Jussen: Das Geschenk des Orestes - ein Angriff aufs MA (von einem Inhaber einer MA-Professur)

Clemens64

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Das ist ein interessentes Thema, auch wenn ich fürchte, dass ich dann doch nicht die Zeit dazu aufbringe, mich damit intensiv zu beschäftigen (und beispielsweise Ubl zu lesen). Hier nur ein Vorab-Zitat aus dem Buch "Das Geschenk des Orest" des Leibnizpreisträgers Bernhard Jussen, das erst nächsten Monat bei Beck erscheint:
"Die neuen lateinischen Gesellschaften – allen voran die langlebigste, die sich «fränkisch» nannte – haben erhebliche Energie investiert in Institutionen und Lebensformen, die den ahnenorientierten Verwandtschaftsverband systematisch zerstört haben."
Dass in diesen von Jessen gesehenen Zusammenhang auch die Verbote von Verwandtenheiraten gehören, möchte ich stark vemuten, aber um das zu wissen, müsste man das Buch gelesen haben.

Bernhard Jussens "Das Geschenk des Orest" hab ich jetzt gelesen. Das ist schon ein bemerkenswertes Buch. Ich versuche mal kurz, wichtige Kernaussagen zum Teil mit meinen eigenen Worten zu skizzieren.

Im sechsten Jahrhundert vollzog sich im lateinischen Europa ein fundamentaler Wandel im Selbstverständnis der Menschen, und zwar in Bezug auf ihr Verwandtschafts- und ihr Sakralsystem: Die lateinische Kirche machte den im alten Rom vorherrschenden, an der Männerlinie orientierten Clanstrukturen (zumindest ideologisch) ein Ende. Der Einzelne findet seine Identität nicht mehr als Spross einer Ahnenreihe, die von ihm und seiner Familie am Ahnengrab jährlich gefeiert wird. Stattdessen übernimmt die Kirche den Umgang mit den Toten (so das Begräbnis und die Fürbitten); als einzelner muss der Mensch versuchen, sich die jenseitige Erlösung zu verdienen. Familienbande bleiben natürlich wichtig, aber nicht die Bande mit dem in der Vergangenheit verwurzelten Clan, sondern die Treue zum Gatten oder zur Gattin. Die Treue soll über den Tod hinaus bestandhalten, was den Vorstellungen der altrömischen Gesellschaft widerspricht, denn in der ging es ja um Fortsetzung der Ahnenreihe in die Zukunft, die durch Wiederheirat begünstigt wird. Die übersteigerten frühmittelalterlichen Inzestverbote sind nur eine Art von Instrument, das den Aufbau stabiler Clanstrukturen behindert. Jussen weist darauf hin, dass die allermeisten Familiendynastien des Frühmittelalters erst viel später als solche identifiziert wurden (die Agilolfinger wären da eine der Ausnahmen). Wer den Königstitel vom Vater erbte, tat das als Sohn, aber nicht als Angehöriger einer Dynastie. Stammbäume (die es, wie wir etwa von Livius und Hieronymus wissen, schon bei den alten Römern gegeben hatte, kamen erst wieder im 15. Jahrhundert in Gebrauch.

Letztlich unterscheidet sich der heutige Westen, wenn ich das Buch hier recht verstehe, von anderen Zivilisationen erst seit der Wendung der lateinischen Kirche gegen die Clansysteme. Jussens Darstellung baut auf schon etwas ältere Arbeiten der Ethnologie und Anthropologie auf. Untypisch für einen Historiker ist auch das Quellenmaterial: Es dominiert die Interpretation von zeittypischen Bildern anstelle von Texten.

Alles in allem fallen mir dazu schon etliche kritische Fragen ein und manche Positionen Jussens, etwa gegen die Verwendung des Begriffs Mittelalter, gefallen mir nicht. Aber ein Stück weit hat mich das Buch schon überzeugt.
 
Stammbäume (die es, wie wir etwa von Livius und Hieronymus wissen, schon bei den alten Römern gegeben hatte, kamen erst wieder im 15. Jahrhundert in Gebrauch.
Das stimmt nicht. Das Mittelalter kannte sehr wohl Stammbäume und zwar nicht bloß die Wurzel Jesse. Kann mir nicht vorstellen, dass Jussens das wirklich so schreibt.
 
