Scheiben-Glauben: Eine moderne Erfindung!
Glaubte man im Mittelalter an eine scheibenförmige Erde?
Es ist eine immer wieder zu hörende Ansicht, im Mittelalter habe man geglaubt, daß die Erde eine Scheibe sei, und insbesondere die Kirche habe dies gelehrt und sogar Leute verbrannt, die anderer Auffassung waren.
Einen derartige Kirchenlehre hat es aber nicht gegeben. Die Kirche behauptete wohl, in Anlehnung an die Lehre des Griechen Ptolemäus, daß die Erde in der Mitte des Weltalls stehe, aber daß sie eine Kugel ist, gehörte zum ptolemäischen Weltmodell und war Allgemeinwissen.
Griechische Wissenschaftler hatten schon in vorchristlicher Zeit nicht nur den Nachweis geführt, daß die Erde eine Kugel ist, sondern sogar ihren Umfang gemessen. Von Aristoteles etwa gibt es eine Schrift, in der er darlegt, woran man die Kugelgestalt der Erde erkennt. Aristoteles galt in der Kirchenlehre des Mittelalters als grundlegende Autorität in naturkundlichen Fragen.
Im vor-mittelalterlichen Christentum des 1. bis 6. Jahrhunderts hat es einige wenige Autoren gegeben, die eine Scheibengestalt der Erde vertraten. Nach dem 6. Jahrhundert wird in einer Fülle von Quellen von der Erdkugel gesprochen.
Die Scheiben-Thematik wird typischerweise mit zwei anderen Themen vermischt, mit denen sie historisch nichts zu tun hat:
Über Kolumbus wird gelegentlich behauptet, er habe "bewiesen", daß die Erde eine Kugel ist, und die Seeleute seiner Zeit hätten gefürchtet, mit ihren Schiffen am Rand der Erdscheibe herunterzufallen. Doch das war für Kolumbus und seine Zeitgenossen gar kein Thema. Die Meinungsverschiedenheiten betrafen nur den Umfang der Erdkugel. Kolumbus' Rechnung war falsch, er schätzte den Erdumfang zu kurz ein. Das machte ihm Mut, die lange Fahrt nach "Indien" zu wagen. Bewiesen hat er höchstens, daß man den Atlantik mit dem Schiff überqueren kann.
Galilei, so wird gesagt, hätte gelehrt, daß die Erde eine Kugel ist, und sei deshalb von der Kirche verfolgt worden. Bei dem Streit zwischen Galilei und der Kirche ging es aber nicht um die Form der Erde, sondern um die Frage, ob die Erde um die Sonne kreist oder die Sonne um die Erde.
Das Gerücht, daß man sich im Mittelalter die Erde als Scheibe vorgestellt hätte, stammt aus moderner Zeit. Der amerikanische Historiker J.B. Russell hat seine Herkunft erforscht. Sein Ergebnis ist: Vor etwa 1830 glaubte niemand, daß die Menschen des Mittelalters sich die Erde als Scheibe vorgestellt hätten. Die Urheber der Scheibenlegende waren Autoren, denen es darum ging, die Christen als Dummköpfe hinzustellen.
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Quellen:
1.
Rudolf Simek
Kugel oder Scheibe?
Das Bild von der Erde im Mittelalter
Zitat: Hartnäckig hält sich die Vostellung, vor Beginn der Neuzeit sei die Erde als scheibenförmig angesehen worden - ein Mythos. Denn dass die Welt "ront ist" wie "ein appel", war im Mittelalter allgemeines Gedankengut.
in: Spektrum der Wissenschaft
Sonderheft Spezial 2/2002
Forschung und Technik im Mittelalter
http://www.wissenschaft-online.de/artikel/604748&template=d_sonderhefte_detail
2.
http://www.geo.de/GEO/kultur_gesell...talt/index.html?linkref=geode_suche&q=scheibe
Interview mit Rudolf Simek, Skandinavist an der Uni Bonn
GEO: Herr Professor Simek, wie kommen Sie dazu, die Lehrmeinung anzuzweifeln, dass für die Menschen im Mittelalter die Erde flach gewesen sei?
Rudolf Simek: Als ich meine Habilitationsschrift über "Altnordische Kosmographie" schrieb, ging auch ich von dieser gängigen Überzeugung aus. Nur: Bei allem Bemühen fand ich keine einzige Quelle, nach der die Erde nicht als kugelrund galt. Das hieß: Entweder waren die zuweilen als rückständig verschrieenen Skandinavier der restlichen Welt weit voraus, oder etwas war faul an unserer Schulweisheit. ...
