Hat sich Iulius auch mit den völlig abweichenden Generationenangaben (25 vs 40) befasst?
Es ist Tatsache, dass Lukas' Stammbaum viel mehr Glieder in der 'Vorfahren-Kette' aufweist als Matthäus' Stammbaum es tut. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich Africanus die Frage gestellt hat, wie das zu erklären sei. Leider jedoch findet sich weder diese Frage noch eine Antwort darauf in den wenigen Fragmenten, die uns aus den Schriften des Africanus noch erhalten geblieben sind, explizit formuliert. So sehr wie ich der Meinung bin, dass sich Africanus diese Frage dennoch gestellt hat, so sehr bin ich auch der Überzeugung, dass sich Africanus' Antwort aus den überlieferten Fragmenten rekonstruieren lässt – freilich nicht mehr in jedem Detail, aber im Groben und Ganzen.
Ich fasse die Antwort vorab einmal zusammen: Aus den Fragmenten kann man ersehen, dass Africanus zum einen der Ansicht war, Matthäus habe in seinem Stammbaum mehrere Glieder der Generationen-Kette ausgelassen, und dass er zum anderen einer Tradition folgte, nach welcher Lukas hie und da nicht die Namen von Vater und Sohn hintereinander nenne, sondern die Namen von Brüdern (also einer Generation). Folglich nähert sich die Anzahl der Generationen in den beiden Evangelien wenigstens schon mal an. (Eine exakt gleiche Anzahl von Generationen in den beiden Generationenfolgen ist ja selbst für den historisch Denkenden nicht von Nöten, da theoretisch die eine Linie im Durchschnitt etwas später geheiratet u. gezeugt haben kann als die andere.) Generell scheint der Chronologe Africanus aber die von Lukas gelieferte Generationen-Anzahl für tendenziell historisch zutreffender zu halten, als die von Matthäus gelieferte Anzahl.
Ich will mein Ergebnis nun näher begründen, beziehe mich übrigens auf die Fragmenten-Sammlung
Iulius Africanus: Chronographiae. The Extant Fragments, hrsg. v. Martin Wallraff, Berlin u. a. 2007, auf das Werk
Gelzer, Heinrich: Sextus Julius Africanus und die byzantinische Chronographie, Leipzig 1898 sowie auf
Finegan, Jack: Handbook of Biblical Chronology, Rev. ed., 1998.
Matthäus bietet in seinem Geschlechtsregister Jesu für die Königszeit weitgehend die Namen der herrschenden Mitglieder des Herrscherhauses, also die Namen der Glieder der königlichen Linie. Er musste sich die Namen und die Verwandschaftsbeziehungen nicht mühsam aus den alttestamentl. Geschichtserzählungen zusammensuchen, sondern er konnte sehr praktisch auf alttestamentl. Listen wie die in 1. Chronik 3, 10ff zurückgreifen. Interessanterweise aber zählt die alttestamentl. Vorlage z. B. zwischen den Königen Joram und Jotam vier Namen auf, während Matthäus nur einen Namen zwischen Joram u. Jotam setzt. Matthäus hat also drei ausfallen lassen. Genau das fiel schon Africanus auf. Und Africanus urteilte laut Johannes Chrysostomus, dass Matthäus diese drei Könige nicht aufführte, weil - „for it is customary of Scripture“ - sie es wegen ihrer Sittenlosigkeit („extreme impiety“) nicht wert waren, aufgeführt zu werden. Ob dies für den Evangelisten, der ja auch andere 'gottlose' Könige in seine Auflistung aufnahm, tatsächlich ein Kriterium war, sei dahingestellt. Jedenfalls geht Africanus, der mit den Listen des AT's vergleicht, davon aus, dass Matthäus in seiner Liste einige Generationen auslässt (natürlich ohne dass Matthäus dabei die korrekte Familien-Linie verlassen würde).