Das stimmt nicht. Das Mittelalter kannte sehr wohl Stammbäume und zwar nicht bloß die Wurzel Jesse. Kann mir nicht vorstellen, dass Jussens das wirklich so schreibt.
Ein Stammbaum der Babenberger von 1491 wird "eine der frühesten Darstellungen einer tatsächlichen historischen Familie" genannt (S.298). Ein Welfenstammbaum aus dem späten 12. Jahrhundert wird als "eigenwilliges, isoliertes Produkt eines klösterlichen Erfinders oder einer betroffenen Familie" angesprochen (S.303). (Teil der vielen Bildinterpretationen in dem Buch ist auch immer die Aussage darüber, wie typisch das Bild für die Zeit gewesen ist.) Ansonsten gab es laut Jussen Grafiken, die den Zweck hatten, Inzestverbotsüberschreitungen zu erkennen: "Den Ahnenverband verhindern - Grafiken verbotener Ehen" (S.306). Die Jesse-Stammbäume werden auch erwähnt. Sie hätten keinen Bezug zur eigenen Sozislordnung gehabt (S.311).
 
Daas wäre dann vielleicht die von Jussen erwähnte Ausnahme (die natürlich nicht die einzige sein muss). Um zu beurteilen, ob etwas untypisch ist, braucht man natürlich einen guten Überblick über die gesamte Literatur. Die von mir oben genannte Erwähnung von altrömischen Stammbäumen findet sich laut Jussen übrigens nicht bei Hieronymus und Livius, sondern bei Hieronymus und Plinius dem Älteren, fällt mir gerade auf.
 
Stammbäume finden sich im Mittelalter durchaus - egal welcher Zweck ihnen zugeschrieben wird. Und auch die Wirksamkeit von Sippen kann bis ins Hochmittelalter hinein nicht bestritten werden. Ja, es ist geradezu das Instrument, den Adel einzuteilen. Erst dann werden die Familien mit der Abfolge vom Vater auf den Sohn bedeutender, während das Bewusstsein für die Sippe langsam, in einer Entwicklung bis in die Neuzeit hinein, schwindet. Der Hintergrund waren wirtschaftliche und machtpolitische Vorteile: Erblichkeit von Lehen und Position konnten durchgesetzt werden. Zuvor 'verteilte' die Sippe 'ihre' Positionen und Einkünfte auf die Angehörigen, was natürlich Herrschern die Gelegenheit gab, so etwas zu hintertreiben. Bei den Billungern ist es gründlich daneben gegangen, während die Besitzungen der mit den Ottonen versippten Immedinger gespalten und teils dem Interesse des Herrschers unterworfen werden konnte..

Die römische Gens und die mittelalterliche Sippe hingen im Gegensatz zur Familie eben nicht an der strikten Abfolge. Auch die Seitenlinien gehörten dazu und Heiraten schufen ganze Sippenverbände. Genauso stark war auch der Narrativ, der durchaus zwei Sippen zu einer vereinigen oder eine an einem Punkt beginnen oder aufspalten lassen konnte. Auch dieser Narrativ kommt in Stammbäumen zum Ausdruck. Bei den Immedingern wird vermutet, dass sie eigentlich die Widukind-Sippe sind, sich aber lieber auf einen heiligen Verwandten beriefen, ohne das Bewusstsein der Verwandtschaft zum Sachsenherzog aufzugeben. Das erlaubte den großen sächsischen Sippen dann, da Widukind von niemandem exklusiv beansprucht wurde, Beziehungen zu ihm als Möglichkeit eines Zusammenhalts der sächsischen Oberschicht zu benutzen. Wenn denn die Vermutung stimmt. Und bei den Liudolfingern scheint es eine Abspaltung von den Ekbertinern gegeben zu haben.

Da wird ein Aspekt, die Zurückdrängung des Ahnenkults übertrieben. Und schauen wir uns die Chronologie an: Erste Hinweise auf Auflösung des römischen Namenssystems und der Gentes finden sich schon vor Christi Geburt, was sich dann in der Kaiserzeit massiv verstärkt. Was die Gentes angeht, handeln schon während der römischen Revolution eher Angehörige von Familien, erscheinen die Zweige als emanzipiert, während die Gens in der jeweiligen Legende noch im Vordergrund steht. Einer Legende, die da schon durch die Geschichtsschreibung entzaubert ist.