3.
http://homepage.mac.com/kvmagruder/flat_earth.htm
Hier geht es um das bekannte Bild, auf dem ein Wanderer den Rand der Erdscheibe erreicht hat und durch die Halbkugel des Himmelsgewölbes hindurchkriecht, um in die jenseitigen Sphären zu schauen. Gern wird das Bild gebraucht, um "mittelalterliches Denken" zu veranschaulichen. Die älteste Quelle, in der dieses Bild nachzuweisen ist, stammt aus dem Jahre 1888.
4.
http://home.t-online.de/home/fiksleer/columbus/seiten/weltbild.html
Das Weltbild des Columbus
Columbus und der Globus. Das Gemälde ist von Emile Lassalle (1839). Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass Columbus 1492 mit seiner Entdeckungsfahrt nach Amerika die Kugelgestalt der Erde bewiesen und damit der Vorstellung, die Erde sei eine Scheibe, ein Ende gemacht habe.
5.
http://www.stephan-selle.de/Lesefruchte/Kolumbus/Kolumbus_2/kolumbus_2.html
"Kolumbus entdeckte Amerika aufgrund eines gravierenden, aber glücklichen Fehlers: Er dachte, die Erde sei viel kleiner als in Wirklichkeit, und überquerte daher den Atlantik, um erst Japan und dann China zu erreichen."
Zitat aus:
Frederico di Trocchio
Newtons Koffer. Querdenker und ihre Umwege
Reinbek 2001
6.
Jeffrey Burton Russell
Inventing the Flat Earth
Columbus and modern historians
1991 Praeger, New York / Westport / London
7.
http://www.id.ucsb.edu/fscf/library/RUSSELL/FlatEarth.html
Russells Webseite
8.
http://www.ethicalatheist.com/docs/flat_earth_myth.html
Diese Abhandlung entstand in kritischer Auseinandersetzung mit J.B. Russells Buch. Ursprünglich haben die Autoren der Kirche des Mittelalters auch die Scheibenlehre unterstellt und Russells Thesen zurückgewiesen. In der neuen Version der Arbeit bekennen sie nun, zu eng gedacht und sich geirrt zu haben.
Mit umfangreichem Quellenverzeichnis.
9.
http://www.fortunecity.de/lindenpark/schwitters/149/arenosus_globus.html
ZUR ARCHÄOLOGIE DES GLOBALEN RAUMBEWUSSTSEINS
- Erdkugelvorstellungen in Literatur, Philosophie, Kunst, Musik und Kosmologie von Antike und Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert -
In diesem Aufsatz gibt Reinhard Krüger einen detaillierten Abriß der mittelalterlichen Vorstellung von der Erde als Ganzheit und von ihrer Kugelgestalt - es gab bereits eine Form von globalem Bewußtsein.
"...Die verzerrenden Vorstellungen vom mittelalterlichen Raumbewußtsein kumulieren in der These, daß man im Mittelalter der Überzeugung war, die Erde weise die Gestalt einer Scheibe auf. Nichts davon trifft zu. Vielmehr handelt es sich bei dieser Vorstellung um ein wissenschaftsgeschichtliches Gerücht..."
10.
http://www.uni-frankfurt.de/fb10/romsem/katalanistik/zfk11-98.html
Auf dieser Seite befindet sich u.a. der Aufsatz von Reinhard Krüger:
Kosmologisches Wissen, das Konzept des Universums und die Kugelgestalt der Erde bei Ramon Llull (1232-1316)
Hiervon bes. intersssant in Abschnitt 1:
"Die Namensliste derer, von denen aus Spätantike und Mittelalter schriftliche Quellen über die Kugelgestalt der Erde erhalten sind, kommt einer Lektüreliste der wichtigsten Exponenten der mittelalterlichen Philosophie und mehr noch, der wichtigsten Exponenten der frühen und mittelalterlichen Kirche und Theologie gleich: Ambrosius von Mailand, Basilius von Caesarea, Augustinus, Calcidius, Macrobius, Martianus Capella, Boethius, Cassiodor, Bischof Jornandes (oder Jordanes), Isidor von Sevilla, der Westgotenkönig Sisebut, der irische Mönch Dicuil, Bischof Virgil von Salzburg, Beda Venerabilis, Theodulf von Orléans, Hrabanus Maurus, Remigius von Auxerre [d.i. Rémy d'Auxerre], Erzpriester Leo aus Neapel, Notker der Deutsche von Sankt-Gallen, Gerbert d'Aurillac (Papst Sylvester II), Hermann der Lahme, Adam von Bremen, Guillaume de Conches, Pierre Abélard, Honorius Augustodunensis, Hildegard von Bingen, Abu-Idrisi, Bernardus