Wir diskutieren ja über meinen Satz
"Viele abenteuerliche Konstruktion sind möglich. Deswegen sind sie noch lange nicht historisch wahrscheinlich."
Ich plädiere dafür, diejenige Hypothese als wahrscheinlich zu nehmen, die am wenigsten zusätzliche Hypothesen benötigen. (Ockhams Rasiermesser)
Ich kenne mich zugegebenermaßen nicht gut mit methodischer Quellenkritik aus. Aber kann die Anzahl der benötigten Hypothesen das entscheidende Kriterium sein?
Wenn sich die Aussagen zweier Quellen in einem bestimmten Punkt (hier also zwei unterschiedl. Stammbäume ein und derselben Person) unterscheiden, bedarf es immer nur eines einzigen Schritts anzunehmen, mindestens eine der Aussagen sei historisch falsch (oder eben beide). Das ist immer das einfachste. Einer Quellenaussage Historizität abzusprechen, ist immer nur eine einzige Hypothese, die keiner weiteren bedarf.
Ich sehe es allerdings geradezu als unsere Pflicht an, erst einmal zu überlegen, ob und wie nicht beide Aussagen einen jeweils anderen Aspekt der historischen Wirklichkeit wiedergeben können und sich als gegenseitige Ergänzung begreifen lassen. Das ist immer komplizierter und braucht mehrere Argumentationsschritte und oft auch mehrere Folgehypothesen. Am Ende kann dann zwar nicht die Gewissheit „So war es!“ stehen, aber unter Umständen das Ergebnis „So kann es gewesen sein!“, unter diesen und jenen Voraussetzungen haben beide Quellen eine historisch korrekte Aussage gemacht. Solch ein hypothetisches Ergebnis sollte m. E. unbedingt neben der Hypothese, dass die Quellen ganz einfach historisch Falsches aussagen, stehen gelassen werden.
Ich persönlich versuche generell beim Umgang mit antiken Quellen folgendes zu beherzigen: Ich versuche, den Quellenaussagen so weit und so lange historischen Glauben zu schenken, wie es sich mit anderen Quellen und der historischen Plausibilität irgendwie verträgt. Erst da, wo sich eine Quellenaussage mit dem Genannten gar nicht mehr aussöhnen lässt, lasse ich diese Quellenaussage fallen, nehme erst mal einen unbewussten Irrtum an und, wenn auch das nicht mehr hinhaut, eine bewusste Falschaussage. Ich scheue irgendwie davor zurück, Quellenaussagen zu früh der Unrichtigkeit zu bezichtigen. Denn ich denke mir immer, dass jene antiken Verfasser näher am Geschehen dran und wahrscheinlich vertrauter mit Zeit und Umständen waren, als wir es heute sind.
Ich will mich aber auch noch zu Deinem Beitrag #51 äußern:
Ein "Existenzrecht"?
Jetzt muss ich nochmal fragen, wie Du Dir das frühe Christentum eigentlich vorstellst.
Angenommen, es gibt da eine Gemeinde, die den Matthäus schätzt und im Gottesdienst verliest. Meinst Du, die klopfen jede Aussage darauf ab, ob sie auch quellenmäßig einwandfrei belegt ist? Und wenn nicht, spricht man dem Satz das Existenzrecht ab und streicht ihn?
Wie habe ich's mir denn vorzustellen?
Ich schreibe Dir, wie ich mir das frühe Christentum in der von uns diskutierten Hinsicht vorstelle, und hoffe, dass Du dann Deine Vorstellungen zum frühen Christentum formulierst.