Dann propagiert die Kirche doch gerade, auch weitere familiäre Bindungen nicht zu vergessen. Das widerspricht der These.
 
Dass die altrömischen gentes schon im Kaiserreich keine große Rolle mehr spielten oder gar nicht mehr existierten, ist mir auch als Einwand in den Sinn gekommen.
Was das Mittelalter betrifft: Es ist doch erst mal interessant, dass Leute, die eine Ahnung haben, offensichtlich über ein so wichtiges Thema wie der Bedeutung von Sippen zu völlig unterschiedlichen Aussagen kommen.
Ein möglicher erster Test: Wann bekamen denn die verschiedenen Königs- oder Kaiserdynastien im Frühen und Hohen Mittelalter ihre Namen, als Karolinger, Otton en, Salier, Staufer, Habsburger? Vielleicht erst im Rückblick?
 
Jussen meint, dass sich die Menschen als Kinder ihrer Eltern oder Neffen ihrer Tanten sahen, gerade bei Erbstreitigkeiten, aber nicht als Abkömmlinge einer langen Reihe verehrenswerter Ahnen.
Natürlich kann man sich vorstellen, dass der Ahnengedanke in den adeligen Eliten lebendig war, aber eben keinen großen Eingang in Bild und Schrift fand, weil die Medien von der Kirche dominiert wurden. Allerdings haben Vorstellungen, die nur mündlich weitergegeben werden können, in einer Gesellschsft, die Bild und Schrift doch kennt, auf Dauer vermutlich einen schweren Stand.
 
Daas wäre dann vielleicht die von Jussen erwähnte Ausnahme (die natürlich nicht die einzige sein muss). Um zu beurteilen, ob etwas untypisch ist, braucht man natürlich einen guten Überblick über die gesamte Literatur. Die von mir oben genannte Erwähnung von altrömischen Stammbäumen findet sich laut Jussen übrigens nicht bei Hieronymus und Livius, sondern bei Hieronymus und Plinius dem Älteren, fällt mir gerade auf.
Wir haben im Proseminar vor 25 Jahren zu den Karolingern im wissenschaftspropädeutischen Teil Stammbäume der Karolinger behandelt.
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Im Frühmittelalter stellen wir ja gerade fest, dass der Ahnen gedacht wird. Widukind, Ida von Herzfeld, Merowech und bei den Welfen gibt es gar eine Herkunftssage. Angelsächsische und Nordische Königssippen führten sich auf heidnische Götter zurück. Und die Karolinger, eigentlich Pippiniden, gedachten genauso der angeheirateten Arnulfinger samt Heiligem Arnulf. Hinweise auf dessen Vorfahren sind allenfalls vage. Wie bei anderen Heiligen als Spitzenahn. Besser ging es ja - christlich betrachtet - gar nicht.

Bei der vermuteten Abspaltung der Liudolfinger von den Ekbertinern muss schon etwas vorgefallen sein, dass auf Ida von Herzfeld als Ahnin verzichtet wurde. Der Vorwurf, dass sich die Liudolfinger nicht um die Gräber von Ekbert und Ida kümmern ist denn auch der gewichtigste Hinweis auf diese Abspaltung.

Bei dem Thema ist natürlich zu Bedenken, dass Historiker gerne nach dem historischen Sprachgebrauch von römischen Gentes oder frühmittelalterlichen Sippen sprechen und diese als singuläre Phänomene betrachten. In der Ethnologie wird dabei von Klan (engl. Clan) gesprochen und kindred (Verwandtschaftsnetzwerk) und lineage (Abstammungslinie) unterschieden. Im Mittelalter ist beides relevant, nicht nur der gemeinsame Spitzenahn, sondern auch die stammesrechtliche Regelung, wie weit die Sippe und damit der Sippenfriede reicht. Es steht immer die konkrete Ausformung neben idealen Definitionen.

