Am besten ist es wahrscheinlich, wenn joapassst sich wirklich nur auf die Themenstellung: höfische - bürgerliche Lebensverhältnisse, wie sie in Lessings Drama dargestellt sind (und somit auf die beiden ersten Akte) beschränkt und gewisse Hinterfragungen für die Arbeit selbst weglässt. Ein Vergleich mit den Lebensverhältnissen in "Kabale und Liebe" könnte recht aufschlussreich sein. Andere (sicher interessante) Aspekte wie die tatsächliche damalige Realität wurde ich für die Arbeit weglassen, sonst ufert die Arbeit nämlich aus.
Was diese betrifft und das gesamte Stück betrifft, Lessings Werk ist tatsächlich Literatur (was vor allem daran zu erkennen ist, dass die Handlung eben eine ganze Reihe von Nuancen hat, die bei einer Inszenierung / Rolleninterpretation genutzt werden können, und die vorallem durchaus auch eine Hinterfragung der scheinbar eindeutig in der Handlung festgelegten Positionen zu lassen.
Auf dem ersten Blick herrschen in "Emilia Galotti" klare Verhältnisse: die "Lasterhölle" des fürstlichen Hofes wird die "tugendhafte" Welt des Bürgertums gegenübergestellt, die Begegnung der beiden ist Beginn einer verhängnisvollen Entwicklung, als die "Trennung" der Sphären nicht mehr aufrechtgehalten werden kann, kommt es zur Katastrophe, dem Tod der Heldin.
Ein italienisches Fürstentum als Schauplatz, das zwar tatsächlich existierte, aber bei Lessing von einem fiktiven (und absolutistischen) Landesfürsten beherrscht wird, dürfte der zu Lessings Zeit (und noch im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts) üblichen Verfremdung gedient haben. Bei Betrachtung der damaligen Literatur (gerade bei Bühnenwerken) fällt immer wieder auf, dass Zeitprobleme üblicherweise nicht in der Gegenwart angesiedelt sind, sondern entweder in die Vergangenheit verlegt werden oder in die "geographische" Ferne. (Schillers "Kabale und Liebe" ist da bereits relativ ungewöhnlich, als Schiller auf eine historische bzw. geographische Verfremdung verzichtet, der Vorbild für sein namenloses Fürstentum aber eindeutig der Herzogshof von Württemberg war.)
Emilias Tragödie nimmt ihren Anfang in einem Fehler, der von den bürgerlichen Akteuren/innen ausgeht. Nur, dass ihre Mutter mit ihr (gegen den Willen des Vaters) in die fürstliche Residenzstadt gezogen ist, weil sie sich davon bessere Heiratsmöglichkeiten für die Tochter versprochen hat, hat zur Folge, dass der Prinz überhaupt auf das Mädchen aufmerksam wird. Dadurch, dass er Emilia unbedingt als Geliebte haben will und sie im Begriff ist, sie aber im Begriff ist, einen anderen zu heiraten, entsteht Handlungsbedarf von seiner Seite. (Die geplante Ehe mit dem Grafen Appiani dürfte außerdem noch weitere dramaturgische Gründe haben. Einerseits wird damit Emilias Mutter ein wenig entschuldigt, andererseits wird mit der Nebenfigur eines "Ausnahme-Adeligen", der "bürgerliche" Tugenden besitzt, krasse ständische Schwarzweißzeichnung vermieden. Graf Appiani kann es sich offensichtlich leisten, fern vom Hof zu leben, was erstens seine (politische) Unabhängigkeit vom Prinzen andeutet und zweitens ihn als "verkappten" Vertreter "bürgerlicher" Tugenden ausweist. (Das wiederum bedeutet aber, dass für den Prinzen keine Möglichkeit besteht, über ihn an Emilia heranzukommen, weswegen dieser die Ehe unbedingt verhindern will und damit dessen Tod in Kauf nimmt, auch wenn er selbst sich nur zu einer Entführung überreden lässt.)
Die Figur des Prinzen wird ein wenig entlastet durch den Umstand, dass die üblen Taten seinem Vertrauten übertragen sind bzw. dieser dazurät. Allerdings ist das Verhältnis der beiden ambivalent, da der Vertraute zwar der eigentliche Schurke ist, aber selbst im Sinne des Prinzen zu handeln glaubt, was durchaus der Fall ist.
Zum Vergleich für Marinelli bieten sich Carlos in Goethes Clavigo an oder Wurm in Schillers "Kabale und Liebe". Carlos glaubt zwar im Sinne seines Freundes (wie Marinelli im Sinne seines Herrn) zu handeln, aber (im Unterschied zu diesem) will er wirklich nur das Beste für Clavigo. Wurm nützt die Lage, um seine eigenen Ziele zu verfolgen.
Mit der Entführung, die als (angebliche) Rettung auf das Lustschloss des Prinzen getarnt und bei der Emilias Bräutigam getötet wird, spitzt sich die Lage zu. Einerseits kommt Emilia so aus ihrem "bürgerlichen" Elternhaus in den unmittelbaren "Einflussbereich" des Prinzen, zum anderen wird ihr Fall eine öffentliche Angelegenheit.