Dass die später kanonisch gewordenen Evangelien so einen Erfolg im frühen Christentum hatten, führe ich im Wesentlichen auf ihren Inhalt zurück: das Leben und die Botschaft Jesu Christi. Daraus schließe ich, dass man sich im frühen Christentum unter anderem für das Leben Jesu und die Person durchaus stark interessierte. Daraus folgere ich, dass, wenn solch ein Interesse im frühen Christentum breitflächig bestand, sich mehr Christen auf die Suche nach Überlieferungen über Jesus machten als nur die Evangelien-Schreiber. Überlieferungen zu Jesus? An dieser Stelle arbeite ich jetzt mit einer Prämisse: Es sollten möglichst nicht irgendwelche der reinen Phantasie entsprungenen Geschichten über einen Jesus sein, sondern man suchte möglichst nach vertrauenswürdigen Überlieferungen über den Jesus, an den man glaubte. Wo bekam man vertrauenswürdige Überlieferungen zu Jesus her? Im besten Fall natürlich von den Aposteln, anderen Augenzeugen und den bekehrten Herrenverwandten oder ansonsten eben von Christen, welche diesen begegnet waren und die von den Augenzeugen und Herrenverwandten über Jesus unterrichtet worden waren. Ich denke, dass diese Prämisse eine historisch plausible ist.
Des weiteren kann ich mir die einzelnen Christengemeinden und die einzelnen Christen nicht als völlig isoliert vorstellen. Es fand ein Austausch zwischen den christlichen Gemeinden der Städte statt (schon alleine mittels Wanderprediger und umherreisenden Missionaren, mittels christlichen Händlern und Reisenden, womöglich hin und wieder auch mittels kleiner Gesandtschaften), vor allem, wo machbar, auch ein Austausch mit der Jerusalemer Gemeinde. Paulus z. B. suchte bei aller Skepsis gegen judenchristliche Gesetzlichkeits-Tendenzen den Kontakt zu den Jerusalemern. Er wird in dieser Hinsicht nicht der einzige gewesen sein. Ein Informationsaustausch unter Mitgliedern einer Interessengemeinschaften über Städte und Provinzen hinweg dürfte im Römische Reich keine Besonderheit, sondern Normalität gewesen sein.
Ich gehe also einerseits davon aus, dass bei den frühen Christen Interesse und Bedarf an vertrauenswürdigen Überlieferungen zum Leben ihres Herrn bestand, und dass andererseits, solche Überlieferungen zwischen den Gemeinden ausgetauscht und in ihnen gesammelt wurden. Die vier Evangelien sind in meinen Augen Produkte solcher Sammlungs-Aktivitäten. In diesem Sinne sprach ich übrigens auch vom „Existenzrecht“ (ist zugegebenermaßen nicht die beste Vokabel); z. B. könnte das, was im Matthäusevangelium steht, die Forschungs- und Sammlungs-Ausbeute der Gemeinde oder der Gemeinden des „Matthäus“ hinsichtlich der Jesus-Überlieferungen gewesen sein.
Ich kann mir eben hingegen schwer vorstellen, dass in den Christengemeinden eigentlich niemand am Leben Jesu interessiert war und niemand versucht hatte, an Informationen aus erster Hand zu gelangen, und man sich erst begann, für das Thema zu interessieren, als einige wenige Evangelien-Schreiber plötzlich so spannende Evangelien herausbrachten, die halt ziemlich zufällig das Leben Jesu zum Thema hatten. Könnte ich mir das vorstellen, könnte ich mir auch vorstellen, dass die Evangelisten beim Erstellen des Stammbaums Jesu einfach ihrer Phantasie folgten (hätte ja dann keinen gestört und wäre auch nicht bemerkt worden). Ich persönlich finde das aber historisch unplausibel. Ich finde es viel plausibler, dass die vier Evangelien jenen hohen Rang unter den christlichen Schriften, den sie bald innehatten, deshalb einnehmen konnten, weil diese Evangelien jene Jesus-Überlieferungen gebündelt boten, die man in den jeweiligen Gemeinden ohnehin für vertrauenswürdig hielt. Das ist imgrunde wieder Einschätzungssache: Wieviel kreativen Spielraum in Bezug auf den Inhalt ihrer Werke haben die Evangelisten angesichts der Tatsache, dass ihre Werke in so vielen Gemeinden begrüßt worden sind, gehabt?
So, das war ein Einblick in meine „Vorstellungswelt“ hierzu. Nicht aufregen, mir ist bewusst, dass meine Sichtweise nicht die richtige sein muss. Wie sieht Deine aus, Sepiola?
