impulse ausgegangen zu sein. Aus der anderen Richtung her sind aber wenigstens noch zwei Versuche zu nennen:

    a) Zum einen gab es den Versuch des Grafen von Werl, sich zu einer "mittleren" Macht zu entwickeln. Um die Jahrtausendwende war er "entprechend dem Billunger und dem Grafen von Stade in Ostfalen und Engern der führende Mann in Westfalen" und hatte "die Grafschaftsrechte in fast ganz Westfalen" erworben [5]. Ohne den geistlichen Besitz blieb aber offenbar die "kritische Masse" für eine dauerhafte Schwerpunktbildung zu gering.

    b) Zum anderen sollte unbedingt die Geschichte des Grafen Friedrich des Streitbaren von Arnsberg-Werl erwähnt werden, der von allen weltlichen Herren vielleicht die besten Chancen gehabt hat, Westfalen zu beherrschen. Er war mit den Liudolfingern verwandt (aber das waren viele...), und sein großer Plan war "die Vereinigung der westfälisch-engrischen Machtsphäre der Arnsberger mit der münsterländischen Grafschaft der Cappenberger", wodurch Westfalen "ein völlig anderes Gesicht gewonnen haben würde. ... Fast wäre ihm gelungen, was erst 1180 vollzogen wurde: die Vereinigung von Westfalen und Engern zu einer politischen Einheit" ... [Nun aber entwickelte sich Westfalen] zu einem Konglomerat von überwiegend geistlichen Fürstentümern, in denen der Ansatzpunkt zu einer gesamtwestfälischen Konzeption innerhalb der Reichspolitik fehlte. Es ist kein Zufall, daß dieses Westfalen trotz seiner Erweiterung um große Teile Engerns nach dem Scheitern Friedrichs von Arnsberg aus der Reichspolitik ausschied. Westfalen lag seitdem im Windschatten der großen Politik und verzettelte seine Kräfte in lokalen Bereichen." [6]

    Das waren freilich "nur" Ansätze, um ein größeres weltliches Territorium in Westfalen zu bilden und sagt noch nichts darüber aus, ob jemand jemals bis nach Duisburg oder sogar Rheinhausen vorgedrungen wäre.

    Hierzu schweigen alle Quellen, woraus ich schließe, dass vor 1800 niemand einem "vereinigten Ruhrgebiet" das Wort geredet hat, die Einheimischen schon gar nicht. Es gab kein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Erst die Industrialisierung bracht einen "Treiber" in dieser Richtung hervor.


    [1] Das Folgende in Anlehnung an Tellenbach, Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches, Weimar 1939; ders., Die Entstehung des Deutschen Reiches, München 1947; Hlawitschka, Lotharingien und das Reich an der Schwelle der deutschen Geschichte, Stuttgart 1968; ders., Vom Frankenreich zur Formierung der europäischen Staaten- und Völkergemeinschaft 840-1046, Darmstadt 1986;
    [2] Großer Historischer Weltatlas, Teil Mittelalter, München 1970, S. 67; nur weiter stromabwärts (Duisburg bis Wesel?) griff Lothringen aufs Rechtsrheinische über.
    [3] aaO, S. 74
    [4] Le Royaume de Lorraine sous les Carolingiens (843-923), Paris 1898, Beilage.
    [5] Prinz, aaO., S. 355
    [6] ebd., S. 367 ff.
     
  13. silesia

    silesia Moderator Mitarbeiter

    Das brachte mich auf den Gedanken, im Staatslexikon nachzuschlagen. Begriffe wie "Rheinisch-Westfälisches Industriegebiet" (was wesentlich weiter zu fassen ist als das "Ruhrgebiet"), Ruhrkohlengebiet und Ruhrsiedlungsverband sind demnach Schöpfungen ab 1850 bzw. des 20. Jahrhunderts. Das würde doch sehr für den "Treiber" Industrialisierung sprechen.
     
