Hallo, Cato!
Danke für Deine Antwort, auf die ich nach einigen Tagen der berufsbedingten Überlastung erst jetzt reagieren kann.
Nur sind „Sinn und Zweck“ bereits Schlüsse, die aus anderen, unbewiesenen Vermutungen hervorgegangen sind. Nämlich, dass der Wall Teil eines germanischen Hinterhaltes im Verlauf der Varusschlacht war.
Wir werden damit leben müssen, dass es bis in alle Ewigkeit nur unbewiesene Vermutungen geben wird. Sollten sich Hinweise auf die Anwesenheit z.B. der 19. Legion finden, wäre das immer noch kein Beweis, da ja vexillierte Kohorten jener Legion im Winterlager überlebt haben und mit Germanicus zur Bestattung hätten ziehen können. Sollte eine Münze aus dem Jahr 12 n.Chr. gefunden werden, wäre auch das kein Beweis, da ja ein Legionär der Germanicus-Truppen die Münze verloren haben könnte. Wir reden hier nicht über Beweise sondern über Wahrscheinlichkeiten. Und nach 2000 Jahren ist die Frage nach Sinn und Zweck eben eine von vielen, die helfen können, das damalige Geschehen zu interpretieren. Deshalb habe ich auf Deine direkte Frage auch geantwortet, dass ich es nicht für erwiesen sondern nur für wahrscheinlich halte, dass Kalkriese der Varusschlacht zuzurechnen ist.
Die Bauart –als Grassodenwall – ist römisch.
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Nehmen wir einmal die Pontes-Longi -Theorie...
Genau diese Theorie zweifle ich an, da sie den historischen Quellen und den Kalkriese-Funden widerspricht.
Zu Frage 3) Während dieser Arbeiten kam es laut Tacitus zu keinen germanischen Angriffen. Stattdessen leiteten die Germanen die Bäche um, um das Schanzwerk zu unterspülen.
Das ist nicht richtig. Laut Tacitus ist während der Bauarbeiten hart gekämpft worden:
"Die Barbaren versuchten, die Postenkette zu durchbrechen und sich auf die Arbeitskommandos zu stürzen (...) Durcheinander ertönte das Geschrei der Arbeitskommandos und der kämpfenden Truppe. Und überall stellten sich die gleichen Schwierigkeiten den Römern in den Weg: das grundlose Sumpfgelände, auf dem man nicht fest auftreten konnte (…) Erst die Nacht enthob die schon weichenden Legionen dem unter ungünstigen Bedingungen geführten Kampfe."
Nach der Beschreibung von Tacitus stand Caecina vor dem Problem, dass der Knüppeldamm zusammengebrochen war und er ihn reparieren, sich aber gleichzeitig der germanischen Angriffe erwehren musste. Tacitus schreibt weiter, dass Caecina daraufhin entschieden habe, zunächst ein befestigtes Lager abzustecken. Da ist von einem Lager die Rede, nicht nur von einem Wall. Das war aber genau jene Befestigungsanlage, die die Germanen laut Tacitus durch Umleitung von Bächen unterspülen wollten.
Ausgehend von den römischen Gepflogenheiten kann man annehmen, dass es sich um ein übliches rechteckiges Marschlager mit Spitzgräben, Wall und Schanzpfählen gehandelt hat. Einen 400 Meter langen und bis zu fünf Meter breiten Wall anzulegen, wäre unverhältnismäßig viel Arbeit gewesen und hätte zudem nichts gebracht, da der Wall nur zu einer Seite geschützt hätte und zu den drei anderen Seiten offen gewesen wäre. Hinzu kommt noch, dass die Spitzgräben an den Enden des Walls nach Norden gerichtet waren, was darauf hindeutet, dass Norden die "Feindseite" war.
Bezogen auf Kalkriese bedeutet dies außerdem: Wäre der umstrittene Wall die von Caecina angelegte Befestigung, dann müssten die Kämpfe südlich davon, am Hang des Kalkrieser Bergs ausgetragen worden sein, denn dort müsste dann der Feind gestanden haben und dort hätten Legionseinheiten zur Sicherung der schanzenden Pioniere stationiert werden müssen. In dem Bereich war das Gelände aber nicht sumpfig. Und dort gibt es auch keine Funde, die auf einen Kampf hindeuten. Alle Kampfspuren finden sich nördlich des Walls.