Tut mir leid, aber Du nimmst die Aussagen der Quellen ziemlich selektiv "für voll".
Deine Quelle beginnt mit folgenden Worten:
Da Matthäus1*und Lukas2*uns auf verschiedene Weise in ihren Evangelien das Geschlechtsregister*[S. 38]*Christi überliefert haben und da die meisten glauben, daß sich dieselben widersprechen und alle Gläubigen sich in Unkenntnis der Wahrheit abmühen, eine Erklärung der Stellen ausfindig zu machen
BKV
Demnach haben sich die angeblichen Familienüberlieferungen in der Christenheit überhaupt nicht rumgesprochen. "Alle Gläubigen" kannten den Widerspruch, niemand hatte einen Plan, wie man den wegdiskutieren könnte.
Also ein generationenlang gehütetes Familiengeheimis?
Das erst Iulius Africanus gelüftet haben soll, 100 oder 150 Jahre nach Erscheinen der Evangelien?
Mir kommt das schon ein wenig abenteuerlich vor.
So sehr ich nicht ausschließen möchte, dass ich Quellen hie und da selektiv wahrnehme: In diesem Fall habe ich es nicht getan, sondern Du liest die Quelle ganz einfach in anachronistischer Weise. Eusebius (Anfang 4. Jh.) und die meisten seiner Zeitgenossen hatten keinen Plan, wie mit den Stammbäumen umzugehen sei. Das geht aus dem Zitat hervor, ja. Es geht aus Eusebius ebenfalls klar hervor, dass bereits zur Zeit des Africanus (Anfang 3. Jh.) unter vielen Christen Konfusion im Umgang mit den beiden Stammbäumen herrschte, ja. ABER damit macht Eusebius überhaupt keine Aussage (noch nicht mal eine indirekte) über die Zeit, in der die Evangelien abgefasst wurden. Zwischen dieser Zeit und Eusebius liegen mindestens 200-250 Jahre.
Dass der Großteil der Christen zu Africanus' und Eusebius' Zeiten nicht mehr wusste, wie die Unterschiedlichkeiten der beiden Stammbäume zu erklären waren, ist überhaupt nicht verwunderlich. Denn die judenchristlichen Gemeinden und Elemente i. d. Großkirche waren längst sehr viel stärker in den Hintergrund getreten als noch vor den beiden sog. Jüdischen Kriegen. Die Herrenverwandten hatten keine hervorragenden kirchl. Positionen mehr inne; die von ihnen tradierten Familienüberlieferungen waren zur Zeit des Africanus längst kein i. d. Kirche verbreitetes Wissen mehr.
Dass nun aber zu der Zeit eines Jakobus und eines Symeons die Situation eine andere war, muss man doch zwangsläufig annehmen. Es ist nicht glaubhaft, dass solche Verwandten Jesu nicht mit ziemlicher Bestimmtheit gewusst haben sollen, wer ihr Vater, ihre Mutter, ihr Onkel, ihre Tante, ihre Großväter und Großmütter, ihre Cousins und Cousinen usw. gewesen sind. Zum Stammbaum Jesu konnten sie ganz bestimmt Auskunft geben (verlässliche Auskunft wenigstens für die paar letzten Generationen). Warum sollte dieses genealogische Wissen nicht von der ersten Herrenverwandten-Generation an andere interessierte Christen und vor allem an die nächsten Herrenverwandten-Generationen weitergegeben worden sein? Und wenn sich nun Africanus bei diesen Nachkommen erkundigte – wie er selbst angibt -, dann kann er doch eine alte authentische Überlieferung wieder hervorgekramt und der Großkirche neu zugänglich gemacht haben.
Wenn das auch alles nicht zwangsläufig so gewesen sein muss, so halte ich es angesichts der Quellenlage doch für historisch gut nachvollziehbar und generell für historisch plausibel. Zumindest komme ich auf diese Weise aus, ohne den Quellen von vorneherein vorzuwerfen, ihre Aussagen seien historisch falsch. Was wir ja nicht wissen. Man sollte m. E. beide Möglichkeiten nebeneinander stehen lassen.