  14. Carolus

    Carolus Aktives Mitglied

    Jetzt muß ich mich mal als "Eingeborener" zu dem Thema äußern. Auch heute gibt es eigentlich keinen administrativen Raum Ruhrgebiet. Das Ruhrgebiet ist über mehrere Regierungsbezirke (Düsseldorf, Münster und Arnsberg) und zwei Landschaftsverbände (Rheinland und Westfalen-Lippe) verteilt, folgen also noch Grenzziehungen des Wiener Kongresses von 1815 (also vor der Induistriealiserung). Es gibt zwar einen Regionalverband Ruhr, der u. a. für das Marketing und die Freizeitförderung zuständig ist. Darüberhinaus tritt der Regionalverband für den Normalbürger nicht so in den Vordergrund. Die Grenzen des Ruhrgebietes sind auch nicht so leicht zu fassen. Hagen und der Kreis Wesel wollten vor einigen Jahren den Regionalverband verlassen, weil man sich dort wohl nicht mit dem "Ruhrgebiet" identifizieren wollte (der Kreis Wesel z. B. ist stark landwirtschaftlich geprägt).

    Ein weiteres Gebilde, welches das Ruhrgebiet und einige Randlagen (z. B. Düsseldorf:D:D:D) abdeckt, ist der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR), so daß man mit einem VRR-Ticket von Duisburg über Essen, Bochum nach Dortmund fahren kann.

    Die Orte im Ruhrgebiet haben zwar eine lange Geschichte (z. B. Dortmund und Duisburg als Freie Reichsstädte, Essen als Reichsstift), aber waren immer voneinander unabhängig. Verbindendes Element war lediglich der Verkehrsweg parallel zur Ruhr (Hellweg), der heute die A40 bzw. B1 (in Dortmund) ist.

    Es wurden ja auch die unterschiedlichen Germanenstämme (Franken bzw. Sachsen), die die Urväter (und -mütter) für die Rheinländer bzw. Westfalen darstellen, erwähnt. Aber m. E. ist dies für das Ruhrgebiet ab dem 19. Jhrdt. zu vernachlässigen. Wenn man stellvertretend für das Ruhrgebiet sich die Einwohnerentwicklung von Essen anschaut (siehe Graphik aus der Wiki), erkennt man das explosionsartige Wachstum ab der Industrialisierung. Ich habe leider keine Zahlen, wie groß der (innerdeutsche) Migrationsanteil ist, aber er dürfte beträchtlich sein. Das war also der große "Melting-Pot", wohin aus allen Teilen Deutschlands Arbeitssuchende strömten). Ich denke, in der Industrialisierung und verbundenem Arbeitskräftebedarf und folgender massiver Migration liegt so die "Geburtsstunde" des Ruhrgebiets. In diesem Sinne der Bergmannsgruß "Glück auf!":yes::yes::yes:
     
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  15. Tekker

    Tekker Aktives Mitglied

    Hört sich toll an, ist aber zu undifferenziert. Da sollte man sich imho genauer ansehen, woher die Zuwanderer kamen.
     
  16. silesia

    silesia Moderator Mitarbeiter

    Und dazu noch ein Verweis auf eine kleine Schrift, die mir im Band "Industriegeographie", hrsg. von Karlheinz Hottes, Wege der Forschung CCCXXIX, aufgefallen ist:

    Steinberg [der wohl zu der Thematik einiges veröfffentlicht hat]: Das Ruhrgebiet und der "engere mitteldeutsche Industriebezirk". Ein historisch-geographischer Vergleich, aus 1964, abgedruckt im Sammelband. Ausgangspunkt ist hier die Phasenverschiebung und der interessante Vergleich zweier etwa gleich großer Industriegebiete.