Die Deutung, dass der Wall später abseits des Lagers angelegt wurde, um den weiteren Marschweg zu sichern, lässt sich ebenfalls nicht mit der Quelle (Tacitus) und den Funden in Einklang bringen. Die einzige Formulierung bei Tacitus, die für diese Deutung spricht, lautet:
"Und so fand er bei der Erwägung, welche weiteren Maßnahmen zu treffen seien, keinen anderen Ausweg, als den Feind aus dem Walde so lange nicht herauszulassen, bis die Verwundeten und der ganze schwere Tross einen Vorsprung gewonnen hätten. Denn in der Mitte zwischen den Bergen und den Sümpfen zog sich eine Ebene hin, die eine Aufstellung in schmaler Front ermöglichte…"
Nur das hätte es plausibel erscheinen lassen, so einen Wall anzulegen, wie er bei Kalkriese gefunden wurde. Auch dann würde ich mich aber wieder fragen, warum statt der üblichen Graben-Wall-Schanzpfahl-Konstruktion ein vier bis fünf Meter breiter Grassodenwall (viel mehr Arbeit!) gebaut worden sein soll.
Die V. und die XXI. Legion passierten mühelos die 100 m breite Senke und gabelten sich, laut Tacitus, in der Ebene westlich davon auf (wie es auch dem Fundniederschlag in Kalkriese entspricht).
In dem kritischen Moment, als der Tross im Schutz des Walles ebenfalls hindurch ziehen wollte, erfolgte der Angriff der Germanen konzentriert an einer ausgewählten Stelle.
Setzt man voraus, dass es sich beim Kalkriese-Wall um die von Tacitus geschilderte Befestigung bei den langen Brücken handelt, dann hätten die Römer diesen Wall auch verteidigen müssen - und zwar zu seiner Südseite hin. Auch das bedeutet, dass Kampfspuren südlich des Walls auftreten müssten. Sie finden sich aber, wie mehrfach erwähnt, nur nördlich davon in großer Häufung. Außerdem wäre der Wall ja dann gezielt angelegt worden, um den Tross zu schützen und ihm "einen Vorsprung" zu geben. Zu dem Zeitpunkt, da der Wall durchbrochen oder überrannt wurde, hätte dahinter also gar kein Tross mehr sein dürfen.
Noch ein Einwand: Laut Tacitus sind die Truppen am folgenden Morgen abmarschiert (wobei zwei "Legionen", es sind wahrscheinlich nur Vexillarier gewesen) befehlswidrig vorzeitig die Flankendeckung aufgegeben haben), ohne dass die Germanen unmittelbar angegriffen hätten:
"Aber Arminius brach nicht sofort hervor, obgleich seinem Angriff nichts im Weg gestanden hätte."
Tacitus schreibt weiter, dass der Angriff erst erfolgte, als der Tross im Schlamm stecken blieb und sich unter den Legionseinheiten Chaos breit machte, und dass Arminius dann
die Marschkolonne durchbrochen hat. Folglich müsste dieser Kampf später stattgefunden haben, jedenfalls nicht mehr im Bereich des schützenden Walls.
Die Deutung, dass der Wall germanisch war und zur Sicherung von Angriffen auf die Varuslegionen angelegt wurde, lässt sich hingegen widerspruchsfrei mit dem Fundbild bei Kalkriese erklären. Natürlich ist es auf den ersten Blick schwer verständlich, warum die Römer trotz der Gefährlichkeit dieses Walls an ihm vorbei „defiliert“ sein sollten. Aber einige Erklärungsvorschläge habe ich dazu schon gemacht. Und in der Tacitusbeschreibung der Kämpfe bei den langen Brücken habe ich eine weitere gefunden:
"…überall bei den Soldaten Verwirrung um sich griff, die einzelnen Abteilungen nicht mehr geschlossen blieben und, wie es in einer solchen Lage zu gehen pflegt, jeder nur darauf bedacht war, rasch davonzukommen, und sich taub gegen Befehle stellte…"
Sprich: Diese Legionäre waren zwar eisenharte Berufssoldaten, aber sterben wollten sie auch nicht. In Todesangst haben auch diese Leute irrational reagiert.
MfG