So richtig beantwortet haben wir die Ausgangsfrage ja noch nicht. Hier mein Erkenntnissstand, bezogen auf die bisher vorgelegten Thesen:
Eine Vermutung: Es gab einen Gegensatz zwischen Sachsen und Franken(Lothringen).
Das ist auf jeden Fall relevant für die Zeit, in der ein sächsisches und ein lothringisches Stammesherzogtum existierten. (Siehe auch Beiträge #10 und #25.) Es ist interessant zu sehen, wieviele Arbeit noch im 19. Jh. darauf verwendet wurde, nachzuweisen, dass der rheinfränkisch-ribuarische Raum niemals "richtig" lothringisch gewesen sein kann.
Das Problem ergab sich, natürlich, aus der Tatsache der verschiedenen Reichsteilungen im 9. Jh. [1]. Mein Geschichtsatlas zeigt allerdings, dass die berühmte Stammes-Demarkationslinie nicht immer die gleiche blieb. Nach dem Vertrag von Verdun (843) bildete im Kölner Gebiet der Rhein die Grenze Lotharingiens [2]. Nach Mersen (870) verschwand L. für ein Vierteljahrhundert von der Landkarte und tauchte dann knapp vor der Jahrhundertwende als eigenständiges Territorium Lothringen wieder auf - und siehe da, jetzt wird der Rhein bei Köln in breiter Front überschritten [3]. Die "Wiedergeburt" Lothringens ist eine Geschichte für sich; siehe etwa den Versuch von Zwentibold, sich zwischen West- und Ostfränkischem Reich eine eigene Machtbasis zu schaffen.
Interessant auch die Karte von Parisot [4]: Dort ist auch die Rheingrenze abgebildet; die Gaue Tucinchowe (östlich von Köln) und Avalgowe (beiderseits der Sieg) sind sozusagen im Niemandsland zwischen Ost- und Westreich.
Zweite Vermutung: Es gab zu viele Kirchenfürsten in der Region.
Mir leuchtet dieses Argument nach wie vor ein, wenngleich der Einwand von rena8 auf Braunschweig und Hannover (#12) noch im Raume steht. Die "Prälatendichte" (Köln, Werden, Münster, Paderborn usw.) war vielleicht doch zu hoch und deren territoriale Präsenz zu stark, so dass die Hürde für einen "Großraum-Bildner" zu hoch war.
Dritte Vermutung: [nicht] ein weltlicher Fürst ... [z.B.] Mark und Berg
Von Berg, also von Westen scheinen tatsächlich kaum Vereinigungs-Impulse ausgegangen zu sein. Aus der anderen Richtung her sind aber wenigstens noch zwei Versuche zu nennen:
a) Zum einen gab es den Versuch des Grafen von Werl, sich zu einer "mittleren" Macht zu entwickeln. Um die Jahrtausendwende war er "entprechend dem Billunger und dem Grafen von Stade in Ostfalen und Engern der führende Mann in Westfalen" und hatte "die Grafschaftsrechte in fast ganz Westfalen" erworben [5]. Ohne den geistlichen Besitz blieb aber offenbar die "kritische Masse" für eine dauerhafte Schwerpunktbildung zu gering.
b) Zum anderen sollte unbedingt die Geschichte des Grafen Friedrich des Streitbaren von Arnsberg-Werl erwähnt werden, der von allen weltlichen Herren vielleicht die besten Chancen gehabt hat, Westfalen zu beherrschen. Er war mit den Liudolfingern verwandt (aber das waren viele...), und sein großer Plan war "die Vereinigung der westfälisch-engrischen Machtsphäre der Arnsberger mit der münsterländischen Grafschaft der Cappenberger", wodurch Westfalen "ein völlig anderes Gesicht gewonnen haben würde. ... Fast wäre ihm gelungen, was erst 1180 vollzogen wurde: die Vereinigung von Westfalen und Engern zu einer politischen Einheit" ... [Nun aber entwickelte sich Westfalen] zu einem Konglomerat von überwiegend geistlichen Fürstentümern, in denen der Ansatzpunkt zu einer gesamtwestfälischen Konzeption innerhalb der Reichspolitik fehlte. Es ist kein Zufall, daß dieses Westfalen trotz seiner Erweiterung um große Teile Engerns nach dem Scheitern Friedrichs von Arnsberg aus der Reichspolitik ausschied. Westfalen lag seitdem im Windschatten der großen Politik und verzettelte seine Kräfte in lokalen Bereichen." [6]
Das waren freilich "nur" Ansätze, um ein größeres weltliches Territorium in Westfalen zu bilden und sagt noch nichts darüber aus, ob jemand jemals bis nach Duisburg oder sogar Rheinhausen vorgedrungen wäre.
[Meine eigene, vierte Vermutung:]Was zur Frage führt, ob die Betroffenen selbst, also "das Volk an der Ruhr", überhaupt jemals daran interessiert gewesen sind, in einem gemeinsam Territorium vereint zu sein...
Hierzu schweigen alle Quellen, woraus ich schließe, dass vor 1800 niemand einem "vereinigten Ruhrgebiet" das Wort geredet hat, die Einheimischen schon gar nicht. Es gab kein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Erst die Industrialisierung bracht einen "Treiber" in dieser Richtung hervor.
[1] Das Folgende in Anlehnung an Tellenbach,
Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches, Weimar 1939; ders.,
Die Entstehung des Deutschen Reiches, München 1947; Hlawitschka,
Lotharingien und das Reich an der Schwelle der deutschen Geschichte, Stuttgart 1968; ders.,
Vom Frankenreich zur Formierung der europäischen Staaten- und Völkergemeinschaft 840-1046, Darmstadt 1986;
[2]
Großer Historischer Weltatlas, Teil Mittelalter, München 1970, S. 67; nur weiter stromabwärts (Duisburg bis Wesel?) griff Lothringen aufs Rechtsrheinische über.
[3] aaO, S. 74
[4]
Le Royaume de Lorraine sous les Carolingiens (843-923), Paris 1898, Beilage.
[5] Prinz, aaO., S. 355
[6] ebd., S. 367 ff.