    Der Ansatzpunkt im Ruhrgebiet wird etwa 1840 gesehen, als im Bereich der Hellwegstädte die ersten Tiefbauschächte abgeteuft werden konnten, iVm mit der Köln-Mindener und der Bergisch-Märkischen Eisenbahn (1847/48). Die Einwohnerzahlen des "Ruhrgebiets" werden für 1815 mit (nur) 195.700 angegeben, wobei gerade die von der späteren Industrialisierung erfaßten Hellwegstädte zusammen über (nur) 35.900 Einwohner verfügten, bei sonst landwirtschaftlicher Prägung. Die Bevölkerung im Kern des Reviers sei dann bis 1871 auf 532.400 (Hellwegstädte plus Emscher) angestiegen. Das Gebiet bildete sich in diesem Zeitraum auch dadurch scharf heraus, weil die Randgebiete (der "Saum") dieser Entwicklung nicht folgten.

    Die beachtliche Masseneinwanderung, von der oben schon die Rede war, hatte ihren größten Anstieg zwischen 1895 und 1906, erst nach der Herausbildung des Gebiets (Ruhrgebiet 1895: 1,599 Mio., 1905: 2,617 Mio., im "Kerngebiet von 1,317 Mio. auf 2,207 Mio., Zuwächse in den Hellwegstädten von 60% in 6 Jahren, bei den Emscherstädten +90% in 6 Jahren)-

    Details werden dann bis 1945 fortgeschrieben.
     
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  17. Carolus

    Carolus Aktives Mitglied

    Wird denn aufgeschlüsselt, aus welchen Regionen die Zuwanderer herkamen? Soweit ich die Regionalgeschichte kenne, war ein großer Anteil aus den preußischen Ostprovinzen gekommen, die damals beträchtliche Teile Polens umfaßten. Auch die Name eines berühmten (wenn auch fiktiven) Duisburgers namens Horst Schimanski deutet darauf hin. :D
     
  18. silesia

    silesia Moderator Mitarbeiter

    Diese Einwanderungswelle stammte überwiegend ("Mehrzahl") aus den preußischen Ostprovinzen/Polen (S. 390). MW gibt es dazu spezielle Studien.
     
  19. jschmidt

    jschmidt Aktives Mitglied

    Ja, jede Menge, gerade auch aus den letzten Jahren. Es wäre interessant, das ausführlicher zu betrachten [1] - hier oder in einem neuen Thread?

    Während diese Gewissensfrage geprüft wird, nochmal 800 Jahre zurück:

    Dass es seinerzeit nicht zur Bildung eines "westfälischen Reiches" kam, das sich womöglich bis zum Rhein hätte ausdehnen können, hat durchaus nichts damit zu tun, dass der dortige Menschenschlag nicht unternehmungslustig genug gewesen wäre. (Böse Zungen behaupten das ab und an).

    Es trat nämlich im späteren 12. Jh. eine Entwicklung ein, die man anderswo in vergleichbaren Zusammenhängen auch beobachten kann: Die Westfalen erprobten ihre Gestaltungskraft anderswo! Dortmunder etwa waren maßgeblich und zahlreich beteiligt an Gründung und Entwicklung von Städten wie Lübeck und Riga.


    [1] Siehe die knappe Zusammenfassung über die "Ruhrpolen" in Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschand. Bonn 2000, S. 74 ff.
     
  20. jschmidt

    jschmidt Aktives Mitglied

    Ich habe einen Moment gestutzt und mich dann überzeugt [1], dass es genau so war:

    • Wenn man die Kreiszahlen für Dinslacken, Recklinghausen, Essen, Dortmund, Bochum und Hagen addiert, kommt man "nur" auf 199.113 Einwohner (1816). Größte Städte waren Essen (4746), Dortmund (4451) und Duisburg (4416).
    • Dem stand die "Südschiene" Düsseldorf-Solingen-Elberfeld-Lennep mit 160.070 Einwohnern nicht weit nach und hatte mit Düsseldorf (22675) und Barmen (19030) die weitaus größeren Städte. In Radevormwald wohnten mehr Leute als in Dortmund...
    Umso dynamischer dann die spätere Entwicklung.


    [1] Anhand von Mützell-Krugs Wörterbuch, Bd. 6, Halle 1825
     

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