Aufgrund der Nazi-Ideologie musste der Begriff Sippe auch wieder zurecht gestutzt werden und ist für manche auch heute noch ein rotes Tuch. In den 60ern wurde diskutiert, ob die frühmittelalterliche Sippe nicht überhaupt eine Erfindung der Geschichtswissenschaft war. Denn abgesehen von der besonderen Friedenspflicht lässt sich keine Institution feststellen. Allerdings entspräche das auch nicht dem Denken der Vergangenheit. Wir dürfen nicht verlangen, dass eine Erscheinung unseren Begriffen entspricht, sondern müssen die Beobachtung akzeptieren.

"Es gibt keinen Zweifel, daß die Sippe kein Verband im Sinne einer juristischen Person gewesen ist, wohl aber eine Personengemeinschaft, die man ihres rechtlichen Zusammenhangs nicht gänzlich entkleiden kann. Wir verstehen daher unter einer Sippe einen Kreis von Blutsverwandten, der sich durch Sippenbewußtsein und Zusammengehörigkeitsgefühl verbunden wußte und daher durchaus als Personenverband im mittelalterlichen Sinne aufzufassen ist." schließt Hans K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 2, Stuttgart 2000, S. 35 das Kapitel zum Phänomen.

Da ist natürlich angelegt, dass das Thema unterschiedlich beurteilt wird.

(In der deutschen Ethnologie wird Sippe auch für eine politische Organisationsform genutzt. Seit über 20 Jahren sieht man immer wieder Historiker in dies Fettnäpfchen tapsen: Tacitus bezeichnet die germanischen Ethnien als gentes. Naiv wird das mit Sippe übersetzt und mit der Sippe im Sinn der Politikethnologie gleichgesetzt und dann Blödsinn geschlossen. Dabei sind feste Funktionen überliefert, die nach derselben Theorie die politische Organisation eines Stammes ergeben.)

Wobei Jussen sicher recht hat, ist dass das Christentum durch die Gemeinden mit den Sippen als Ordnungsbegriff konkurrierte. Da ist aber zu berücksichtigen, dass sich unsere auf karolingische Zeit zurückgehende Siedlungsstruktur nicht daran hielt und viele Ortsnamen an Sippen erinnern sollen. Dennoch gab es eine neue Institution, um Solidarität zu begründen, die vorher nur durch Verwandtschaft und in geringerem Maße, in Rom gar nicht, durch den Stamm begründet war*.

Ich habe sein Buch dazu aber noch nicht gelesen und kann nicht sagen, was er meint und welche Begriffe er benutzt. Jussen ist kein Leichtgewicht bei dem Thema sozialer Strukturen, dennoch sehe ich allein schon den weiten Bogen über zig Kulturen als schwierig.

* Haus- und Hofgemeinschaft sowie Gastfreundschaft lasse ich mal der einfacheren Formulierung halber beiseite.
 
Ich habe sein Buch dazu aber noch nicht gelesen und kann nicht sagen, was er meint und welche Begriffe er benutzt.
Vielleicht noch mal als Appetithappen einige Originalsätze:
"Die Geschichte des lateinischen Europa bis etwa ins 15. Jahrhundert ist deshalb eine Geschichte der HORIZONTALEN Verwandtschaftsgruppen, zusammengesetzt aus den Verwandten BEIDER Ehepartner.. Unter solchen strukturellen Bedingungen war es sehr schwierig, generationenübergreifende Stabilität einer Verwandtengruppe - etwa zur Erhaltung einer lokalen oder regionalen Macht - zu erzielen. Diese vertikale Strukturschwäche der Verwandtschaft seit dem Ende der römischen Mittelmeerwelt dürfte der entscheidende Impuls gewesen sein für die permanent neue Hervorbringung neuer politischer und sozialer Institutionen im lateinischen Europa - Gilden, Stadtrepubliken, Universitäten."(Jussen, Geschenk des Orest, Seite 50)
 
Vielleicht noch mal als Appetithappen einige Originalsätze:
"Die Geschichte des lateinischen Europa bis etwa ins 15. Jahrhundert ist deshalb eine Geschichte der HORIZONTALEN Verwandtschaftsgruppen, zusammengesetzt aus den Verwandten BEIDER Ehepartner.. Unter solchen strukturellen Bedingungen war es sehr schwierig, generationenübergreifende Stabilität einer Verwandtengruppe - etwa zur Erhaltung einer lokalen oder regionalen Macht - zu erzielen. Diese vertikale Strukturschwäche der Verwandtschaft seit dem Ende der römischen Mittelmeerwelt dürfte der entscheidende Impuls gewesen sein für die permanent neue Hervorbringung neuer politischer und sozialer Institutionen im lateinischen Europa - Gilden, Stadtrepubliken, Universitäten."(Jussen, Geschenk des Orest, Seite 50)
Steile Behauptung.
 