Mit seinem Plan, die Tochter von dort wieder weg und in eine Kloster zu bringen, sucht Emilias Vater eine Lösung, die zumindest aus "bürgerlicher" Sicht bei "rationaler" Betrachtung Sinn macht: eine Rückkehr ins Elternhaus (und somit in die frühere Verhältnisse) ist nach der Ermordung des Bräutigams, die zudem "Stadtgespräch" ist, nicht mehr möglich, mit dem Wegbringen aus dem Lustschloss kann er jedoch Emilia aus dem Einflussbereich der adeligen "Lasterhölle" entfernen und durch ihre Unterbringung im Kloster sie von weiteren adeligen Übergriffen schützen.
In diesem Zusammenhang ist vielleicht der Schauplatz der letzten drei Akte: das Lustschloss, recht interessant. Einerseits ist es zwar Einflussbereich des Prinzen, andererseits aber noch ein "privater" Bereich, der nicht direkt Teil der höfischen Residenz ist. Es handelt sich dabei, symbolisch betrachtet, um einen Schauplatz, der zwischen Bürgertum und Adel angesiedelt ist und daher "Verhandlungen" zwischen den Konfliktparteien (Vater / "tugendhafter Bürger" - Prinz / "lasterhafter Adeliger") noch zulässt, was auch Emilias Wegbringung von dort erklärt und den Umstand, dass hier eine ganze Reihe von Figuren (Adelige / Bürgerliche) aufeinander treffen, die gewöhnlich nicht miteinander zu tun haben.
Während der Vater die Tochter in ein Kloster und somit vor dem Prinzen in Sicherheit bringen will, betreibt Marinelli (im Sinne des Prinzen) eine Verbringung Emilias zu einem Untergebenen des Prinzen und somit in die adelige "Lasterhölle", die dem Prinzen endgültigen Zugriff auf die junge Frau ermöglicht.
Es entsteht der Eindruck, dass eine Verbringung inn die adelige "Lasterhölle" für Emilia keinen Ausweg mehr bietet. Sie selbst ist jedenfalls sicher, dass sie dort ihre bürgerlichen Tugenden nicht bewahren kann und wählt daher den Freitod. Wird berücksichtigt, dass damals der Freitod eine schwere Sünde war, so könnte das, neben der antiken Vorlage für die Geschichte, der Grund dafür sein, dass ihr Vater sie letztlich tötet. Dadurch, dass er sie auf ihren Wunsch hin tötet, wird er auch entlastet, zudem wird auch eine Deutung der Szene verhindern, dass der Vater seine Moralvorstellungen einfach durchsetzt und dabei den Willen und die Wünsche seiner Tochter missachtet. (Eigentlich eine sehr geschickte Lösung, mit der es Lessing gelingt, hier einige Klippen zu umschiffen.)
Am Ende steht die Anklage gegen den "ruchlosen" Adel, der an allem Schuld ist. Das wird noch dadurch verstärkt, dass der Prinz zwar das Geschehene zu bedauern scheint, aber die Schuld auf seine Vertrauten abschiebt.
Mit Blick auf das 18. und 19. Jahrhundert ist das eine weitere Abwertung des Prinzen. Im Rahmen des in einem Bühnenstück damals Üblichen wäre es auch möglich gewesen, ihn, zumindest verbal, für das Geschehene die Verantwortung übernehmen zu lassen und ihm somit doch ein gewisses Format zeigen zu lassen.
Da Lessing aber (wie z. B. auch Shakespeare) ein ausgezeichneter Dramatiker ist, ist in dem Stück einiges an zusätzlichen Deutungsmöglichkeiten angelegt, dass bei einer szenischen Aufführung für Untertöne genutzt werden kann.
Das betrifft vor allem die Figuren des Prinzen und der Emilia. Sicher, zwischen dem Prinzen und ihr gibt es keine Liebesbeziehung, doch die Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche, von der sie ihrer Mutter im zweiten Akt berichtet und die also hinter die Kulissen verlegt ist und nicht gezeigt wird, lässt Raum für Deutungen zu. Hat der Prinz sie belästigt und "bedroht" oder ist sie vor allem deswegen so erregt, weil sie seine "Zudringlichkeiten" durchaus angesprochen haben? Davon ausgehend, stellt sich die Frage, ob ihre Entscheidung für den Tod nicht auch damit zusammenhängt, weil sie den Prinzen eigentlich ganz attraktiv findet und daher fürchtet, ihm in der "Lasthölle" der Residenz und ohne direkten Schutz durch ihr "bürgerliches Heim" nichts mehr entgegen setzen zu können. (Obwohl der Roman "Clarissa" von Richardson, den Lessing sicher gekannt haben wird, zumindest in der Fiktion die Wehrlosigkeit einer wirklich tugendhaften Heldin in der Gewalt des Verführers doch sehr eindringlich vermittelt.)
Daneben lassen sich auch, trotz einer negativen Zeichnung, in der Figur des Prinzen gewisse Ansätze dafür finden lassen, dass er für Emilia selbst vielleicht doch mehr empfindet als pure Lust oder kindische Besitzwünsche, auch wenn er ihr gegenüber keine moralisch-redlichen Absichten hat.