Sylvester, Petrus Comestor, Thierry de Chartres, Gautier de Châtillon, Alexander Neckam, Alain de Lille, Ibn-Ru�d (Averroes), Mose ben Maimon (Maimonides), Lambert de Saint-Omer, Gervaise de Tilbury, Robert Grosseteste, Johannes de Sacrobosco, Thomas de Cantimpré, Gautier de Metz, Jean de Meung, Peire de Corbian, Vincent de Beauvais, Brunetto Latini, Alfonso el Sabio, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Robertus Anglicus, Juan Gil de Zámora, Perot de Garbelei, Berthold von Regensburg, Roger Bacon, Meister Eckehardt, Ristoro d'Arezzo, Marco Polo, Dante Alighieri, Cecco d'Ascoli, Brochard der Deutsche, Fazio degli Uberti, Jean de Mandeville, Konrad von Megenberg, Nicole Oresme, Geoffrey Chaucer, Christine de Pizan, Pierre d'Ailly, Alfonso de la Torre, Enea Silvio Piccolomini (Papst Pius II), William Caxton, Toscanelli, Martin Behaim, Christoph Columbus.(76) Nicht genannt sind hier die zahlreichen Urheber entsprechender bildlicher Erddarstellungen des Mittelalters.(77) Es fehlen hier ebenso die Mathematiker des Mittelalters, die sich mit der Kalenderberechnung und dem Gebrauch des Astrolabiums befaßt haben.(78) Ohne das Konzept von der Erdkugel hätten sie ihre Untersuchungen überhaupt nicht anstellen können."
In Abschnitt 8 bringt Krüger eine Passage aus dem Bericht des Asienreisenden Marco Polo, aus dem hervorgeht, wie selbstverständlich er und seine Reisegefährten von der Kugelgestalt der Erde ausgingen.
11.
Reinhard Krüger
Eine Welt ohne Amerika
Globusvorstellungen und europäisches Raumbewußtsein in den Kosmologien von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit.
Berlin-Verlag Arno Spitz, 1999
ISBN 3-87061-723-3.
Inhaltsverzeichnis ist online unter
http://www.fortunecity.de/lindenpark/schwitters/149/woa002.html
12.
http://www.uni-muenster.de/GeschichtePhilosophie/Geschichte/Lehre/kvue.htm
Aus dem Vorlesungsverzeichnis der Uni Münster im Fach Geschichte im WS 2003/2004, hier werden etliche Literaturtitel genannt.
13.
Hiob 26:7 Er breitet aus die Mitternacht über das Leere und hängt die Erde an nichts.
14.
http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~dx9/deaf9.htm
Was wir wissen:
"Im Abendland ist dagegen während der gleichen Zeit [d.h.im Mittelalter] so gut wie keine Entwicklung der Astronomie zu verzeichnen. Außerdem wurde die Erde längere Zeit wieder als Scheibe angesehen." (dtv-Atlas zur Astronomie 15)
Abbildung eines Menschen, der um die Erde geht; aus Image du monde, 1246
Diese Ansicht ist eine Wissenschaftslegende des 19. und 20. Jahrhunderts.
Was uns das Mittelalter sagt: Image du monde, Enzyklopädischer Text aus dem Jahre 1246 (Hs. Paris BN fr. 1548 f°14r°): homme qui va entour le monde (Begleittext zur Abbildung: Mensch, der um die Erde geht) Introductoire d'Astronomie, Astronomietraktat aus dem Jahre 1270. Kap. IV 2: et por ce fu li mondes en tel globosité (=forme de pelote) criez reonz que ce est la forme qui plus apartient a parfection quar en reondesce n'a ne fin ne commencement. (Und so wurde die Erde mit der Eigenschaft des Globus (in der Form einer Kugel) rund erschaffen, da das die Form ist, die am meisten der Perfektion nahekommt, denn bei der Rundheit gibt es weder Anfang noch Ende. [Ed. Stephen Dörr])
15.
http://www.haw.baden-wuerttemberg.de/extranet/scheibe.html
Zitat aus einem Vortrag von Dr. Stephen Dörr
Daß die Erde für den mittelalterlichen Menschen eine Scheibe war, ist ein Topos, der in der bildungsbürgerlichen Gesellschaft von heute weit verbreitet ist. Anhand von Beispielen (Abbildungen und Textstellen aus Enzyklopädien, Astronomietraktaten und aus schöngeistiger Literatur) möchte der Vortrag etwas Licht in unsere 'finstere' Kenntnis dieser Zeit bringen und sich zugleich mit der Frage beschäftigen, wie und wann dieser Wissenschaftsmythos entstanden ist.