Steile Behauptung.
Absolut. Und diesen Passus …
Unter solchen strukturellen Bedingungen war es sehr schwierig, generationenübergreifende Stabilität einer Verwandtengruppe - etwa zur Erhaltung einer lokalen oder regionalen Macht - zu erzielen.
… würde ich als geradezu im Widerspruch zur etablierten Geschichtsschreibung stehend bezeichnen. Sicherlich spielen horizontale Verwandtschaftsbeziehungen eine größere Rolle, als gerade die ältere Forschung ihnen zugestehen wollte, für die die Geschichte mittelalterlicher Herrschaftsausübung vor allem aus Vätern und Söhnen bestand. Aber dieses "sehr schwierig" Jussens steht im Kontrast zur starken familiären Kontinuität in praktisch den meisten politischen Einheiten Europas schon lange vor dem 15. Jahrhundert. Ob nun die Plantagenet in England, die kleinen Landadelsgeschlechter im Heiligen Römischen Reich oder die Patriziate der italienischen Stadtstaaten – langjährige, generationenübergreifende Stabilität ist mindestens seit dem Hochmittelalter die Regel in Europa, nicht die Ausnahme.
 
Der thread hat ja nun den "Angriff aufs Mittelalter" im Titel, gemeint ist auf die Epocheneinteilung in Antike, MA und Neuzeit. Der Angriff wird im letzten Buchkapitel geführt, mir scheint er kurios. Davor erfahren wir nämlich, jetzt ein bisschen holzschnitthaft, dass vor dem 6. Jahrhundert vertikale Verwandtschaftsgruppen dominierten und seit dem späten Mittelalter mit den adeligen Geschlechtern, die eigene Namen trugen und ihre Stammbäume malen ließen, auch wieder, und dass es in beiden Zeiträumen Staatswesen gab, in der Zeit dazwischen aber Staaten nicht exitierten und vertikale Verwandtschaftsgruppen kaum auszumachen sind. Die Zeiteinteilung bleibt also die gleiche, sie wird nur anders begründet, was kein Problem sein müsste, denn das Wort Mittelalter ist ja erst mal inhaltsneutral.
 
Absolut. Und diesen Passus …
… würde ich als geradezu im Widerspruch zur etablierten Geschichtsschreibung stehend bezeichnen.

Ja, im Mittelalter galt: je älter, desto besser. Nicht von ungefähr erfand sich Trier einen assyrischen Ahnherrn Trebetas, um älter als Rom zu sein.

denn das Wort Mittelalter ist ja erst mal inhaltsneutral.
Als Petrarca (der selber noch mit beiden Füßen im Mittelalter nach heutiger Lesart stand) das Wort im 14. Jhdt. erfand, meinte er es ziemlich despektierlich.

Bzgl. der Verwandtschaftsbande: Jussen wird wesentlich klüger sein als ich und sicher viel mehr über das MA (das nach seiner Meinung ja nicht existiert) wissen als ich, aber die Argumentation zu den Verwandtschaftsverhältnissen will mir nicht in den Kopf. Natürlich sind lebende Verwandte wichtig. Lebende Verwandte (horizontale Verwandtschaftsverhältnisse) sind - so widersprüchlich das sein mag - die natürlichsten Verbündeten und die ärgsten Feinde (in unzähligen Dynastien haben wir ja Aufstände gegen den Vater, Morde an Brüdern, Halbbrüdern und Couisins bzw. das Schmachten lassen des Neffen im englischen "Kerker"). Aber Herrschaftslegitimation - neben der faktischen Macht oder der beanspruchten Macht - waren immer die Vorfahren, also die vertikale Verwandschaftsschiene. Je älter der Herrschaftsanspruch desto edler. Die origo gentis (also etwa der fränkische Troja-Mythos) war ein Bestandteil vieler mittelalterlicher Geschichtswerke. Die Leitnamenkontinuität (Pippin, Karl, Arnulf; Otto, Heinrich) mag zwar manchmal wie ein Mangel an Kreativität in der Namensgebung wirken, hatte aber in der Tat eine Kommunikationsfunktion: Wir sind Familie, unsere Herrschaft ist legitmiert, weil wir zueinander gehören.
Natürlich konnte Karl der Große seinem Urenkel nicht mehr faktisch mit dem Heer zu Hilfe eilen, aber die Verwandtschaft zu Karl dem Großen legitimierte den Urenkel.

