Sepiola
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Einen wichtigen Hinweis hat El Quijote schon gegeben:Ich schreibe Dir, wie ich mir das frühe Christentum in der von uns diskutierten Hinsicht vorstelle, und hoffe, dass Du dann Deine Vorstellungen zum frühen Christentum formulierst.
Dass die später kanonisch gewordenen Evangelien so einen Erfolg im frühen Christentum hatten, führe ich im Wesentlichen auf ihren Inhalt zurück: das Leben und die Botschaft Jesu Christi. Daraus schließe ich, dass man sich im frühen Christentum unter anderem für das Leben Jesu und die Person durchaus stark interessierte. Daraus folgere ich, dass, wenn solch ein Interesse im frühen Christentum breitflächig bestand, sich mehr Christen auf die Suche nach Überlieferungen über Jesus machten als nur die Evangelien-Schreiber.
Die ersten Christen rechneten fest damit, dass Christus bald wiederkommen würde. So schreibt z. B. Paulus: "Wir, die wir noch leben und bis zur Ankuft des Herrn am Leben bleiben..." (1 Thess 4,15). Aus dieser Sicht wäre es Unfug gewesen, sich mit historischen Aufzeichnungen zu beschäftigen. Wofür auch? Für die "Nachwelt"?
Doch die Jahre verstrichen. Irgendwann war die erste Generation am Aussterben. Da musste man sich wohl mit dem Gedanken vertraut machen, dass es vielleicht doch noch ein paar Generationen dauern könnte, bis Jesus wiederkommt.
Erst jetzt, wo Erinnerungen an den historischen Jesus fast nur noch aus zweiter Hand zu bekommen waren, wurden Aufzeichnungen nötig.
Daraus entstanden die Evangelien.
Die waren aber noch weit davon entfernt, "kanonisch" zu sein. Papias (ca. 60 - 140) hielt mündliche Informationen aus zweiter oder dritter Hand für wertvoller als Berichte aus Büchern:
BKVKam einer, der den Presbytern gefolgt war, dann erkundigte ich mich nach den Lehren der Presbyter und fragte: ‚Was sagte Andreas, was Petrus, was Philippus, was Thomas oder Jakobus, was Johannes oder Matthäus oder irgendein anderer von den Jüngern des Herrn? Und was sagen Aristion und der Presbyter Johannes, die Jünger des Herrn?’2 Denn ich war der Ansicht, daß aus Büchern geschöpfte Berichte für mich nicht denselben Wert haben können wie die Worte frischer, noch lebender Stimmen.
Um 170 entstand Tatians "Diatessaron", eine Zusammenfassung der vier gebräuchlichsten Evangelien. In syrischen Gemeinden wurde das lange anstatt der vier Evangelien im Gottesdienst benutzt.
Wir sehen daraus, dass die vier Evangelien zu der Zeit noch keine sakrosankten Texte waren.
Noch interessanter: Tatian hat sich bemüht Unstimmigkeiten zwischen den vier Evangelien auszugleichen. Einige Unstimmigkeiten hat er auch stehen gelassen. Was macht er mit den Stammbäumen bei Markus und Lukas? Er lässt alle beide weg. Also hatte schon Tatian keinen Plan, wie die Stammbäume unter einen Hut zu bringen waren.
Wenn Deine Prämissen stimmen, ist die Frage doch:Warum sollte dieses genealogische Wissen nicht von der ersten Herrenverwandten-Generation an andere interessierte Christen und vor allem an die nächsten Herrenverwandten-Generationen weitergegeben worden sein?
Warum ist es nicht weitergegeben worden?
Warum hat niemand das Matthäus- oder Lukas-Evangelium oder beide mit einer kleinen Erweiterung/Korrektur versehen? Warum hat man diese offenkundige Peinlichkeit stehen lassen, wenn es doch so einfach gewesen wäre, sie zu beseitigen?
Darauf habe ich schon mehrmals hingewiesen, El Quijote inzwischen auch. Du gehst dieser Frage jedesmal aus dem Weg.
Andersrum: Einen leicht auflösbaren Widerspruch hätte man auch leicht beseitigen können.
Da hätte man doch leicht die Unstimmigkeit durch einen kleinen Hinweis ("Stiefvater") beseitigen können.
Die logische Konsequenz aus diesen Überlegungen ist noch einmal mehr die Frage: Warum sind die beiden Stammbäume dann so derart unterschiedlich!?!?