Andererseits stützt sich Africanus laut Gregorius Barhebraeus auf „Hebrew genealogists“, wenn er der Ansicht ist, dass die bei Lukas aufeinanderfolgenden Männer Levi, Matthat und Heli nicht wie Lukas suggeriere, Großvater, Vater und Sohn seien, sondern Brüder. Alle drei seien Söhne des Melchi und alle drei seien nacheinander kinderlos mit derselben Frau verheiratet gewesen - Stichwort 'Schwagerehe'. Darum nennt Africanus den Melchi in seinem Brief an Aristides auch den Großvater des Joseph und nicht den Ur-Urgroßvater. Wem das allmählich zu viel 'Schwagerehe' wird, der sei darauf hingewiesen, dass sich aus Lukas 20, 27ff schließen lässt, dass das Gesetz der Schwagerehe von den frommen Juden um die Zeitenwende durchaus beobachtet wurde und zumindest so häufig Anwendung fand, dass die Sadduzäer darüber angeregt debattierten. Jene „Hebrew genealogists“ übrigens werden die „Herrenverwandten“ sein, auf deren genealogische Überlieferungen sich Africanus auch im Brief an Aristides beruft. Bevor man an diesem Punkte über Africanus spöttisch die Nase rümpft, sollte man sich Folgendes bewusst machen: Unter den frühen Judenchristen Palästinas hatten die bekehrten Verwandten Jesu einen ganz besonderen Rang. Z. B. waren die ersten beiden Vorsteher der judenchristlichen Gemeinde zu Jerusalem (nach den Aposteln Petrus und Johannes) der „Herrenbruder“ Jakobus d. Gerechte und der Vetter Jesu Symeon. Hegesippus berichtet von unter den Christen angesehenen Herrenverwandten noch zur Zeit Domitians. Es ist m. E. stark anzunehmen, dass sich jene Herrenverwandten tatsächlich (wie andere Juden auch) eingehend mit der Genealogie ihres Geschlechts beschäftigten. Dass man in Palästina im weitesten Sinne Familien-Überlieferungen zum Stammbaum Jesu antreffen konnte, ist überhaupt nicht unwahrscheinlich. Und dass ein echt historisch forschender, christlicher Chronologe und Genealoge wie Africanus, der zeitweilig in Emmaus-Nicopolis lebte, solche Überlieferungen aufspürte, ist nicht unglaubhaft. Damit will ich freilich nicht über die historische Zuverlässigkeit jener Überlieferungen urteilen, sondern nur sagen, dass Africanus seine Leser mit seiner Berufung auf die Überlieferung der Herrenverwandten nicht getäuscht haben muss.
Dass Africanus als historisch denkender Chronologe imgrunde sogar davon ausgehen musste, dass Matthäus die Reihe der Generationen nicht vollständig liefere, macht auch die folgende Überlegung deutlich: Die Stammbäume des Matthäus und des Lukas 'kreuzen' sich zwischenzeitlich bei Schealtiel und Serubbabel. Beide Stammbäume führen diese beiden Männer auf – für den Chronologen also ein guter Vergleichspunkt. Serubbabel wurde im babylonischen Exil geboren (wie es zum einen schon seine Name lehrt, zum anderen aber auch Stellen wie 1. Chronik 3, 17f u. Neh. 7, 7 zu verstehen geben). Nehmen wir einfach mal die Mitte des siebzigjährigen Exils an, so wäre Serubbabel im Jahr 4907 der Weltära des Africanus geboren worden (denn nach Africanus endete das Exil im Jahr 4942/4943). Jesus ist nach Africanus im Jahr 5500 oder 5501 der Weltära geboren worden. Die Geburt des Serubbabel und die Geburt Jesu trennen also nach Africanus 593/594 Jahre (Nach heutigem Ermessen sind es eher ca. 570 Jahre von der Mitte des babylonischen Exils bis zur Geburt Jesu). Diese 'Africanische' Zeitspanne füllen laut dem Matthäusevangelium nur 11 Generationen. Somit hätten die Väter der Matthäus-Liste ihren Stammhalter im Durchschnitt erst im Alter von etwa 54 Jahren erzeugt – zum Vergleich: bei Lukas im Alter von ca. 30 Jahren (bzw. wenn man mit Africanus die Generationen Levi u. Matthat ausschließt, im Alter von 33 Jahren). Für Africanus musste also nach der Empire die aus Lukas zu ermittelnde Generationen-Anzahl näher an der historischen Wahrheit liegen als die aus Matthäus ersichtliche. Folglich hat Matthäus gemäß biblisch-jüdischer Gewohnheit nicht ausnahmslos alle Generationen aufgezählt.
So in etwa möchte ich Africanus' Umgang mit den abweichenden Generationen-Anzahlen bei Matthäus und Lukas rekonstruieren.
So sehr jeder frühe christliche Schriftsteller irgendwo auch immer christlicher Apologet war, so sehr fällt bei Africanus doch andererseits auch ein für seine Zeit durchaus bemerkenswerter quellenkritischer und historisch-nüchternder Umgang mit den Evangelien auf.