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OT: Wie ist das jetzt eigentlich, wenn ein Studierender an der Uni Frankfurt bei Professor Jussen als Prof. für MA-Geschichte einen Schein in Mittelalterlicher Geschichte machen will und Jussen sagt, das MA als Epochenbezeichnung sei abzuschaffen?
 
Das ist eigenartig, ja. Man könnte die These vielleicht auch noch von einer anderen Seite anfragen. Wenn es stimmen sollte, dass "HORIZONTALE[N] Verwandtschaftsgruppen, zusammengesetzt aus den Verwandten BEIDER Ehepartner [...] zu einer "vertikale[n] Strukturschwäche der Verwandtschaft seit dem Ende der römischen Mittelmeerwelt" führte, müssten die Verwandtschaftsbindungen wenigstens der griechisch-römischen Antike (vermutlich aber auch die aller anderen vormittelalterlichen Kulturen) eine ganz andere Struktur aufweisen.

Wenn wir aber einmal die frühe römische Kaiserzeit ansehen, scheint mir das nicht der Fall zu sein. Tiberius als zweiter Princeps war beispielsweise ein Sohn der Livia, also nicht leiblich mit Augustus verwandt, sondern mit dessen Frau. Gaius-Caligula war "nur" mütterlicherseits Urenkel des Augustus, väterlicherseits hingegegen ein Urenkel der Livia. Claudius war über eine Frau mit dem ersten Princeps verwandt, nämlich über dessen Schwester Octavia, die seine Großmutter war. Als Sohn des Drusus war Livia seine andere Großmutter. Es war in Rom also offenkundig kein Problem, die Familie der Ehefrau eng in die Machtpolitik des eigenen "Hauses" einzubeziehen.

Wie El Quijote schon sagte, wäre alles andere auch sehr seltsam gewesen. Wenn man schon aus "politischen" Gründen heiratete, wollte man die damit verbundenen Vorteile doch gewiss auch nutzen.
 
OT: Wie ist das jetzt eigentlich, wenn ein Studierender an der Uni Frankfurt bei Professor Jussen als Prof. für MA-Geschichte einen Schein in Mittelalterlicher Geschichte machen will und Jussen sagt, das MA als Epochenbezeichnung sei abzuschaffen?

Nun, für die Einteilung der Historiker und Studienfächet werden ja eher die zur Verfügung stehende Art der Quellen und die Voraussetzungen zu ihrer Interpretation, also Erfordernisse der praktischen Arbeit als wichtig erachtet, weshalb die Einteilung der Geschichte selbst natürlich davon abweichen kann.
 
Wenn wir aber einmal die frühe römische Kaiserzeit ansehen, scheint mir das nicht der Fall zu sein. Tiberius als zweiter Princeps war beispielsweise ein Sohn der Livia, also nicht leiblich mit Augustus verwandt, sondern mit dessen Frau. Gaius-Caligula war "nur" mütterlicherseits Urenkel des Augustus, väterlicherseits hingegegen ein Urenkel der Livia. Claudius war über eine Frau mit dem ersten Princeps verwandt, nämlich über dessen Schwester Octavia, die seine Großmutter war. Als Sohn des Drusus war Livia seine andere Großmutter. Es war in Rom also offenkundig kein Problem, die Familie der Ehefrau eng in die Machtpolitik des eigenen "Hauses" einzubeziehen.
Augustus hat Tiberius adoptiert, und so hat sich das iulische Geschlecht patrilinear fortgesetzt. Jussen sieht in der Adoption einen wichtigen Stabilisator der altrömischen Clanstruktur.
 
Ich finde den Begriff des Clans hier irgendwie befremdlich, aber das mag an mir liegen. Für mich sind Clans in erster Linie iro-schottische Familienstrukturen (wobei Verwandtschaft eine zwar wichtige, aber nicht bedingende Rolle spielt).
 
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